Horst Haenisch vergleicht die unterschiedlichen Rahmenbedingungen des Aufstiegs und der Machtergreifung der NSDAP 1933 und der AfD heute und zieht daraus Lehren für den antifaschistischen Kampf im Hier und Jetzt
Hitler kam aus zwei Gründen an die Macht: erstens, weil die Bourgeoisie sich anlässlich der Weltwirtschaftskrise und des Zusammenbruchs der Weltmärkte zu einem neuen imperialistischen Krieg entschloss; zweitens, weil niemand außer der Nazibewegung in der Lage war, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, die gegen einen neuen Krieg Widerstand geleistet hätte. Zu frisch war noch die Erinnerung an das Gemetzel des Ersten Weltkrieges und den Blutzoll, den die Arbeiterklasse gezahlt hatte.
Dazu brauchten die Nazis zweierlei: Wahlerfolge und eine eigene bewaffnete, zunächst illegale Armee, die SA. Die Reichswehr der Weimarer Republik stand für eine solche Aufgabe nicht zur Verfügung. Sie war schwach wegen der Bedingungen des Versailler Vertrages und unzuverlässig, weil das Offizierskorps mit den Nazis sympathisierte. Im Falle eines Bürgerkrieges wäre es in relevanten Teilen zu den Nazis übergelaufen und hätte den Militärputsch scheitern lassen und in einen Nazi-Aufstand verwandelt.
Machtergreifung: NSDAP – AfD
Die Nazi-Privatarmee war – zu großen Teilen auch was das Personal anging – die Fortsetzung der Freikorps, die im Auftrag und mit den Geld der Bourgeoise und im Auftrag der SPD-Führung die Revolution 1918 in Blut erstickt hatte.
Auslöser für diese Entwicklung war eine Weltwirtschaftskrise, die es gegenwärtig in der Form einer akuten Katastrophe nicht gibt. Die Krise ist vielmehr seit der Finanzkrise 2008 latent. Akut ist deshalb auch nicht die Einschätzung der deutschen Bourgeoisie, dass ein neuer Krieg vorbereitet werden müsse, auch wenn sich zeitgleich der Konflikt zwischen den USA und der VR China um die Zukunftstechnologien und die dafür notwendigen Rohstoffe zuspitzt und sich die deutsche Politik auch im Ukrainekrieg voll und ganz hinter die USA stellt.
Würde diese latente ökonomische Krise über Nacht akut, dann wären unsere Nazis mit ihren bereits jetzt bestehenden starken Parlamentsvertretungen in einer stärkeren Position als Hitler 1928. Zwei weitere Rahmenbedingungen der damaligen Machtergreifung sind heute nicht in der gleichen Weise vorhanden. Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Ablehnung eines neuen Krieges wohl nicht mehr so heftig wie fünfzehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Und die Arbeiterklasse bildet heute keine geschlossene Front mehr gegen den Faschismus.
Aber zur unmittelbaren Gegenwart. Auch wenn sich das schnell ändern kann: Die deutsche Bourgeoisie braucht und will derzeit keine Faschisten an der Macht. Aber da die AfD – anders als seinerzeit die Nazis – bereits vor einer Wirtschaftskatastrophe in demokratischen Wahlen erfolgreich ist, ergibt sich die Chance für eine konservative parlamentarische Mehrheit und Regierung. Dem steht der Anti-Amerikanismus der AfD im Weg. Legt sie diesen ab und verbirgt oder zügelt sie vorübergehend ihren eliminatorischen Rassismus, der zuletzt im Adlon-Plan sichtbar wurde und der den faschistischen Kern der AfD zusammenhält, dann ist der Weg frei für eine solche Regierung. Le Pen und Meloni haben sich so entschieden, und die CDU/CSU mit von der Leyen und Weber greifen in Europa gierig die Chance auf, nach ihren Maßstäben vernünftige und damit koalitionsfähige Rechte zu finden. In der AfD ist eine solche Melonisierung aber nicht absehbar.
