Warum der Kapitalismus in der Pandemie versagt und wie eine sozialistische Wirtschaft mit der Coronakrise umgehen würde, erklärt der Volkswirt Thomas Walter
marx21: Die Corona-Pandemie hat die tiefste kapitalistische Wirtschaftskrise seit 1929 ausgelöst. Hätte die Pandemie andere Wirtschaftssysteme genauso hart getroffen?
Thomas Walter: Das hätte sie mit Sicherheit nicht. Dass die Pandemie zu einem derartigen wirtschaftlichen Einbruch führt, ist ein spezifisch kapitalistisches Problem.
Aber wenn die Wirtschaft notgedrungen stillsteht, ist der Einbruch doch unabwendbar. Was wäre in einem nichtkapitalistischen System anders?
Zu einem wirtschaftlichen Stillstand kam es ja überhaupt nicht. In kaum einem Land wurde die nicht notwendige Produktion gestoppt. Selbst in Brennpunkten der Corona-Pandemie galt immer, dass trotz Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren weitergearbeitet werden soll, solange es irgendwie möglich ist. Insbesondere das produzierende Gewerbe war vom sogenannten Lockdown weitgehend ausgenommen. Der vorübergehende Produktionsstopp in der Autoindustrie etwa hatte nichts mit Gesundheitsschutz zu tun, sondern war Folge zusammenbrechender Lieferketten in der Just-in-time-Produktion sowie des absehbaren Nachfrageeinbruchs in einer ohnehin von massiver Überproduktion geplagten Branche.
Trotzdem traf Corona die kapitalistische Wirtschaft mit voller Wucht.
Der Kapitalismus ist ein höchst störungsanfälliges System. Es ist wie bei einem Fahrrad: Wenn es nicht fährt, fällt es um. Ähnlich im Kapitalismus: Geld wird nur investiert, wenn dadurch Geld mit Profit zurückkommt. Kapitalismus ist auf Wachstum angewiesen, sonst rentieren sich die Investitionen nicht. Das Geld bleibt dann in der Kasse. Wird der Kreislauf G-W-G’, also Geld-Ware-mehr Geld gestört, bricht die kapitalistische Wirtschaft zusammen. Die Erschütterung des Systems kann dann wesentlich stärker sein als es der eigentliche Auslöser vermuten ließe.
Eine Art Kettenreaktion?
Genau. Allein die Angst vor einer Krise kann eine solche auslösen.
Warum ist das so?
Investitionen tragen im Kapitalismus ein Risiko, da die Profite erst beim Verkauf realisiert werden. Gerät das System einmal ins Stocken, wächst die Unsicherheit, ob zukünftige Profite noch realisiert werden können, und es beginnt ein Teufelskreis. Kapitalismus bedeutet Chaos auf den Märkten und gleichzeitig wechselseitige Abhängigkeit der Marktteilnehmer. Das macht das System so krisenanfällig.
Also hat der Corona-Schock die Weltwirtschaft in einen solchen Teufelskreis gestürzt?
Ja, aber das ist nur ein Teil der Antwort. Tatsächlich liegen die Ursachen der nun einsetzenden Wirtschaftskrise wesentlich tiefer. Die Pandemie ist höchstens der Auslöser.
Wie meinst du das?
Die Corona-Pandemie trifft auf einen Kapitalismus, der immer noch nicht die letzte Finanzkrise überwunden hat. Seit deren Tiefpunkt im Jahr 2009 wachsen sowohl die Weltproduktion als auch der Welthandel noch schwächer als zuvor.
Aber die infolge von Corona einbrechenden Aktienmärkte verzeichneten doch bis zuletzt immer neue Höchststände.
Aber nicht, weil die Konzerne florierten, sondern weil Aktien und Immobilien mangels rentabler Alternativen immer höher bewertet wurden. Viele Firmen gehen nur deshalb nicht pleite, weil sie sich mit billigen Krediten, letztlich von den Zentralbanken, über Wasser halten. Diese Kredite wurden aber nicht zum Investieren verwendet, sondern oft nur dazu, die eigenen Aktien zurückzukaufen. Das trieb deren Kurse nach oben und beförderte den Konsum jener reichen Leute, die diese Aktien an die Unternehmen zurückverkauften. Aber die Investitionen blieben aus und damit auch das Wachstum. Der Kapitalismus war schon vor Corona krank. Das Virus hat die Krankheit lediglich offengelegt.
