Nach 20 Jahren hatte Stalin die Errungenschaften der Oktoberrevolution in ihr Gegenteil verkehrt. Wie konnte aus der siegreichen Revolution eine Diktatur erwachsen? Ein genauer Blick auf die Ereignisse nach der Revolution bringt uns der Antwort näher. Von Jan Maas
Zwanzig Jahre nach dem »Roten Oktober«: In den Fabriken herrschen Direktoren über die entrechtete Arbeiterklasse, auf dem Land arbeitet die Bauernschaft auf Staatsgütern oder in Zwangskollektiven. Die Rätedemokratie ist tot und seit 1936 auch formal abgeschafft. Das Land versinkt in Angst, weil die Geheimpolizei des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) Jagd auf vermeintliche und tatsächliche Oppositionelle macht und während des Großen Terrors tausende Kommunistinnen und Kommunisten vor Gericht stellt und hinrichten lässt.
Dieses Schreckensregime, das für immer mit dem Namen des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Josef Stalin verbunden sein wird, muss auch lange nach dem verdienten Untergang seiner Nachfolger 1989-91 als Totschlagargument gegen die Idee herhalten, den Kapitalismus zu überwinden. Wer dieses Ziel angesichts der unerträglichen Zustände im 21. Jahrhunderts weiter verfolgen will, muss darum die Frage beantworten können, ob der Sturz des Kapitalismus unweigerlich in eine solche Diktatur münden muss.
Stalin und der Bolschewismus
In einer Diskussion unter Genossen im Exil Ende der 30er Jahre antwortete der von Stalin verfolgte russisch-belgische Revolutionär Victor Serge auf die Bemerkung, der Keim allen Stalinismus steckte von Anfang an im Bolschewismus: »Ich habe keinen Einwand. Nur, dass der Bolschewismus auch viele andere Keime enthielt.« Wenn wir Serge folgen, lautet die eigentliche Frage: Wie kam es dazu, dass der Keim des Stalinismus aufging, während die anderen Keime verkümmerten? Die Antwort darauf ist vielschichtig. Sie liegt in der Isolation der Revolution, den Verwerfungen, die der Bürgerkrieg 1918-20 auslöste und darin, wie die Kommunistische Partei darauf reagierte. In dem Maße, in dem erstens der Bürgerkrieg die Arbeiterklasse dezimierte, zweitens die Macht von den demokratischen Organen der Arbeiterklasse auf die Partei überging und sich drittens die Partei selbst veränderte, verschob sich die Macht in Richtung Bürokratie, die sich schließlich verselbstständigte.
Revolution! Eine hoffnungslose Sache?
1918 waren die Bolschewiki trotz siegreicher Revolution überzeugt, dass in Russland allein niemals eine sozialistische Gesellschaft geschaffen werden könne. In einer Rede auf dem VII. Parteitag sagte Lenin: »Wenn man an die Dinge den welthistorischen Maßstab anlegt, so kann auch nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe.«
Doch die Hoffnung, dass sich die Revolution in andere Länder ausbreitet, schien absolut begründet. Der britische Premierminister David Lloyd George fasste die Lage 1919 so zusammen: »Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.« Nur mündeten die Aufstände nirgends in eine weitere erfolgreiche sozialistische Revolution. Das Scheitern der Revolution in Deutschland war ein besonders schwerer Schlag. Stattdessen folgte eine internationale militärische Intervention. Anfang 1918 begannen Generäle des Zaren einen Bürgerkrieg. 14 Staaten unterstützten sie mit Truppen und Waffen. Der »Rat der Volkskommissare« gründete die Rote Armee und die politische Polizei Tscheka und wehrte sich mit großer Härte, wenn auch weniger brutal als seine Gegner. Auf deren Konto gehen auch antisemitische Pogrome mit 150.000 Toten. Die Landbevölkerung rebellierte gegen die Beschlagnahmung von Getreide durch die Rote Armee, aber die Rückkehr zum Zarenregime fürchtete sie mehr.
Die Situation nach dem Bürgerkrieg
Daher gewannen die Bolschewiki nach zwei Jahren den Bürgerkrieg. Der Preis dafür war jedoch hoch: Die Industrieproduktion war 1921 auf 12 bis 16 Prozent des Vorkriegsstands eingebrochen und die 1917 siegreiche Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft zerrüttet. Die Regierung ließ im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (russisch: NEP) in begrenztem Maße kapitalistische Warenproduktion und Handel wieder zu Diese Maßnahme war zwar lediglich als Übergangslösung angelegt, aber sie entfernte Russland zwangsläufig wieder von den Errungenschaften der Oktoberrevolution.