Von der Diskriminierung zur Vernichtung
Aber so stellt sich die Frage für die AfD gar nicht. Martin Sellner von der österreichischen Identitären Bewegung hat im November 2023 im Potsdamer Adlon darüber referiert, welche Möglichkeiten einer rassistischen Regierungspraxis sich für die AfD in Koalitionsregierungen ergeben, bevor sie ihr Endziel, die Eliminierung aller Menschen mit einer Migrationsgeschichte oder -vorgeschichte in Angriff nehmen kann. Die Empörung über den Adlon-Plan wurde vom Endziel ausgelöst, das dort auch zur Sprache kam. Aber eigentlich ging es darum, den eliminatorischen Rassisten Regierungsbeteiligungen in den Bundesländern als rassistisches Projekt schmackhaft zu machen. Die USA-Feindlichkeit ist da kein wirkliches Hindernis. Dafür sind die Nazis von 1933 bis 1940 das Vorbild.
Vor dem eliminatorischen Antisemitismus kam der diskriminatorische Antisemitismus. Welcher oder welche deutsche Beamt:in, Rechtsanwält:in, Viehhändler:in hat sich damals beschwert, wenn sein jüdischer Konkurrent oder seine Konkurrentin, Mitbewerber:in per Gesetz oder Verordnung benachteiligt wurde? Welcher deutsche Zahnarzt oder welche Zahnärztin, Fahrlehrer:in, Altenheimbetreiber:in, Gemüsehändler:in wird aufstehen, wenn seine oder ihre Konkurrenz mit syrischen, rumänischen, türkischen Wurzeln benachteiligt wird? Welche deutschen Eltern werden aufstehen, wenn die Klassen kleiner werden, weil die Kinder mit Defiziten in Deutsch eigene Schulen zugewiesen bekommen? Wie viele deutsche Hochschullehrer:innen werden aufstehen, wenn die Karriere migrantischer Kolleg:innen von einem Bekenntnis zur deutschen Leitkultur abhängt?
Taktik der NSDAP
Die deutschen Neonazis kennen die Geschichte der NSDAP und des deutschen Faschismus sehr gut. Sie und Sellner werden auch die taktischen Überlegungen Hitlers für die Zeit vor einer Machtergreifung im Reich kennen, die dieser 1930 einem US-amerikanischen Gönner brieflich erläuterte. Die NSDAP solle als Juniorpartnerin Koalitionen mit konservativen Parteien eingehen und das Innen- und das Bildungsministerium übernehmen; dort Nazis in die Führungsebenen einschleusen; missliebiges Personal entlassen, nicht zuletzt in Hochschulen, Theatern und Schulen; Nazi-Ideologen mit Professorenstellen versorgen; die Bildungspläne und -materialien der Nazi-Ideologie anpassen; die Museen und Massenmedien säubern usw. Das aber war nicht einmal der Hauptzweck dieser Taktik. Dieser bestand vielmehr darin, vom ersten Tag an gegen die eigene Regierung eine radikal rechte Opposition zu betreiben, den konservativen Partner schwach, wankelmütig und inkonsequent aussehen zu lassen. Das geschah mit großem Erfolg in vier Ländern des Reiches.
Beispiel Thüringen: Dort ließen die rechten Parteien, wegen der Obstruktionspolitik der Nazis, das Bündnis mit der NSDAP 1932 nach 15 Monaten platzen und regierten zunächst mit der Duldung der SPD weiter. Bei den folgenden Neuwahlen stieg der Stimmenanteil der Nazis von 11,3 Prozent auf 42,5 Prozent, und die Nazis regierten fortan alleine. Daran erinnert sich neuerdings öffentlich auch Friedrich Merz: »Wir dürfen denen, die uns politisch beseitigen wollen, nicht noch die Hand reichen.« (ntv, 24.08.2024)
Eliminatorischer Rassismus
Faschismus- und Holocaustforschung reden aneinander vorbei, oder anders: Die Holocaustforschung bezieht sich nicht auf den Faschismus. In ihrem Zentrum steht die Erforschung der Entstehung von Vorurteilen und Ressentiments, und sie unterstellt, dass damit schon alle Voraussetzung für den Völkermord aus rassistischen Motiven gegeben sind. Sie übersieht, dass zur Tat mehr gehört als der Wille. Und dies gilt besonders, wenn der eliminatorische Rassismus die Überzeugung einer kleinen aber fanatischen Minderheit ist. Andersherum die Faschismusforschung: Besonders deren linke Variante untersucht die Beziehung zwischen Kapitalismus und Faschismus als eine Art Funktionszusammenhang. Für den Holocaust als »vollendete Sinnlosigkeit« (Hannah Arendt) ist da kein Platz. Beide bewaffnen uns nicht für den Kampf gegen eine erneute Katastrophe. Erst die Analyse des faschistischen Doppelstaats erklärt, wie der blutrünstige Spleen einer kleinen Gruppe zur massenmörderischen Staatsräson werden konnte.
