Warum nur ein solidarischen Shutdown die vierte Welle schnell brechen kann und internationale Kooperation und Koordinierung so wichtig ist, um die Pandemie zu beenden. Von Christian Zeller
Die vierte Welle der Pandemie ist außer Kontrolle. Gleichzeitig trifft ein, wovor Wissenschaftler:innen seit Monaten gewarnt haben: Eine neue Virusmutation ist womöglich gefährlicher als die Deltavariante. Die Pandemie lässt sich nur noch durch solidarisches gesellschaftliches Handeln und internationale Kooperation beenden. Auch nach zwei Jahren Pandemie fällt es vielen Linken schwer, die Pandemie zu begreifen und die erforderlichen Schlüsse zu ziehen.
Pandemie Hotspot Europa
In Europa, besonders in den reichen und angeblich so gut organisierten deutschsprachigen Ländern, nimmt die Pandemie einen energischen weiteren Anlauf in der vierten Welle. Einige Länder befinden sich bereits in der fünften Welle. Die gegenwärtige Welle könnte den bisherigen Höhepunkt im Januar dieses Jahres in Bezug auf Ansteckungen und Belastung der Krankenhäuser deutlich überragen, wenn die Bevölkerungen und Regierungen das nicht entschlossen verhindern. Nun verkompliziert sich die Lage zusätzlich massiv. Seit kurzem breitet sich mit Omikron (B.1.1.529) eine wahrscheinlich noch ansteckendere Variante des Sars-CoV-2-Virus als Delta aus.
Am 29. November warnte der Vorsitzende der World Health Organization die Welt eindringlich vor den Gefahren, die von der neuen Virusvariante Omikron ausgehen.1 Omikron ist bereits in vielen Regionen der Welt und in Europa angekommen. Noch kennen wir die genauen Eigenschaften von Omikron nicht. Die ersten Befunde über deren Eigenschaften sind beunruhigend. Die vierte Welle in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist genauso wenig eine Überraschung, wie das Auftreten neuer, möglicherweise ansteckenderer Virusvarianten. Engagierte Forscher:innen haben genau diese Entwicklung vorausgesagt. Die jüngsten Entwicklungen werfen ganz besonders auch für die sozialen Bewegungen und die politische Linke grundsätzliche Fragen auf.
Wer ist verantwortlich?
Für das gegenwärtige Desaster gibt es drei Verantwortliche. Auch wenn die Akteure unterschiedlich große Verantwortung tragen, hilft ein Blick darauf, die miteinander verwobenen pandemischen und gesellschaftlichen Dynamiken besser zu verstehen. Die Regierungen, ganz im Dienste der Kapitalinteressen, wollten die zweite und die dritte Welle nicht energisch runterdrücken, um die Pandemie zu beenden. Das wäre mit einer konsequenten Niedrig-Inzidenz-Strategie, wie sie beispielsweise von vielen Forscher:innen der Initiative ZeroCovid oder der LINKEN in Deutschland gefordert wird, möglich gewesen.
Regierungen, Kapitalinteressen und Gewerkschaften wollten Pandemie nicht beenden
Das Projekt der Regierungen sah ganz anders aus. Mit ihrer »flatten-the-curve«-Politik wollten sie die Ansteckungen in den Gesellschaften so einpendeln, dass die Beschäftigten in den Krankenhäusern die erkrankten Menschen gerade noch knapp behandeln können, das Gesundheitssystem nicht unter der Last zusammenbricht und dabei kein allzu großer gesellschaftlicher Widerstand provoziert wird. Mit dieser Strategie nahmen die Regierungen in Europa bewusst mehrere hunderttausend Tote in den ersten Pandemiewellen in Kauf.