Im Laufe der 1920er-Jahre verbesserte sich die Versorgung mit Konsumgütern und Nahrungsmitteln etwas. Doch der Schwarzmarkt blühte und die Schwerindustrie blieb am Boden. Die NEP förderte in den Städten Kleinunternehmer und private Händler, die Nepleute, und auf dem Land reiche Bauern, die Kulaken. 1925 befanden sich zwei Drittel der Getreideanbauflächen im Besitz von 12 Prozent der Bauern. Von diesen war die Regierung in großem Maße abhängig.
Eine andere Folge des Bürgerkriegs war der Niedergang der Arbeiterdemokratie, des Rückgrats der Oktoberrevolution. Zum einen sorgten die Isolation und der Bürgerkrieg ab 1918 für einen Niedergang der Industrieproduktion. Zum anderen schlossen sich die kämpferischsten Teile der Arbeiterklasse als erste der Roten Armee an, um ihre Revolution zu verteidigen. Die Folge war, dass es kaum noch arbeitende Fabriken gab, geschweige denn Sowjets (russisch: Räte) ihn ihnen.
Die Folgen des Kriegskommunismus
Im Kriegskommunismus übernahm die Parteiorganisation der Bolschewiki die Verwaltung und trat an die Stelle der Sowjets. Aber die Partei selbst veränderte sich. Sie verlor die Hälfte der Mitgliedschaft von vor Oktober 1917 durch den Krieg. Neue Mitglieder waren vor allem Bauern. Es traten Überzeugte in die Partei ein, aber auch Opportunisten. Die ersten Säuberungswellen erfolgten, um Karrieristen loszuwerden. Zwischen 1920 und 1922 stieg die Zahl der Parteiangestellten von 150 auf 15.000. Die Veränderungen in der Partei und die Politik der Führung waren Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Opposition innerhalb und außerhalb der Partei hatte es schon von Beginn an gegeben. Aber auch die Parteispitze selbst diskutierte. Wladimir Lenin gehörte zu den klarsten Analytikern der prekären Verhältnisse und zu den heftigsten Kritikern der Bürokratisierungstendenzen. Doch 1922 erkrankte er mitten in diesen Debatten und fiel bis zu seinem Tod 1924 praktisch komplett aus.
Der Aufstieg von Stalin und die Opposition
Nun führte eine Troika aus dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale Grigori Sinowjew, dem stellvertretenden Regierungschef Lew Kamenew und dem frisch ernannten Generalsekretär Stalin die Partei. Das Amt des Generalsekretärs war 1922 geschaffen worden, um die Bürokratisierung der Partei unter Kontrolle zu bekommen. Amtsinhaber Stalin war zwar ein alter Bolschewik, hatte jedoch nie eine herausragende Rolle gespielt und war den meisten Menschen im Land unbekannt.
1923 begann eine Phase harter Fraktionskämpfe mit der »Erklärung der 46«. Darin forderten führende Kommunisten, das Land zu industrialisieren und die Mittel dazu durch eine höhere Belastung der Nepleute und Kulaken zu gewinnen. Außerdem kritisierten sie, dass die demokratische Kultur in der Partei verfalle und dass bürokratische Maßnahmen die Oberhand gewännen. Nachdem sich nichts änderte, verfasste der damalige Kriegskommissar Leo Trotzki einen offenen Brief in diesem Sinne.
Darauf reagierte die Troika mit der Anklage, die Opposition stelle die Einheit der Partei Lenins und den gesamten »Leninismus« in Frage. Stalin begann zudem, seine Kontrolle über den Parteiapparat zu nutzen, um die politische Position der Troika durchzusetzen: Abstimmungen wurden manipuliert, bekannte Oppositionelle auf unwichtige oder weit entfernt liegende Posten versetzt. Nach Lenins Tod verdoppelte die Troika mit einer »Lenin-Aufgebot« genannten Werbekampagne die Mitgliedschaft der Partei nahezu und sicherte so ihre Position.
Die Probleme der Opposition
Die Parteiführung kämpfte, aber sie war schwach. Die Isolation der Revolution hielt an, die Industrieproduktion lahmte nach wie vor und die arme Bauernschaft weigerte sich, über den Eigenbedarf hinaus anzubauen. Die Kulaken dagegen lieferten zwar bevorzugt an private Händler, aber sie lieferten. Die Abhängigkeit von den Nepleuten bestand fort. Die Parteifunktionäre unter Stalin bemühten sich um Stabilität. Die Opposition, die in dieser Lage Kulaken und Nepleute ins Visier nehmen wollte, störte die Führung. Dabei hatte die Opposition nur die Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution im Sinn: ohne Industrie keine Arbeiterklasse, keine Räte und keine sozialistische Demokratie. Außerdem hätte die arme Bauernschaft nur dann mehr produzieren können, wenn sie im Gegenzug günstige Industrieprodukte und Zugang zu Landmaschinen bekommen hätte. Doch die Arbeiterklasse war müde und klein. 1922 lebten 78 Prozent der Bevölkerung auf dem Land.