Der Holocaust ist das historische Ereignis, das einen im Kapitalismus vorher nicht gekannten und nicht für möglich gehaltenen Grad der Unabhängigkeit der Politik von der Ökonomie zeigt. Deshalb hat ihn so gut wie keiner vorausgesehen. Ich kenne nur zwei Ausnahmen: Adorno in einem privaten Brief und Trotzki in einer politischen Stellungnahme vom 22. Dezember 1938. Der Historiker Mario Kessler reiht auch Albert Schreiner aus der KPO-Fraktion hier ein. Aber an der von Kessler angegebenen Stelle findet sich kein entsprechender Beleg. Trotzki sagt da in einem zur Veröffentlichung bestimmten Bittbrief an amerikanische Juden, von dem ich aber nicht weiß, ob er damals auch veröffentlicht wurde, u.a.: »Man kann sich leicht vorstellen, was die Juden schon zu Beginn eines zukünftigen Weltkriegs erwartet. Aber auch ohne Krieg bedeutet die weitere Entwicklung der Weltreaktion fast mit Zwangsläufigkeit die physische Vernichtung des Judentums.« (Leon Trotzky: On the Jewish Question, pathfinder 1970:38)
Ökonomie und Politik
Zur Genialität Trotzkis gehört, dass er immer das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Politik im Auge hatte und nie die Politik unvermittelt aus der Ökonomie abgeleitet hat, ganz in der Tradition der historischen Untersuchungen von Marx und Engels. So sagt er etwa zur bonapartistischen Brüning-Regierung im September 1932:
Sobald der Kampf (…) der Besitzenden und Besitzlosen, der Ausbeuter und Ausgebeuteten höchste Spannung erreicht, sind die Bedingungen für die Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska gegeben. Die Regierung wird unabhängig von der Gesellschaft. (…) Gewiß, eine solche Regierung hört nicht auf, Kommis (Handlanger, Anm. d. Verf.) der Eigentümer zu sein. Doch sitzt der Kommis dem Herrn auf dem Buckel, reibt ihm den Nacken wund und steht nicht an, seinem Herren gegebenenfalls mit dem Stiefel über das Gesicht zu fahren. (Trotzki: Der einzige Weg, in: Helmut Dahmer, Hrsg. EVA 1971:351)
Ungeachtet dessen glaube ich, dass selbst ein Trotzki die unabhängige Gewalt des eliminatorischen Rassismus – des Rassismus um des Rassismus Willen – unterschätzt hat. Im Juni 1933 äußert sich Trotzki folgendermaßen:
Auf der Ebene der Politik ist der Rassismus eine aufgeblasene und prahlerische Abart des Chauvinismus, gepaart mit Schädellehre. Wie herabgekommener Adel Trost findet in der alten Abkunft seines Blutes, so besäuft sich das Kleinbürgertum am Märchen von den besonderen Vorzügen seiner Rasse. (Portrait des Nationalsozialismus, ebd.:576)
Eine Seite später heißt es:
Praktisch beschränkt sich der Nationalsozialismus in der Wirtschaft auf – trotz aller Brutalität – ohnmächtige Ausbrüche von Antisemitismus. (…) Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat. Der Pogrom wird zum Beweis rassischer Überlegenheit.
Im ersten Zitat ist der Rassismus ideologischer Trost für ein eigentlich politisch und ökonomisch unbedeutendes Kleinbürgertum, im zweiten beschränkt sich der Rassismus in seiner antisemitischen Variante auf den »ohnmächtigen« Pogrom, d.h. die seit Jahrhunderten praktizierte Umlenkung sozialer Unzufriedenheit auf den Juden als Sündenbock durch die politischen Machthaber.