Seit Impfstoffe verfügbar sind, haben sie diesen technokratischen Ansatz verfeinert, auch mit stillschweigender oder offener Unterstützung sozialdemokratischer, liberaler oder linker Parteien und von Gewerkschaften. Seit Frühjahr 2021 setzen sie auf eine kombinierte Immunisierung der Menschen durch Ansteckung und Impfstoffe. Diese sollte es gerade knapp erlauben ohne allzu viele Tote durch den Winter zu kommen. Hinter dem verwirrenden Zickzack der Alltagspolitik und dem Nebel der Regierungspropaganda verbirgt sich ein klarer strategischer Ansatz, der allerdings nicht funktioniert. Erstens lassen sich weniger Menschen als »geplant« impfen und zweitens lässt die Wirkung der Impfstoffe etwas rascher nach als erhofft. Auch in Reaktion auf die zynische und unehrliche Politik der Regierungen lassen sich viele Menschen von dem reaktionärem Irrsinn der Corona-Verharmloser:innen und der Impfgegner:innen beeinflussen, eine Minderheit schließt sich ihnen an und einige linke Gruppierungen versuchen diesen Strömungen sogar ein demokratisches Kleid überzustreifen.
Die vierte Welle
Nicht überraschend haben es die Regierungen versäumt, die Menschen auf die von den Wissenschaftler:innen nahezu einhellig vorausgesagte vierte Welle vorzubereiten und zu schützen. Viel zu spät beginnen sie eine Kampagne für den dritten Impftermin zu organisieren. Anstatt von Anfang an die ganze Bevölkerung direkt und persönlich zu einem Impftermin einzuladen und klar über die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung des Impfens zu informieren, drücken sie sich vor der Verantwortung die sozialen Bedingungen herzustellen die eine hohe Impfquote ermöglicht. Anstatt die harte Konfrontation mit den reaktionären Kreis durch eine gut organisierte Impfkampagne zu suchen, bleibt es bei Appellen an die »Vernunft« des Einzelnen. Diese Politik ist gescheitert. Die für die gesellschaftliche Immunisierung erforderliche Impfquote von 90 Prozentscheint außer Reichweite zu geraten.
Klassenpolitik in der Pandemie
Die Interessensvertreter:innen des großen Kapitals und des Gewerbes stellten sich während der vorangegangen Wellen wiederholt mit aller Kraft einem zwingend erforderlichen Shutdown weiter Teile der Wirtschaft entgegen. Schließlich muss das Kapital zirkulieren und die Arbeitskräfte einsaugen, um Mehrwert zu produzieren. Das Kapital muss sich bewegen, Stillstand kennt es nicht, zumindest nicht freiwillig. Richtig wäre es gewesen, alle Einrichtungen, wo viele Menschen zusammenkommen, die aber für die Gesellschaft nicht unmittelbar wichtig sind, zu schließen. Für eine Zeit von rund einem Monat hätten die reichen Gesellschaften Europas eine solche Maßnahme problemlos ausgehalten. Selbstverständlich hätte das nur funktioniert, wenn man die Vermögenden und florierenden Unternehmen mit einer Coronasteuer zur Kasse gebeten hätte. Jetzt, Mitten in der vierten Welle, widersetzen sich die Interessensvertrerter:innen des Kapitals in Regierung und Verbänden abermals den Maßnahmen, die dringend nötig sind, um Gesundheit und Leben der Menschen zu schützen. Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis reicht nicht, um eine solidarische Bekämpfung der Pandemie durchzusetzen, auch weil – von einigen Ausnahmen abgesehen – die Gewerkschaften die Verteidigung der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen der Gesundheit der Lohnabhängigen vorziehen.
Die Verantwortung der Gewerkschaften
Gerade deswegen sind auch die Gewerkschaften für das Desaster mitverantwortlich. Die Gewerkschaften kommen ihrer elementarsten Aufgabe nicht nach, sich bedingungslos für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit ihrer Mitglieder und aller Lohnabhängigen einzusetzen. In der Pandemie haben sich etliche Gewerkschaftsführungen eher als Erfüllungsgehilfen der bizarren Regierungspolitik und der Unternehmensinteressen verhalten.2 Zwar gibt es Maßnahmen zum Gesundheitsschutz in den Betrieben, aber diese sind zumeist freiwillig oder so lax formuliert, dass sie einfach unterlaufen werden können. Arbeiterinnen und Arbeiter in Italien zeigten, dass Klassensolidarität auch unter den Bedingungen einer Pandemie möglich ist. Dort organisierten Gewerkschafter:innen während der ersten Pandemiewelle einen Generalstreik gegen die unsozialen und undemokratischen Regelungen der Regierung.