Wie bewertest du die Krisenreaktionen der kapitalistischen Staaten?
Es wird mehr als deutlich, dass die Anforderungen der kapitalistischen Wirtschaft im Widerspruch zum Gesundheitsschutz und der Pandemiebekämpfung stehen.
Inwiefern?
Das fängt bei den durch die Ökonomisierung kaputt gesparten Gesundheitssystemen an und endet bei der Unfähigkeit, die Produktion und Verteilung von Schutzausrüstung und Massentests zumindest für medizinisches Personal zu bewerkstelligen. Gleichzeitig drängt das Kapital auf ein schnelles Hochfahren der Produktion. Die Medien erschrecken mit Meldungen, wie stark Luftfahrt, Autoindustrie, Gastgewerbe oder Maschinenbau eingebrochen sind. Die Autoindustrie fordert vom Staat »Kaufprämien« für die Autokäufer, damit sie wieder Profit machen kann. Makabre Diskussionen werden geführt, ob das Leben nun wirklich das höchste Gut sei.
Die Frage der richtigen »Exit-Strategie« ist doch aber auch im bürgerlichen Lager umstritten.
Es gibt auch auf der Kapitalseite Stimmen, die vor verfrühten »Lockerungen« warnen, weil sie einen erneuten »Lockdown« befürchten, der die kapitalistische Krise noch verschärfen würde. Aber solch eine vorausschauende Perspektive hat nur eine kleine Minderheit. Es überwiegt das kurzfristige betriebswirtschaftliche Interesse nach einer möglichst schnellen Rückkehr zur kapitalistischen »Normalität« und dem gibt die Politik weitgehend nach.
Weil sie den Kapitalinteressen dient?
Es geht darum, »stärker« aus der Krise herauszukommen als die Konkurrenz. Der Staat steht selbst in internationaler Konkurrenz gegen andere Staaten. Im Krisenfall ist es seine Aufgabe, das nationale Kapital auf dem Weltmarkt zu schützen und die Profite über die Krise hinweg zu retten. So geht es beispielsweise dem Staat erstmal darum, wie er die heimischen Kapitalisten gegen ausländische Konkurrenten schützen kann.
Und dafür ist er auch bereit, Menschenleben zu opfern?
Die Aufgabe des kapitalistischen Staates ist nicht, Leben zu retten, sondern den Kapitalkreislauf wieder in Gang zu bringen. Es geht nicht um die Menschen, nicht um »unser aller Interesse«, nicht um Arbeitsplätze, sondern darum, dass G-W-G’ wieder in Gang kommt.
Und wie versucht der Staat das?
Er gibt Geld aus, das er sich von den Kapitalisten leiht, die es in der Krise nicht mehr selbst investieren wollen, weil keine Profite mehr zu machen sind. Statt zu investieren, leihen sie das Geld jetzt dem Staat. In der Krise gelten starke kapitalistische Staaten wie Deutschland als »sichere Häfen«. Später wollen die Kapitalisten das Geld aber wieder zurück, wenn möglich mit Zinsen, obgleich sie krisenbedingt etwas bescheidener geworden sind: G-G’. Der Staat finanziert so die Überbrückungshilfen. Die Staatsverschuldung steigt. Außerdem werfen die Notenbanken die Druckerpressen zum Gelddrucken an. Und es beginnen die Debatten im bürgerlichen Lager, wie das Geld später zu Lasten der Arbeiterklasse wieder eingetrieben werden kann. So denken sie schon jetzt etwa über zukünftige Kürzungen bei den Renten oder anderen Sozialausgaben nach.
Bürgerliche Ideologen machen angesichts der Krise einen Gegensatz auf zwischen »freiem Markt« und autoritärem, gängelndem, bürokratischem Staat. Was ist da dran?
Das ist heuchlerisch. Die Coronakrise, wie schon die Finanzkrise, legt offen, dass der Staat die Kapitalisten retten muss. Der Staat dient als Sparbüchse für Kapital, das Anlagemöglichkeiten sucht und in der Krise keine findet. Der Staat hilft dem Kapital mit Krediten. Er dient dem Kapital als Krisenfeuerwehr oder Krisenversicherung.
Wie würde ein sozialistisches System auf eine Pandemie reagieren?