Der Pogrom ist kein Genozid
Ein anderes Beispiel für die Unterschätzung des Rassismus: Der sozialdemokratische Jurist und spätere Politikwissenschaftler Franz Neumann schied in den USA aus dem Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung aus, weil er sich in seinem Buch »Behemoth« implizit gegen Max Horkheimers und Friedrich Pollocks These wandte, wonach im deutschen Faschismus keine Tauschwerte mehr produziert werden, mithin kein Kapitalismus mehr bestehe, dies aber nicht zum Sozialismus geführt habe, sondern in die Barbarei. Auf die weitreichenden Implikationen dieser These für die Entwicklung der Kritischen Theorie kann hier nicht eingegangen werden. Neumann zeigt demgegenüber im Detail, dass und wie der Kapitalismus ungeachtet massiver staatlicher Eingriffe fortexistierte. Dieser hellsichtige Beobachter schreibt noch 1941 über das Pogrom-Schicksal, also das nicht-genozoidale Schicksal der deutschen Juden:
Dieser innenpolitische Wert des Antisemitismus läßt deshalb eine völlige Vernichtung der Juden niemals zu. Der Feind kann und darf nicht verschwinden; er muß ständig als Sündenbock für alle aus dem soziopolitischen System hervorgehenden Übel bereitstehen. (Franz Neumann: Behemoth EVA 1977:163)
Selbst noch 1944, als ihm der Völkermord an den Juden längst bekannt war, schreibt Neumann:
Der Antisemitismus ist (…) die Speerspitze des Terrors. Die Juden werden wie Versuchstiere benutzt, um die Methoden der Repression zu testen. (…) Folglich stellt die Ausrottung der Juden in dieser antisemitischen Ideologie und Praxis nur ein Mittel dar, das schließliche Ziel zu erreichen, nämlich die Zerstörung der freiheitlichen Institutionen, Meinungen und Gruppen. Dies könnte man als Speerspitzentheorie des Antisemitismus bezeichnen. (ebd.:582)
Mechanischer Materialismus
Es ist für Neumann einfach nicht vorstellbar, dass das »schließliche« Ziel der Ausrottung der Juden ihre Ausrottung sein könnte. Er kann sich deren Ausrottung nur als Mittel für einen anderen Zweck vorstellen, nämlich als Training für die »Zerstörung der freiheitlichen Institutionen« usw. Dies 1944, als Deutschland längst vollständig unter der Knute von Gestapo, SS, Polizei, Militär und einem willfährigen Beamtenstaat stand.
Die Liste von Wissenschaftler:innen, die so oder ähnlich argumentieren, ließe sich fortsetzen. Unter den DDR-Historiker:innen ist diese Argumentation geradezu Standard. Hier, wie bei Neumann, bildet der mechanische Materialismus der Dritten bzw. der Zweiten Internationale den Hintergrund, wonach die Politik unvermittelt durch die Ökonomie determiniert sein soll.
Diese Geringschätzung des eliminatorischen Rassismus als selbständige politische Kraft, der bei passender Gelegenheit in den exterminatorischen umschlägt, war ein fataler Fehler. Diesen Fehler dürfen wir nicht wieder machen. Das ist die Lehre aus dem Holocaust! Aber weder Holocaust- und Faschismusforschung ziehen diese Lehre, noch tut dies die antifaschistische Linke.
Antifaschistische Massenbewegung
Im Gegensatz dazu spüren die Hunderttausenden, die nach dem Bekanntwerden des Adlon Plans auf die Straße gingen, die Gefahr des eliminatorischen Rassismus. Sie ziehen eine Lehre aus dem Holocaust. Der linke Antifaschismus lässt bisher diese Massenbewegung rechts liegen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen.
Eigentlich hätte man erwarten dürfen, dass ein antirassistisches Bündnis wie Aufstehen gegen Rassismus (AgR) sich voll und ganz mit dem neuen Antirassismus solidarisiert, sich um Einfluss bemüht und die Bewegung davor bewahrt, von den Parteien, die selbst mit einem diskriminatorischen Rassismus spielen, gekapert zu werden. Dies hätte ganz dem Programm von AgR und dem antirassistischen Umfeld entsprochen, das AgR bereits erfolgreich aufgebaut hatte. Hier wurde eine riesige Chance vertan!