Die Bürokratie erhebt sich
Die Parteibürokratie entfernte sich unterdessen von den Errungenschaften der Oktoberrevolution, weil sie begann, ihrer gesellschaftlichen Funktion gemäße Interessen zu verfolgen: Die Stabilisierung der Volkswirtschaft, die sie verwaltete. Dazu passte die Proklamation des »Sozialismus in einem Lande«, der 1925 in völligem Gegensatz zur bisherigen Politik der Bolschewiki ausgerufen wurde. Der Wirtschaftsexperte der Regierung, Nikolai Bucharin, behauptete dazu, die NEP ermögliche den Aufbau des Sozialismus »im Schneckentempo«. Doch die Wirtschaftsprobleme blieben. Ende 1927 gingen Stalin und Bucharin mit einer Säuberungswelle gegen die Opposition vor, die in der gelähmten Arbeiterklasse kaum Rückhalt fand. Dann schwenkte Stalin 1928 auf Industrialisierung und Kollektivierung um – nur ohne Demokratisierung. Er machte Bucharin seine alte, an die Kulaken gerichtete Parole »Bereichert Euch!« zum Vorwurf. Ohne Schwerindustrie konnte die Sowjetunion ihre wirtschaftlichen Probleme nicht lösen, sie war außerdem kaum verteidigungsfähig.
Stalin und der erste Fünfjahresplan
Stalin begriff, dass die Parteiführung zu Unrecht erwartet hatte, dass die gewünschte stabile Volkswirtschaft sich durch die NEP entwickeln würde. Nun handelte die Bürokratie selbst. Im ersten Fünfjahresplan 1928-32 kam ihre Absicht zum Ausdruck, die Schwerindustrie von oben selbst zu schaffen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte einerseits Arbeitskräfte dafür freisetzen und andererseits genügend Lebensmittel produzieren, um mittels Exporte Devisen für die Industrialisierung zu beschaffen.
Die Führung zögerte, schwankte und hoffte, durch bloße Propagierung der Kollektivierung ausreichende Fortschritte zu machen. Aber der Anteil der Bauernschaft, der sich freiwillig den Kollektiven anschloss, blieb so niedrig wie zuvor. Ab 1929 erzwang die Parteiführung die Kollektivierung und den Aufbau der Schwerindustrie mit Gewalt. Da die Maschinen für die kollektive Landwirtschaft noch fehlten und der Export Priorität hatte, führten schwere Dürren 1931-33 zu einer Hungersnot mit Millionen Toten. Die Parteibürokratie schuf auf der einen Seite neue Produktionsmittel und bestimmte auf der anderen Seite über die Arbeitskraft von Arbeiterklasse und Bauernschaft. Von einer Schicht innerhalb dieser Klassen war sie zu einer eigenen Klasse mit eigenen – den Interessen der Arbeiterklasse und Bauernschaft direkt entgegengesetzten – Interessen geworden. So verboten neue Arbeitsgesetze beispielsweise Streiks und beschränkten die Freizügigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter immer drastischer. 1931 erläuterte Stalin das Ziel seiner Wirtschaftspolitik so: »Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen.« Serge schrieb wenige Jahre später, die Auswirkungen des ersten Fünfjahresplans erinnerten ihn stark an die »Seiten des Kapital […], auf denen Marx den unerbittlichen Mechanismus der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation beschreibt.«
Stalin ist der »Totengräber der Revolution«
Unter den Fahnen der Revolution und mit den Namen von Marx und Lenin auf den Lippen beseitigte die Parteibürokratie unter Stalin die Errungenschaften der Oktoberrevolution. Ab 1934 ermordete sie in einer weiteren Säuberungswelle auch viele ihrer Aktiven, um sich ungehindert in die Tradition der Revolution stellen zu können. Zum Schluss ließ Stalin seine Handlanger beseitigen. NKWD-Chef Nikolai Jeschow, verantwortlich für den »Großen Terror« der Jahre 1936-38, wurde 1940 erschossen. Stalin wurde, wie Trotzki es ausdrückte, zum »Totengräber der Revolution«. Aber er konnte nur deshalb dazu werden, weil die Arbeiterklasse am Boden lag und ihr Bündnis mit der Bauernschaft zerbrochen war. Der Aufstieg des Stalinismus war keine notwendige Folge des Versuchs, den Kapitalismus zu stürzen, sondern vor allem das Resultat der Isolation des geschwächten Russlands und des blutigen Widerstands des internationalen Kapitals gegen die Revolution, deren Übergreifen in andere Länder es fürchtete.
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