Gewerkschaften in Deutschland
In Deutschland hingegen gab es trotz zwei Jahren Pandemie nicht eine einzige bundesweit gemeinsam koordinierte Aktion der Gewerkschaften, um auf den Gesundheitsschutz und die Interessen der Beschäftigten in der Pandemie aufmerksam zu machen und so den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen. Das Problem ist aber grundsätzlich. Die Gewerkschaftsführungen und leider auch ein Teil der Mitglieder meinen, es gehe ihnen gut, so lange das Kapital zirkuliere, und zwar möglichst schneller als jenes der Konkurrenten. Gewerkschaften haben in einer solch dramatischen Gesundheitssituation die Aufgabe, jene Bereiche der Wirtschaft stillzulegen, in denen sich die Menschen anstecken, die aber nicht wichtig für die Versorgung der Bevölkerung sind.
Wenn das nicht möglich oder sinnvoll ist, müssen sie zumindest umfassende Schutzvorkehrungen durchsetzen. Gewerkschaften haben auch die Pflicht, ihre Mitglieder und alle Beschäftigten in den Betrieben offen und offensiv zu überzeugen, sich zu impfen. Das heißt, sie müssen mit den Lohnabhängigen diskutieren und gemeinsam überlegen, wie sich die Gesundheit aller am besten schützen und schließlich verteidigen lässt, vor allem gegen Unternehmensführungen, die dafür weder Geld noch Zeit einsetzen wollen. Die Dynamik der Pandemie und die riesigen Opferzahlen zeigen mit aller Deutlichkeit, dass sich die Naturgesetze der Evolution und die gesellschaftlichen Widersprüche nicht technokratisch auf ein bestimmtes Level einstellen lassen. Angesichts der verheerenden Entwicklung erweisen sich auch linke Interpretationen, die die Pandemiepolitik primär als autoritäres Manöver erkennen wollen, als falsch. Schlimmer: sie bieten keine Anhaltspunkte für eine emanzipatorische Perspektive raus aus der Pandemie.
Linke Verirrungen in der Pandemie
Eine Mitverantwortung tragen auch linke Intellektuelle und Gruppierungen, welche die Pandemie nicht ernst nehmen. Klein ist deren Verantwortung aber nur, weil bloß eine geringe gesellschaftliche Wirkung erzielen. Große Teile der Linken haben die Pandemie massiv unterschätzt. Auch bekannte Köpfe haben in unterschiedlichen Ausprägungen die Pandemie verharmlost und in ganz absurden Fällen sogar als Propaganda-Produkt der Regierungen oder eines neuen informationsbasierten biotechnisch-pharmazeutischen Komplexes3 abgetan. Einige kritische Politikwissenschaftler wollen in der Pandemiepolitik der Regierungen primär ein autoritäres Projekt4 erkennen.
Das Leid und die Millionen von Toten wird ausgeblendet
Das Leid und die Millionen von Toten blenden sie entweder aus oder nehmen sie hin. Andere nehmen eine Güterabwägung5 zwischen einschränkenden Maßnahmen und der Verteidigung individueller »Freiheitsrechte«6 vor und akzeptieren damit den Tod vieler Menschen. Ihre Argumente ähneln jenen der neoliberalen Optimierungstheoretiker:innen im Dienste der Kapitalinteressen. Einige wenige Feministinnen7 übernehmen die reaktionäre Position der Great Barrington Declaration8, die forderte, man müsse die vulnerablen Gruppen der Bevölkerung schützen und ansonsten die Ansteckungen bis zur Herdenimmunisierung durchrauschen lassen. Hätten sich die Regierungen auf diese verrückte Vorstellung eingelassen, hätten wir alleine in Europa Millionen von Toten mehr.
