Woher kommt das neuartige Coronavirus? Wer verstehen will, warum sich immer mehr tödliche Viren verbreiten, muss die globale Nahrungsmittelproduktion ins Visier nehmen. Von Lee Humber
Die ersten Fälle einer »viralen Lungenentzündung unbekannter Ursache« wurden der Weltgesundheitsorganisation WHO am 31. Dezember 2019 aus der chinesischen Stadt Wuhan gemeldet. Das Bundesministerium für Gesundheit schreibt: »Man nimmt an, dass das neuartige Coronavirus von Fledermäusen stammt. Ob andere Tierarten als Zwischenwirte des Virus zwischen Fledermaus und Mensch dienen, ist noch nicht bekannt. Derzeit wird davon ausgegangen, dass sich die ersten Erkrankten Anfang Dezember 2019 auf einem Markt in Wuhan in der Provinz Hubei, China, angesteckt haben. Das neuartige Coronavirus erhielt den offiziellen Namen »SARS-CoV-2«, und die Atemwegserkrankung, die es auslöst, wird als »COVID-19« bezeichnet.«
Das ist die gängige Erklärung in den meisten Medien. Doch diese greift zu kurz. Der Evolutionsbiologe Rob Wallace zeigt, dass es zwar einige Hinweise darauf gibt, dass der erste Ausbruch auf dem Markt für Wildtiere stattgefunden hat – aber eben nur einige. Nach seiner Auswertung der Studien wurden nur 33 von 585 Proben auf dem Markt in Wuhan positiv auf das Coronavirus getestet. 31 Proben wurden am Ende des Marktes, auf dem der Handel mit Wildtieren konzentriert war, gefunden. Doch nur 41 Prozent dieser positiven Proben wurden auf Marktstraßen festgestellt, wo Wildtiere gehalten wurden. Ein Viertel der ursprünglich Infizierten besuchte nie den Markt in Wuhan. Der früheste Fall wurde identifiziert, bevor der Markt von dem Virus betroffen war.
Kapitalismus und Viren
Der Ausbruchsort für diesen spezifischen Virusstamm mag gefunden werden. Aber das erklärt weder die globale und eskalierende Vielfalt der Viruskrankheiten, noch warum sie ansteckender sind oder sich schneller und weiter als je zuvor ausbreiten. Dazu müssen wir verstehen, wie der Kapitalismus den Kontext für das Gedeihen tödlicher Viren geschaffen hat, und uns speziell mit der Nahrungsmittelproduktion beschäftigten.
Beispiel China
China ist ein guter Ort, um damit zu beginnen. In den vergangenen 50 Jahren und insbesondere im 21. Jahrhundert ist die industrielle Nahrungsmittelproduktion dort in einem nie zuvor erlebten Ausmaß gewachsen. Als beispielsweise im Jahr 1997 H5N1 – ein neuer Grippestamm – auftauchte, gab es in Guangdong in Südchina 700 Millionen Hühner. Diese wurden in einem vertikal integrierten, industriellen Umfeld gezüchtet, aufgezogen, geschlachtet und verarbeitet, das Futtermittelanlagen und Verarbeitungsbetriebe umfasst.
In den 1990er Jahren, als die globale Geflügelproduktion die Rindfleischproduktion überstieg, verdoppelte China seinen Anteil am weltweiten Gesamtkonsum von weniger als 8 auf mehr als 17 Prozent. Es wurde damit zur zweitgrößten Konsumnation der Welt. Nach Angaben der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO stieg die Produktion von Geflügel allein in Festlandchina von 1989 bis 1997 um 200 Prozent. Dies war begleitet von einer starken Binnenmigration und einem anhaltenden Bevölkerungswachstum im Perlflussdelta.
Diese Region, die an Hongkong grenzt, hat sich zu einem der wichtigsten Export-Import-Zentren der Welt entwickelt, mit ausgedehnten Transportwegen vom Perlflussdelta ins Landesinnere und nach Übersee. Das Ausmaß der Intensivierung der Geflügelwirtschaft in Verbindung mit der zunehmenden Trockenlegung der Feuchtgebiete von Guangdong, um Wohnraum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen, hat eine Reihe von Virusinfektionen hervorgerufen, die das ganze Jahr über in einer, wie Wallace es beschreibt, »Virulenz-Ratsche« (Konzept in der Evolutionsbiologie) zirkulieren.