Keiner hat diese Massenbewegung vorhergesehen. Diese Demonstrationen gegen die AfD waren größer als die Demonstrationen in Deutschland gegen die Notstandsgesetze, größer als die gegen den Vietnamkrieg, gegen die Nato-»Nachrüstung«, gegen den Irakkrieg, und sie können sich messen mit jenen, die den Zusammenbruch der DDR begleitet haben. Schon vor den Demonstrationen hatten mehr als 400.000 eine Petition für das Verbot der AfD Landesverbände in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen unterzeichnet.
Der Adlon-Plan
Was passiert da? Die Wucht dieser neuen Bewegung wird gut durch die Kräfteverhältnisse zwischen den neuen Antifaschismus und dem herkömmlichen linken Antifaschismus symbolisiert. In Dresden brachte ersterer 40.000 auf die Straße, letzterer 600!
Auslöser ist das Geheimtreffen von CDU-Vertretern aus der Werte-Union und führenden AfDlern, mittelständischen Unternehmern, einem Verfassungsjuristen, der die AfD berät und vertritt mit Martin Sellner, dem Ideologen und Strategen der Identitären Bewegung aus Österreich am 25.11.2023 im Gästehaus »Adlon« bei Potsdam, das am 10.01.2024 öffentlich bekannt wurde. Die zwei Dutzend Teilnehmer:innen diskutieren die Machbarkeit und die Etappen eines von Sellner vorgelegten Planes, alle Migrant:innen und die Kinder von Migrant:innen, unabhängig davon, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, nach Afrika zu deportieren, sobald die AfD an die Macht kommen sollte. Politische Gegner:innen ohne Migrationshintergrund sollen ebenfalls vertrieben werden. So wie bisher die Grenzen des Sagbaren von den Neonazis verschoben wird, sollen nach deren legaler Regierungsbeteiligung die Grenzen des Machbaren Schritt für Schritt verschoben werden.
Das Endziel ähnelt dem Madagaskar-Plan der Nazis, der sich als undurchführbar erwies und durch den Plan der Wannseekonferenz ersetzt wurde, 11 Millionen europäische Juden zu ermorden. Dieser Adlon-Plan der Neonazis von der AfD richtet sich gegen die doppelte Anzahl. Über 20 Millionen Deutsche und in Deutschland lebende Menschen sind betroffen! Hiergegen richtet sich die neue Empörung. Und das mit Recht.
Der Adlon-Plan hat Menschen alarmiert, die bislang dem Treiben der AfD zugesehen haben. Sie beginnen vielleicht zu verstehen, dass der Versuch ihrer politischen Führer:innen, der AfD mit eigener rassistischer Demagogie das Wasser abzugraben, ein Spiel mit dem Feuer ist, das nur die AfD stärkt und sie in ihren Adlon-Fantasien bestärkt. Deshalb appellieren diese Demonstrationen an CDU, SPD und Grüne: Hört auf damit!
Der Islam gehört zu Deutschland
Auf der Kundgebung in Hannover am 20.01. 2024 gegen den Adlon-Plan mit 35.000 Teilnehmern sprachen der SPD-Ministerpräsident, der Grüne Oberbürgermeister, die DGB-Vorsitzende, ein Kirchen- und ein Wirtschaftsvertreter sowie der Ex-Bundespräsident Christian Wulff. Letzterer erinnerte an seine Parole: »Der Islam gehört zu Deutschland« und fuhr fort, er habe immer hinzugefügt, dass die Zuwanderer sich an die hiesigen Verhältnisse anzupassen hätten. Erst an dieser Stelle wurde er von heftigem Beifall unterbrochen. An dieser Episode lässt sich erkennen, dass die Anti-AfD-Bewegung nach Potsdam ihre neue gewaltige Breite aus der bürgerlichen, grünen und sozialdemokratischen Mitte gewinnt, die nichts gegen eine restriktive Ausländer- und Asylpolitik hat, die aber erkennt, dass der Adlon-Plan die Gefahr heftiger Konflikte, wenn nicht gar bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen heraufbeschwört.