Naturgesetze und gesellschaftliche Widersprüche
Derart schräge Interpretationen können wohl nur entstehen, wenn man einerseits meint, die eigene »Staatstheorie«, »Demokratietheorie« »feministische Ökonomie« oder »Weltsystemtheorie« sei relevanter als die Gesetze der Evolution, und andererseits die Empathie für die Erkrankten und die Arbeiter:innen im Gesundheitswesen sowie überhaupt die Wahrnehmung für das Leid in unseren Krankenhäusern und die Auslöschung unzähliger Menschen in den armen Ländern abhanden ging. Wer die Welt nur durch eine Brille anschaut, die den autoritären Staat durchschimmern lässt und alles andere ausblendet, bekommt notgedrungen die Wirklichkeit nur eingeschränkt mit. Wer die Politik als Manöver und den Staat als Plattform dunkler Mächte interpretiert, versteht weder Naturgesetze noch gesellschaftliche Widersprüche und Dynamiken.
Weit verbreitetet ist die Vorstellung, die Pandemie könne wegen den Kapazitätsengpässen in der Gesundheitsversorgung nicht unter Kontrolle gebracht werden. Selbstverständlich sind gute Krankenhäuser mit guten Arbeitsbedingungen und geleitet unter demokratischer Beteiligung der Beschäftigten sowie freier Zugang zur Impfstoffproduktion zentrale Anliegen. Doch auch die besten Krankenhäuser tragen nicht dazu bei, die Pandemie zu beenden. Größere Spitäler mit noch mehr erkrankten Menschen aufzufüllen, wäre keine Antwort auf die Pandemie, sondern würde diese bloß verlängern und in dieser perversen Logik zu noch mehr Verstorbenen führen. Krankenhäuser sind nicht dafür da, dass sie optimiert gefüllt werden. Sie müssen vielmehr eine allgemein gute Versorgung garantieren und viele freie Reserven haben. Mit leistungsfähigeren Krankenhäusern hätten die Beschäftigten unter den gegebenen Bedingungen noch mehr Stress, noch mehr Menschen würde man erkranken und sterben lassen.
Gemäß dem Grundsatz der Prävention geht es darum Ansteckungen, Erkrankungen und Sterbefälle zu verhindern, nicht auf einem bestimmten Niveau einzupendeln und die Beschäftigten in den Krankenhäusern zum unmenschlichen Management der Pandemie degradieren. Die Pandemie hat ursächlich mit der Kapazität der Krankenhäuser nichts zu tun, sondern mit der Ausbreitungsdynamik eines Virus. Diese Dynamik gilt es zu brechen und zwar durch gesamtgesellschaftliche massive Reduktion der Kontakte sowie durch eine möglichst vollständige Impfung der Bevölkerung. Das ist das kleine 1×1 der Pandemiebekämpfung. Auch die einseitige Hoffnung auf eine Durchimpfung der Bevölkerung – so wichtig diese auch ist – entspricht eher einer technokratischen Perspektive. Impfungen helfen nur bei einer gleichzeitigen Niedriginzidenzstrategie die Pandemie zu beenden. Massenhafte, aber unvollständige Impfungen bei gleichzeitig hohen Inzidenzen, erhöhen sogar den Selektionsdruck und damit die Wahrscheinlichkeit von Mutationen. Das ist genau die Situation, in der wir in Deutschland, Österreich und der Schweiz stecken.
Wer sich jetzt um die Verantwortung drückt und es vermeidet, einen solidarischen Shutdown zum Stopp der Virusausbreitung zu fordern, akzeptiert letztlich den zynischen und illusionären Ansatz der Regierungen, die Ansteckungsdynamik auf ein bestimmtes Niveau einzustellen. Jetzt gilt es, sich bedingungslos und wirksam auf die Seite der Gesundheit und des Lebens zu stellen: Leben statt Kapital!