Eine demokratisch geplante Wirtschaft kann wachsen, im Gegensatz zum Kapitalismus muss sie es aber nicht. Über die Produktion wird demokratisch entschieden. Im Falle einer Pandemie wird die Produktion heruntergefahren bis die Gefahr gebannt ist. Anschließend muss vielleicht das eine oder andere erst wieder repariert werden. Dann kann das Leben aber weiter gehen.
Also würde auch in einer Planwirtschaft die Produktion zurückgefahren werden, aber ohne die verheerende Kettenreaktion?
Ja, sofern es denn überhaupt zu einer solchen Epidemie kommen würde. Von manchen Gütern würde weniger produziert, um die Menschen zu schützen. Bei der Autoproduktion könnte zum Beispiel eine Pause eingelegt werden. Dies alles ginge nicht gleich mit einer existenziellen Gefährdung der gesamten Wirtschaft einher.
Warum sollte die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Pandemie kommt, in einer Planwirtschaft geringer sein?
Weil in einer geplanten und demokratisch kontrollierten Wirtschaftsordnung Vorkehrungen gegen Pandemien und andere Katastrophen getroffen werden würden. Es ist ja nicht so, dass es nicht seit Jahren Warnungen vor genau diesem Szenario gibt.
Warum werden die Warnungen im Kapitalismus ignoriert?
Im Kapitalismus überlebt, wer konkurrenzfähig ist. Selbst bürgerliche Ökonomen sehen hier ein Problem, da dies zu kurzfristigem Denken und Handeln zwingt. Wer kurzfristig Kosten spart und Profite maximiert, überlebt gegen Konkurrenten. Tritt die Krise ein, sind etwaige »vernünftige«, langfristig denkende Konkurrenten längst weg konkurriert. Da hilft es auch nichts, wenn selbst bürgerliche Kommentatoren seit Jahren vor einer Pandemie warnen. Gegen die Logik der Konkurrenz sind sie machtlos.
Aber eine gewisse Vorsorge oder Planung gibt es doch auch im Kapitalismus.
Dabei geht es aber nicht um die Menschen, sondern um längerfristige Konkurrenzfähigkeit. Konzerne oder Staaten, die ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ausbauen können, haben einen gewissen Spielraum für strategische Planung. Sie bereiten sich auf die nächste Krise vor und treffen Vorkehrungen zur Verteidigung der eigenen Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Das deutsche Kapital gehört beispielsweise zu den Starken auf dem Weltmarkt. In Krisenzeiten verfügt Deutschland über Reserven und kommt billig an Kredite. So konnte 2009 anlässlich der Finanzkrise Angela Merkel in Aussicht stellen, dass »unser Land« stärker aus der Krise hervorgehen wird, als es in sie hinein gegangen ist.
Ist es das nicht auch?
»Unser Land«? Wenn überhaupt, dann das deutsche Kapital. Letztlich ist aber auch das deutsche Kapital geschwächt aus der Krise hervorgegangen, wenn auch im Vergleich zu manchen Konkurrenten gestärkt. Im Kapitalismus ist es aber auch ein ideologisches Problem, wer Vorsorgemaßnahmen organisieren soll.
Warum?
Ideologisch sind für alles die »freien« Märkte zuständig. Selbst ein voll im kapitalistischen Interesse handelnder Vorsorgestaat gefährdet die politischen Interessen der Kapitalisten, einfach weil er da ist. Ideologisch passen deshalb zu den »Sachzwängen« des Marktes angebliche »Naturkatastrophen«, wie jetzt Corona, die erst im Nachhinein repariert werden können. Deshalb muss im Kapitalismus immer erst das Kind in den Brunnen fallen, bevor der kapitalistische Staat handeln darf.
Ein guter und vorsorgender Gesundheitsschutz ist doch aber vor allem auch eine Kostenfrage.
Ja, auf jeden Fall. Gesundheit, Umwelt und der Lebensstandard der Arbeiterinnen und Arbeiter generell sind im Kapitalismus Kosten, welche die Profite mindern. Um diese Werte muss die Arbeiterklasse ständig gegen die Profitinteressen kämpfen. Deshalb sind auch die Arbeitsplätze in den sozialen Bereichen meist prekär und gering bezahlt. Deshalb gibt es den Kostendruck in den Krankenhäusern.