Dieser neue Antifaschismus hat nichts gegen eine restriktive Einwanderungspolitik oder konsequente Abschiebungen. Aber er hat etwas gegen eine rassistische Politik, in der der neue Antirassismus keinen Nutzen, keine Zweckmäßigkeit erkennen kann. Der neue Antifaschismus hat etwas gegen einen Rassismus um des Rassismus willen, wie er dem Adlon-Plan zugrunde liegt, ein Rassismus, der auch den ideologischen Kern der AfD-Führung ausmacht und wie er den der NSDAP-Führung ausgemacht hat.
Dieser neue Antirassismus ist ein deutsches Phänomen und ein positiver Reflex auf den deutschen Holocaust! 66 Prozent der neuen Antifaschistinnen und Antifaschisten haben zu ersten Mal gegen Rechts demonstriert. Sie verfügen über überdurchschnittliche Bildung. Mehr als die damals bevorstehenden Landtagswahlen, die AfD-Umfragewerte und Rechtsextremismus im Allgemeinen ist es das »Geheimtreffen«, also der Adlon-Plan, der die Teilnehmer:innen »sehr« motiviert hat, nämlich zu 75 Prozent!
Sie wollen ein Zeichen setzen (84 Prozent) bzw. Aufmerksamkeit erzeugen (94 Prozent). Aber nur 36 Prozent glauben »ziemlich« oder »sehr daran«, dass ihr Protest in der Lage sei, die »Politik zum Handeln zu bewegen«. Bei der letzten Bundestagswahl haben sie die Zweitstimme abgegeben für: Grüne (61 Prozent), SPD (18 Prozent), CDU und LINKE (je 8 Prozent) und sie ordnen sich selbst zu 26 Prozent bei der Mitte und zu 65 Prozent als mitte-links ein. (nach Marco Bitschnau, Sebastian Koos: Die schweigende Mehrheit auf der Straße?, ResearchGate)
Remigration und die Folgen
Unter den mehr als 20 Millionen Bürgern und Bürgerinnen mit »Migrationshintergrund« werden sich einige Millionen gegen ihre Deportation zur Wehr setzen, auch wenn der Adlon-Plan noch so clevere Abstufungen und Etappen der Verfolgung vorsieht, um sein Endziel zu verschleiern. Die Zeichen wurden bereits erkannt!
Marine Le Pen hat sich angesichts der explosiven Stimmung in den französischen Banlieues mit Millionen von Franzosen nordafrikanischer Herkunft vom Adlon-Plan, von Alice Weidel und der AfD distanziert. Dort würde eine Zustimmung zum Adlon-Plan unmittelbar Aufstände auslösen.
Man muss auch die zeitgleiche Gründung einer deutschen Partei mit türkisch-nationalistischem Programm, DAVA , in diesem Zusammenhang verstehen. Diese Partei will türkischstämmige Deutsche zur Verteidigung ihrer Rechte und zur Verteidigung ihrer muslimischen Identität auf deutschem Boden organisieren. Fühlt sich mein türkischer Nachbar und seine Familie hier wohler, weil der linke Antifaschismus das Recht auf eine muslimische Identität nie geschlossen respektiert, ja in seiner Mehrheit abgelehnt hat? Kopftuchverbot! Sind sie deshalb den Kundgebungen fern geblieben? Auch deshalb müssen wir fordern, dass die Vertreter:innen unserer migrantischen Nachbar:innen auf die Rednerpodien eingeladen werden.
AfD-Verbot jetzt!
Der Rassismus um des Rassismus willen geht dem neuen Antifaschismus zu weit. Dessen Protest für ein Verbot der AfD wird von mehreren Petitionen unterstützt, die bis zum 31. Januar 800.000, bzw. 475.000, bzw. 140.000 Unterschriften gesammelt haben. Und 1,6 Millionen fordern mit ihrer Unterschrift die Einschränkung oder Aufhebung von Höckes passivem Wahlrecht.