Die Pandemie und Debatten um ZeroCovid
Es zeigt sich auf äußerst brutale und tragische Weise, dass die Forscher:innen, die seit der ersten Phase der Pandemie eine radikale Niedrig-Inzidenz-Strategie forderten recht hatten und weiterhin richtig liegen. Die im Januar 2021 gegründete Initiative ZeroCovid forderte zunächst mit beträchtlicher medialer Beachtung einen solidarischen Shutdown und massive Unterstützungsmaßnahmen für alle Menschen, die unter einem Shutdown leiden. Der Regierungen verfolgen einen anderen Kurs. Ihnen geht es bloß darum, die Ansteckungsdynamik abzuflachen, aber nicht wirklich zu brechen. Dennoch gelang es ZeroCovid die Diskurse zu beeinflussen. Im Anschluss an den ZC-Aufruf sprach sich in Deutschland DIE LINKE im Februar 2021 für einen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung durch die radikale, aber sozial gerechte Eindämmung des Virus aus.9
Einige linke Intellektuelle kritisierten ZeroCovid scharf. Sie meinten, ZeroCovid würde einem starken Staat das Wort reden.10 Die Banalität, dass ZeroCovid politische Forderungen an Regierungen stellt, reicht wohl nicht um diesen absurden Vorwurf zu begründen. ZeroCovid richtete die ganze Kampagne auf die Selbstorganisierung der Menschen aus. Die Staaten suchen gerade infolge der Verschleppung der Pandemie vermehrt Zuflucht in autoritären, aber letztlich hilflosen Schachzügen. Genau davor warnte ZeroCovid bereits vor bald einem Jahr. Der Verlauf der Pandemie zeigt deutlich, dass wir die politische und gesellschaftliche Dynamik eben nicht einseitig als Ausdruck eines autoritärer werdenden Staates verstehen können. Vielfach hat er sogar an Autorität eingebüßt. Die Realität ist widersprüchlicher als einfache »Erklärungen« vortäuschen.
Schulmeisterlich empfahlen einige Kritiker:innen, ZeroCovid solle doch erkennen, dass das SARS-CoV-2-Virus ohnehin endemisch, bald an Gefährlichkeit verlieren und einem Grippevirus ähnlich sein werde. Zudem würden die bald bevorstehenden Impfkampagnen entscheidend dazu beitragen die Pandemie zu beenden und in eine endemische Phase überzutreten. Mit endemisch wird ein Zustand beschrieben, dass die Ansteckungen fortwährend in einem bestimmten Gebiet oder einer Population auftreten. Damit ist noch nichts über die Gefährlichkeit eines Virus gesagt.
Verlautbarungen, dass sich Viren durch Verbreitung und Mutation generell abschwächen, sind unseriös. Es gibt keine Daten, die eine solche Aussage bestätigen. Mutationen erfolgen zufällig. Jedoch organisiert die Gesellschaft durch ein bestimmtes Verhalten die Selektionsumgebung. Es geht also darum, dass die Gesellschaft dem Virus möglichst wenig Gelegenheit bietet, sich auszubreiten und weiter zu mutieren. Das ist nur mit einer radikalen Niedrig-Inzidenz-Strategie möglich, die das Ziel hat die Virusausbreitung völlig zu unterbinden. Nur unter dieser Bedingung helfen umfassende Impfkampagnen die Pandemie wirklich zu beenden. Auch zahlreiche linke Kritiker:innen von ZeroCovid haben die Grundzüge einer Pandemie nicht begriffen, wenn sie einseitig auf Impfungen setzen. Sie teilen damit die Annahme der Regierungen und stützen ihren zynischen Kurs. Grundsätzlicher betrachtet ist die Pandemie letztlich ein Ausdruck des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur (Marx).11
Wir erleben gegenwärtig bereits das vierte Mal einen verhängnisvollen Zyklus des Handelns der Regierungen in Europa. Zuerst verdrängen sie die Pandemie, dann zögern sie Maßnahmen hinaus, dann handeln sie falsch und schließlich nehmen sie Zuflucht in autoritären Manövern, die aber nicht funktionieren.