Wie sähe das in einer sozialistischen Wirtschaftsordnung aus?
In einer demokratisch geplanten Wirtschaft entscheiden die Menschen über Schutz der Gesundheit und der Umwelt, zum Nutzen aller, nicht nur der Reichen. Es wird demokratisch entschieden, welche Mittel dafür bereitgestellt werden und ob für die Zukunft mehr dafür getan werden sollte. Nicht die »Sachzwänge« der Konkurrenz, also der »Wettbewerbsfähigkeit«, schreiben vor, was zu tun ist. Demokratische Planung muss nicht abwarten, bis die Krise da ist, um sich dann rechtfertigen zu können, dass sie etwas tut. Es geht nicht um Reparatur des Kapitalkreislaufes im Nachhinein, sondern darum, im Voraus die Menschen zu schützen.
Hast du ein konkretes Beispiel dafür?
Momentan läuft ein Wettlauf um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen SARS-CoV-2. Die Entwicklung von Impfstoffen wird im Kapitalismus aber nicht als zentrale Aufgabe angegangen, sondern privaten Pharmakonzernen überlassen. Viele Kosten fallen so doppelt und dreifach an, weil jeder Konzern geheim und in Konkurrenz zu anderen vor sich hin forscht. Hinzu kommt ein generelles Problem: Den Pharmakonzernen passen Impfstoffe eigentlich überhaupt nicht ins Konzept.
Warum das?
Die Menschen wären dann womöglich gesund. Das Ziel der Pharmaindustrie ist es, im Nachhinein Kranken teure Medikamente zu verkaufen, anstatt die Bevölkerung im Voraus vor Krankheiten zu schützen.
Wie wird die Produktion in einer demokratischen Planwirtschaft organisiert?
Die Abstimmung der Produktion erfolgt nicht über den »Ausgleich der Profitraten« (Marx) zwischen den Branchen, der nur krisenhaft und zeitlich verzögert mit mal zuviel, mal zuwenig an Produktion möglich ist. Die Produktion ist vielmehr organisiert durch selbstverwaltete Betriebe. Demokratisch gewählte Räte stimmen zwischen den Betrieben die Produktion ab. Ziel des Wirtschaftens ist die Befriedigung der Bedürfnisse statt Zwang zum Wachstum.
Aber hat die Erfahrung mit Planwirtschaften wie in der Sowjetunion oder der DDR nicht gezeigt, dass der Plan selten erfüllt wird und das System insgesamt dem Kapitalismus unterlegen ist?
Die Sowjetunion und die DDR waren vielleicht Planwirtschaften, aber keine demokratischen. Dort wurde zwar geplant, aber für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt und für das Wettrüsten. Die Bedürfnisse der Menschen waren »Kosten«, genau wie im Kapitalismus. Gleichzeitig wurden tatsächliche Kosten, etwa der Raubbau an der Natur, ebenso wie im Kapitalismus externalisiert, also auf die Allgemeinheit abgewälzt. Nicht die Werktätigen bestimmten über die Produktion, sondern die Partei- und Staatsbürokratie. Das war kein Sozialismus. In einer demokratischen Planwirtschaft geht es nicht um Weltmarktkonkurrenz oder »Systemkonkurrenz«. Eine sozialistische Wirtschaft plant langfristig für Bedürfnisse.
Muss sie sich nicht um die eigene Konkurrenzfähigkeit kümmern?
Das ist das Problem der Doktrin vom »Sozialismus in einem Land«, wie sie Stalin ab Mitte der 1920er Jahre in der Sowjetunion einführte. Ihr Scheitern hat einmal mehr bewiesen, dass der Erfolg des Sozialismus letztlich von der Weltrevolution abhängt. Internationalismus ist für Sozialistinnen und Sozialisten nicht bloß schönes Beiwerk, sondern zwingend notwendig.
Also Warten auf die Weltrevolution?
Auf keinen Fall warten! Eine Revolution kommt ja nicht aus dem Nichts, sondern entsteht aus den Kämpfen im Hier und Jetzt. Der springende Punkt ist, dass wir sozialen oder ökologischen Fortschritt nur gegen die kapitalistischen Prinzipien erkämpfen können.
Das Interview führte Martin Haller.
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Schlagwörter: Corona, Coronakrise, Planwirtschaft