Industrielle Nahrungsmittelproduktion
Die intensive industrielle Nahrungsmittelproduktion bietet den Viren reichlich Raum zu mutieren und sich über die Geflügelwirte zu verbreiten, während die Nähe und Größe der lokalen Bevölkerung ein Portal für die Übertragung der Viren auf Menschen darstellt. Diese industrielle Massenproduktion steht neben traditionelleren Nassmärkten und dem Verzehr exotischer Lebensmittel. Die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion durch Abholzung hat die Suche nach Nahrungsmitteln aus der Wildnis tiefer in die letzte der primären Landschaften gedrängt, »wodurch eine größere Vielfalt unbekannter und potenziell proto-pandemischer Krankheitserreger ausgegraben wurde«, so Wallace. Das industrielle Modell der Landwirtschaft und Viehzucht ist der Grund dafür, dass wir jetzt jedes Jahr vor der Bedrohung durch ein neues, potenziell tödliches und sich weltweit verbreitenden Virus stehen.
Schon Marx…
Karl Marx erkannte die vielfältigen Gefahren, die eine industrialisierte Landwirtschaft für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit darstellt, wie die jüngste Durchsicht vieler seiner wenig bekannten Notizbücher zeigt. Tatsächlich entwickelte Marx Mitte des 19. Jahrhunderts eine detaillierte und differenzierte Kritik am industriellen Ernährungssystem in Großbritannien. Historiker bezeichnen diese Zeit als »Zweite landwirtschaftliche Revolution«.
Marx studierte nicht nur die Produktion, die Verteilung und den Konsum von Lebensmitteln. Er war auch der Erste, der dies als ein Problem der Veränderung von Lebensmittel-»Regimen« begriff – eine Idee, die seither im Mittelpunkt der Diskussion über das kapitalistische Ernährungssystem steht. Marx begründete seine materialistische Geschichtsauffassung mit der Vorstellung, dass »die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz« die Herstellung der Mittel für den Lebensunterhalt ist, angefangen bei Nahrung, Wasser, Unterkunft und Kleidung, bis hin zu allen anderen Bedarfsmitteln. »Alle Arbeit«, schrieb er in »Kapital« Band 3, »ist zunächst und ursprünglich auf Aneignung und Produktion der Nahrung gerichtet.« Die Sicherung nahrhafter, gesunder Lebensmittel ist von größter Bedeutung.
Agrarkapitalismus im 19. Jahrhundert
Mitte des 19. Jahrhunderts verurteilte Marx offen den Missbrauch von Tieren durch neue Zuchtmethoden. Schaf- und Rinderrassen wurden so gezüchtet, dass sie im Verhältnis zu den Knochen eine schwerere Last aus Fleisch und Fett trugen. Die Tiere konnten so oft kaum noch ihr eigenes Gewicht tragen.
Der für die Fleischproduktion gezüchtete Viehbestand vermehrte sich immer schneller. Schafe und Rinder wurden nach zwei statt fünf Jahren geschlachtet. Kälber wurden früher entwöhnt, um die Milchproduktion und -ausbeute zu steigern. Ochsen wurden zunehmend in engen Ställen gefüttert und gehalten. Die Rinder erhielten eine Futtermischung mit Zutaten zur Wachstumsbeschleunigung, einschließlich importierter Ölkuchen zur Anreicherung des Dungs. Jeder Ochse wurde mit etwa zehn Pfund Ölkuchen pro Tag gefüttert und mit Erreichen der Schlachtreife getötet.
Marx schrieb: »In diesen Gefängnissen werden die Tiere geboren und bleiben dort, bis sie geschlachtet werden. Die Frage ist, ob dieses System, verbunden mit dem der Züchtung, das die Tiere abnormal entwickelt, und ihre Knochen unterdrückt hat, um sie in bloße Fleisch–und Fettmassen zu verwandeln, während früher aber (vor 1848) die Tiere aktiv blieben, indem sie sich so viel wie möglich unter freier Luft aufhielten, nicht schließlich den Grund zu großem Verderb der Lebenskraft legen wird?«
Und heute…
Das ist eine treffende Beschreibung auch für die heutige industrielle Geflügelproduktion. Im Jahr 1940 entwickelte Henry Wallace jr. die erste industriell gezüchtete Hühnerrasse bei dem Unternehmen Hy-Line International, einem Ableger des landwirtschaftlichen Unternehmens seines Vaters – des ehemaligen US-Landwirtschaftsministers und Vizepräsidenten Henry Wallace sr.. Innerhalb eines Jahrzehnts erzeugten fast alle kommerziellen Geflügelzüchter weltweit Bestände aus diesen Hybriden.