Die Pandemie und die neue Virusvariante Omikron
Nun wird die Sachlage noch deutlich komplizierter. Zunächst in Botswana, Hongkong und Südafrika wurde die neue Virusvariante B.1.1.529 entdeckt.12 Tulio de Oliveira, Director Centre for Epidemic Response & Innovation, South Africa, bat am 25. November dramatisch um sofortige internationale Unterstützung. Er teilte mit, dass Südafrika alle erforderlichen Daten der Forschung zur Verfügung stelle.13 Südafrika meldete die neue Variante am 26. November der WHO, die ihr am 26. November den Namen Omikron verlieh und sie als »besorgniserregend«einstufte.14 Omikron weist zahlreiche möglicherweise gefährliche Mutationen auf dem Spikeprotein und weitere Mutationen auf.
In Südafrika breitet sich Omikron in rasantem Tempo aus. In nur zwei Wochen hat sie vielerorts die stark ansteckende Deltavariante verdrängt.15 Doch rasch zeigte sich, dass Omikron unter dem Radar bereits in vielen Regionen der Welt, auch in Europa, angekommen ist. Omikron hat sich auch bereits zwischen Menschen verbreitet, die sich gar nicht im südlichen Afrika aufgehalten hatten 16, 17 In Ländern mit einer schwachen Test- und Sequenzierungsinfrastruktur fällt es nun schwer, die Ausbreitung zu erfassen.
Um die kommende Dynamik zu verstehen, stellen sich drei grundlegende Fragen in Bezug auf die Eigenschaften von Omikron.18
Wie infektiös ist Omikron?
Welche physischen Wirkungen, also welche Letalität beziehungsweise Tödlichkeit weist Omikron und welche Krankheitsverläufe provoziert es. Inwiefern ist Omikron in der Lage, die durch Erkrankung oder Impfung generierte Immunreaktion der Menschen zu umgehen?
Die bisherigen Erfahrungen und Befunde deuten darauf hin, dass Omikron sehr viel ansteckender als die bereits leicht übertragbare Deltavariante ist. Unter den mit Omikron infizierten Menschen befindet sich ein hoher Anteil an Menschen, die sich bereits früher durch andere Virusvarianten ansteckten und erkrankten. Das lässt vermuten, dass Omikron teilweise die Immunabwehr umgehen kann. Über die physischen Wirkungen von Omikron ist noch wenig bekannt. Die Berichte aus den Krankenhäusern lassen aufhorchen. Gemäß Angaben des National Institute of Communicable Diseases in Südafrika in haben sich die Krankenhauseinweisungen in der Gauteng Provinz, dem Epizentrum der Omikron-Verbreitung, innerhalb von zwei Wochen von 143 auf 821 versechsfacht bei weiterhin stark ansteigender Tendenz. Von den wegen Covid-19 hospitalisierten Menschen, erhalten immerhin 18% eine Beatmungs- und Intensivbehandlung 19 Da bahnt sich gerade eine Katastrophe an. Sollten sich die ersten Befunde bestätigen, entsteht möglicherweise eine Pandemie in der Pandemie.
Die Wirksamkeit der Impfstoffe ist für die weitere Entwicklung ein zentraler Faktor. Am 30. November meldete sich Stéphane Bancel, der CEO Moderna,in einem Interview mit der Financial Times mit einer Warnung zu Wort. Die Impfstoffe werden wesentlich weniger wirksam gegen eine Infektion durch Omikron sein verglichen mit den bisherigen Varianten von Sars-CoV-2. Zudem dämpfte er die Hoffnungen auf eine rasche Anpassung des Impfstoffs und die Möglichkeiten die erforderlichen Mengen, also Milliarden von Dosen, des neuen Impfstoffs innert kurzer Frist zu produzieren. Es sei zudem zu risikobehaftet die ganze Produktionsstruktur auf einen Impfstoff auszurichten 20
Die Pandemie wird vermutlich eine neue Qualität annehmen. Die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um deren Bekämpfung dürften sich damit weiter zuspitzen, und zwar sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch auf internationaler Ebene.
ZeroCovid als Orientierung
Die grundlegende Situation ist nicht so kompliziert. Solange nicht 90 Prozent der Weltbevölkerung durch Impfung oder Ansteckung immunisiert sind, wird die Pandemie weitergehen. Solange wird es unmöglich sein, in eine endemische Situation zu kommen. Ist die Impfquote zu niedrig und stecken sich zugleich viele Menschen an – also genau die Lage, in der wir in Europa gegenwärtig stecken –, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus auch hier mutiert. Ob und wann und auf welche Weise das geschieht, werden wir erst danach merken. In Gesellschaften mit vielen immungeschwächten Menschen besteht ebenfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit von Virusmutationen. Aus diesem Grund ist es schlicht eine Frage der gemeinsamen gesellschaftlichen Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sich möglichst wenige Menschen in den armen Ländern anstecken und erkranken. Die Initiative ZeroCovid fordert seit Januar 2021, die Pandemie mit einer radikalen Niedrig-Inzidenz-Strategie zu bekämpfen. Sie schließt sich damit der überwältigenden Mehrheitsmeinung in der internationalen Forschung an. Dieses Ziel ist möglich. Es braucht allerdings den gesellschaftlichen Willen dazu. In der jetzigen Situation gehört dazu:
- Die Kontakte sind für eine kurze Zeit radikal einzuschränken. Das ist keine individuelle Aufgabe, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Wir brauchen eine Notbremse, einen solidarischen Shutdown aller Bereiche, in den sich die Menschen anstecken können, die aber für unsere Versorgung und unser Leben nicht wichtig sind. Die Menschen, die Not leiden und von einschränkenden Maßnahmen besonders betroffen sind, müssen vom Staat unterstützt werden. Die Menschen, die während der Schließung der Schulen ihre Kinder betreuen müssen, sind durch die öffentliche Hand finanziell zu unterstützen. Niemand darf zurückgelassen werden. Diese Maßnahmen sind durch eine Sondersteuer auf Vermögen und Gewinne zu finanzieren.
- Die Behörden müssen alle Einwohner:innen zu einem ersten, zweiten und dritten Impftermin in der Nähe des Wohnorts oder Arbeitsorts pro aktiv einladen. Die Menschen sind in allen erforderlichen Sprachen über den individuellen und gesellschaftlichen Sinn des Impfens zu informieren. Persönliche ärztliche Beratung für Menschen die sich Unsicher sind, helfen das Impfvertrauen zu erhöhen. Tests müssen ebenfalls in der Nähe des Wohnorts und des Arbeitsorts jederzeit kostenlos verfügbar sein.
- Alle stark betroffenen armen Länder brauchen dringend internationale Unterstützung – eine Pandemie lässt sich nur international und gemeinsam beenden. Die Patente auf Impfstoffe sind aufzuheben. Die technologisch führenden Länder müssen zu einem Technologietransfer bei der Impfstoff- und Medikamentenherstellung an die armen Länder gezwungen werden.
Es ist dringend, dass die sozialen Bewegungen, die Umweltbewegung, die feministische Bewegung, viele städtische Initiativen, die Beschäftigten in den Krankenhäusern und die Lohnabhängigen in ganz unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft zusammenfinden. Es gilt, sich der Pandemie und der Regierungspolitik entschlossen von unten organisiert entgegenzustellen. Die Regierungen haben Vertrauen und Legitimität mit ihrer systematischen Verschleppung wirksamer Maßnahmen gegen die Pandemie verspielt. Der erforderliche solidarische Lockdown kann nur von unten entstehen.
Quellen:
1 Donato Paolo Mancini, Naomi Rovnick, Robin Harding, Leo Lewis, William Langley: WHO warns of ‘very high’ risk from new Omicron coronavirus variant. Financial Times, November 29, 2021. https://www.ft.com/content/fb94e9e9-138d-4351-9dba-33edad6653a1
2 Zeller, Christian: Gewerkschaften: Bedingungslos für die Gesundheit der Lohnabhängigen? Sozialismus.ch, 14. Dezember 2020 https://sozialismus.ch/arbeit/2020/gewerkschaften-bedingungslos-fuer-die-gesundheit-der-lohnabhaengigen/dff ÖGB: Geimpft, genesen, getestet. 2G und 3G am Arbeitsplatz: Diese Regeln gelten aktuell. 18. November 2021. https://www.oegb.at/themen/arbeitsrecht/corona-und-arbeitsrecht/3g-am-arbeitsplatz–diese-regeln-gelten-ab-1–november-?; Interview mit Wolfgang Katzian, 11. November 2021, Video https://fb.watch/9AFeThQYoh/
3 Hofbauer, Hannes und Komlosy, Andrea (2020): Corona-Panik. Schrittmacher einer kybernetischen Wende. Lunapark21, 21. Juli 2020 https://www.lunapark21.net/corona-panik/#more-6234
4 Hirsch, Joachim (2021): Angst und Herrschaft – Einige staatstheoretische Überlegungen*. Links-netz. 8. März 2021. http://wp.links-netz.de/?p=481 . Hirsch, Joachim (2021): Was ist aus der Linken geworden? Links-netz. 7. November 2021. http://wp.links-netz.de/?p=520.