Kapitalkonzentration
Heute befinden sich fast 75 Prozent der weltweiten Geflügelproduktion in den Händen einiger weniger Unternehmen. Im Jahr 2006 gab es vier Hauptzüchter, die die ersten drei Generationen der »Broiler« (Fleischhühner) entwickelten, gegenüber elf im Jahr 1989. Im selben Zeitrum schrumpte die Zahl der Unternehmen, die Legehennenlinien (für Eier) produzieren, von zehn auf nur noch zwei.
Die EW Group (früher Erich-Wesjohann-Gruppe) allein kontrolliert fast 70 Prozent der gesamten Produktion von weißen Eiernn in der Welt. Hendrix Genetics kontrolliert 80 Prozent der Produktion von braunen Eiern und hat eine 50-prozentige Beteiligung an Nutreco, das Puten, Masthähnchen und Schweine züchtet. Die Grimaud-Gruppe ist das zweitgrößte Unternehmen in der Vogelgenetik. Cobb-Vantress, der letzte der vier großen Geflügelproduzenten, ist im Besitz von Tyson Foods, dem weltweit größten Verarbeiter und Vermarkter von Hühnerfleisch. Die Produktion wird von den Unternehmen streng und gnadenlos kontrolliert, um jede ungeplante Vielfalt zu verhindern.
Kritik
Im Jahr 2009 veröffentlichte die in Chicago ansässige Tierrechtsgruppe Mercy for Animals Aufnahmen von männlichen Küken von Legehennen in einer Hy-Line-Brüterei, die geschreddert wurden. Das Schreddern männlicher Küken, die keine Eier legen können, ist Industriestandard und bleibt in Deutchland nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2019 weiterhin erlaubt. Janet Fulton von Hy-Line antwortete mit einer Erklärung: »Wir haben sehr enge finanzielle Verpflichtungen. Zuchtlinien, die nicht das erforderliche wirtschaftliche Niveau erreichen, werden vernichtet.«
Monokulturen
Eine Folge dieser Vernichtung ist, dass die weltweite Geflügelproduktion durch Monokulturen gekennzeichnet ist. Hühner werden durch die Zucht an der Bildung von Resistenzen gegen neue Viren gehindert, weil ein begrenzter Pool von Genen die Vielfalt der Immunreaktionen auf Viren bei deren Mutation einschränkt. Die Folge ist die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Übertragung zwischen Geflügel und Mensch. Die Tiere werden in großen »Fabrikfarmen« unter entsetzlichen Bedingungen aufgezogen. Broiler werden in Ställen von Zehntausenden Vögeln gemästet. Die Hühner werden so gezüchtet, dass sie schnell an Gewichtzunehmen – was einen schnelleren Umsatz und höhere Gewinne bedeutet – mit übergroßer Brust, abgestimmt auf die Vorliebe für weißes Fleisch.
Sie sind inaktiv, weil so viel der Energie, die sie verbrauchen, in Wachstum umgewandelt wird, und verbringen den größten Teil ihres Lebens auf dem Boden sitzend, während sich der Mist um sie herum ansammelt. In der Regel verlieren sie Brustfedern und werden im Laufe ihres Wachstumszyklus aufgrund des ständigen Kontakts mit Kot wund. Die Ställe werden erst nach dem Schlachten der Hühner gereinigt, aber der Mist kann für die nächste Hühnergruppe übrig bleiben, weil nur eine dünne Schicht frischer Einstreu wie Holzspäne auf die alte gelegt wird.
Die Tiere werden meist bei schwachem Kunstlicht und mit einer Lebenserwartung von sechs bis acht Wochen aufgezogen (die Konzerne verbieten oft sogar natürliches Licht). Die Tiere werden mit einem Futter gemästet, das mit wachstumsfördernden Zusatzstoffen wie Antibiotika versetzt ist, wobei viele bei dieser beengten Haltung sterben. Das meiste handelsübliche Geflügelfutter ist außerdem mit Arsen versetzt, damit das Fleisch der Tiere während des Transports und des Verkaufs rosa bleibt.