5 Demirovic, Alex (2021): Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist. Analyse&Kritik. 18. Januar 2021. https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/
6 Rudhof-Seibert, Thomas (2021): Wann hört das endlich alles auf … … und wie soll es weitergehen? Was unter Corona links sein könnte. Neues Deutschland. 1. Januar 2021. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146457.coronavirus-wann-hoert-das-endlich-alles-auf.html.
7 Soiland, Tové (2021): Alle Räder stehen still? Zero Covid vernachlässigt die Erkenntnisse der feministischen Ökonomie sträflich. Neues Deutschland. 5. Februar 2021. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1147969.zero-covid-alle-raeder-stehen-still.html.
8 Kulldorff, Martin; Gutpa, Sunetra und Bhattacharya, Jay (2020): The Great Barrington Declaration. October 4, 2020,. https://gbdeclaration.org/
9 https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteivorstand/parteivorstand/detail/menschen-vor-profite-fu%CC%88r-einen-strategiewechsel-in-der-pandemiebekaempfung/
10 Demirovic, Alex (2021): Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist. Analyse&Kritik. 18. Januar 2021. https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/
11 Marx, Karl (1867: 192): Das Kapital, Erster Band. Karl Marx-Friedrich Engels-Werke (MEW) Band 23. 1988. Berlin: Dietz Verlag, 955 S.
12 Lars Fischer: Warum B.1.1.529 gefährlich ist. Spektrum Wissenschaft, 27. November 2021 https://www.spektrum.de/news/neue-corona-variante-warum-b-1-1-529-fachleuten-sorgen-macht/1953148
13 Tulio de Oliveira: Centre for Epidemic Response & Innovation, South Africa, November 25, 2021 https://twitter.com/Tuliodna/status/1463911554538160130
14 WHO: Classification of Omicron (B.1.1.529): SARS-CoV-2 Variant of Concern. 26 November 2021. https://www.who.int/news/item/26-11-2021-classification-of-omicron-(b.1.1.529)-sars-cov-2-variant-of-concern
15 Tulio de Oliveira: Centre for Epidemic Response & Innovation, South Africa, November 25, 2021 https://twitter.com/Tuliodna/status/1463911554538160130
16 Callaway, Ewen (2021): Heavily mutated coronavirus variant puts scientists on alert. Nature. 25 November 2021. https://doi.org/10.1038/d41586-021-03552-w.
17 Adrienne Klasa and Andy Bounds: Belgium confirms first European case of new Covid variant. Financial Times, November 26, 2021 https://www.ft.com/content/8245c992-4a4d-4110-b10c-b294c41d501c
18 WHO: Update on Omicron. 28 November 2021. https://www.who.int/news/item/28-11-2021-update-on-omicron
19 National Institute of Communicable Diseases: Daily Hospital Surveillance (DATCOV) Report, 29 November 2029 https://www.nicd.ac.za/diseases-a-z-index/disease-index-covid-19/surveillance-reports/daily-hospital-surveillance-datcov-report/
20 Smyth, Jamie (2021): Moderna chief predicts existing vaccines will struggle with Omicron. Stéphane Bancel foresees ‘material drop’ in current jabs’ effectiveness, sending stocks and oil prices lower. Financial Times. 30 November 2021. https://www.ft.com/content/27def1b9-b9c8-47a5-8e06-72e432e0838f
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