»Zoo für Viren«
Dies sind ideale Bedingungen, um das zu fördern, was Wallace einen »veritablen Zoo« neuer Viren, insbesondere Grippeviren, nennt. Der Schlüssel für die Entwicklung der Ansteckungsfähigkeit ist die Versorgung mit anfälligen Wirten. Solange es genügend Wirte zum Infizieren gibt, kann sich ein Virus entwickeln. Industrielle Nutztiere sind daher ideale Populationen als Träger ansteckender Krankheitserreger. Genetische Monokulturen von Tieren beseitigen alle natürlichen Immunschranken, die sonst die Übertragung verlangsamen könnten. Eine große Tierpopulation und -dichte fördert hohe Übertragungsraten. Beengte Verhältnisse dämpfen die Immunreaktionen. Ein hoher Umschlag bei einem Tierbestand sorgt für einen ständig erneuerten Vorrat an anfälligen Wirtstieren.
Grippeinfektionen müssen bei jedem Tier ihre Übertragungsschwelle schneller erreichen, bevor das Huhn, die Ente oder das Schwein getötet wird, denn sobald die Nutztiere das richtige Gewicht erreichen, werden sie geschlachtet. Neuentwicklungen in der Produktion wie die Senkung des Alters bis zur Schlachtreife der Hühner von 60 auf 40 Tage, haben den Druck auf die Viren erhöht, ihre Übertragungsschwelle schneller zu erreichen.
Die Keulung nach einer Virusinfektion ist nicht sinnvoll. Die rasche Keulung ganzer Herden oder Bestände als Reaktion auf Viren ermöglicht keine Auswahl der Wirtsresistenz gegen den zirkulierenden Stamm. Deshalb werden Tiere mit einer möglichen Immunreaktion mitgetötet, sodass es zu einem wiederholten Befall kommt.
Neoliberalismus
Die jetzt weltweiten industriellen Praktiken, die der kapitalistischen Produktionsweise eigen sind und die durch 50 Jahre Neoliberalismus verstärkt wurden, sind der Nährboden für immer mehr ansteckende und tödliche Krankheitserreger. Dieses Seuchenmuster ist kein Zufall. Es ist eine Folge der Art und Weise, wie die Lebensmittel, die wir essen, produziert werden.
Was tun?
Was können wir tun? Die Antwort ist bekannt. Wir müssen die Massentierhaltung und die industrielle Landwirtschaft beenden, die die Erde von Wäldern entleert und den Boden seiner natürlichen Nährstoffe beraubt. Not tun geplante, kollektivierte, sichere und humane Massentierhaltungs- und Landwirtschaftspraktiken, die nachhaltig sind und uns mit der notwendigen Nahrung versorgen. Nicht mangelndes Wissen oder mangelnde Notwendigkeit hindert uns daran, dies zu tun, sondern weil die Mittel zur Nahrungsmittelproduktion im Besitz einer winzigen Minderheit von obszön reichen Kapitalisten liegt. Sie und ihre Klasse haben ein persönliches Interesse an der Aufrechterhaltung dieser ungesunden und potenziell tödlichen Systeme der Nahrungsmittelherstellung. Sich von diesem Eigentum zu trennen wäre für sich gleichbedeutend damit, sich selbst aufzugeben. Zum Wohle der Menschheit müssen wir ihnen diese Systeme entreißen.
Bild: Farm Sanctuary / flickr.com / CC BY-NC-ND
Lee Humber ist Aktivist im Gesundheits- und Sozialwesen. Er hat für zahlreiche Zeitschriften, darunter »Critical and Radical Social Work« und »Disability and Society«, gearbeitet. Er ist der Autor von »Vital Signs: Die tödlichen Kosten der Ungleichheit im Gesundheitswesen« (Pluto, 2019).
Der Text wurde leicht überarbeitet und gekürzt. Übersetzung aus dem Englischen von Yaak Pabst und David Paenson. Zuerst erschienen in der britischen Zeitschrift Socialist Review.
Schlagwörter: Agrarkapitalismus, Coronakrise, Coronavirus, Gesundheitspolitik, Globalisierung