Ist die Forderung nach einem AfD-Verbot falsch? Ja, hören wir von links, weil »politische Überzeugungen sich nicht verbieten lassen.« Ein merkwürdiges Argument: Politische Überzeugungen lassen sich nicht verbieten, Okay. Aber was machen wir dann damit? Wollen wir erreichen, dass die Neonazis von ihren Überzeugungen ablassen? Wollen wir sie bekehren oder umerziehen? Wollte die erfolgreichste Anti-Nazi-Kampagne der jüngeren deutschen Geschichte, wollte »Dresden nazifrei« den Neonazis ihre politischen Überzeugungen verbieten? Oder wollte sie den Nazis den politischen Bewegungsspielraum nehmen, sie demoralisieren und zernieren, ihnen ihre Organisationsfähigkeit nehmen?
Eben weil Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist! Nichts anderes will die Forderung eines AfD-Verbots, wenn sie, wie die entsprechende Forderung in Griechenland, mit einer Aufklärungs- und Mobilisierungskampagne verbunden wird. Und deshalb müssen wir sie unterstützen!
Faschismus ist keine Meinung!
Richtig! Überzeugungen lassen und ließen sich nicht verbieten, auch nicht in Griechenland. Aber die bewaffnete Schlägertruppe, die SA der »Goldenen Morgenröte«, wurde verboten und ist von den Straßen verschwunden. Ihre Führer sitzen noch immer im Knast. Das ist ein großer Erfolg des antifaschistischen Kampfes, der bis heute nachwirkt. Und dieser Erfolg wurde nicht durch eine »falsche Hoffnung auf den Staat«, wie von links einer Verbotskampagne als zwangsläufig unterstellt, erreicht, sondern durch Streiks, die die Verbotskampagne und das Gerichtsverfahren begleiteten (vgl. Leandros Fischer: Nazis hassen nichts mehr, als enttarnt zu werden, Jacobin). Daraus lassen sich Lehren ziehen.
Aber Lehren lassen sich auch aus der deutschen Geschichte ziehen: Wie die italienischen Faschisten haben die Nazis die politischen und sozialen Organisationen der Arbeiterbewegung »verboten« und damit ihren Feind als politische Kraft ausgeschaltet. Der Historiker und Kampfgefährte Antonio Gramscis, Angelo Tasca, sagt dazu: »Alle faschistischen Maßnahmen sind darauf gerichtet: die Zerstörung der Organisationen und Institutionen der Arbeiterschaft, die Unterdrückung ihrer Demokratie und des gesamten politischen Lebens.« (Angelo Tasca, Nascita e Avvento del Fascismo, Firenze 1950:557) Eben darum geht es unter umgekehrten politischen Vorzeichen bei einer Kampagne um ein Verbot der AfD.
Wehret den Anfängen!
Das Bundesverfassungsgericht ist eine reaktionäre Institution. Man denke nur an den Kampf gegen das Abtreibungsverbot, der immer auf der Straße gegen dieses Gericht geführt werden musste, um ihm nur abzutrotzen, dass die Abtreibung unter bestimmten Umständen wenigstens straffrei, wenngleich verboten bleibt. Das Verbot der Sozialistischen Reichspartei, der ersten faschistischen Partei Nachkriegsdeutschlands, durch dieses Gericht kam wohl nur zustande, um das folgende KPD-Verbot nicht in ein noch schieferes Licht zu rücken. Beim KPD-Verbot wurde auch das Kriterium der politischen Einflusslosigkeit nicht angewendet, mit dem dann später das Verbot der NPD abgelehnt wurde.
Das Gericht verspricht, eine verfassungsfeindliche Partei erst zu verbieten, wenn sie in die Nähe der Machtergreifung kommt und alles zu spät sein dürfte. Mit dem Argument, erst aktiv werden zu wollen, wenn die Machtergreifung nahe ist, wird die wichtigste Erfahrung aus den schrecklichen zwölf Jahren geleugnet: »Wehret den Anfängen!«
Ob das Bundesverfassungsgericht an seiner Tradition festhält, rechte Parteien in ihrer Entwicklung nicht zu stören, ist nicht ausgemacht. Vielleicht ist es ja so klug wie der neue antifaschistische Widerstand und erkennt die Gefahr. Hinweise darauf gibt es: die Parteigründungen Sahra Wagenknechts und des vormaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, der in diesem Amt die AfD beraten und beschützt hat und als Vorsitzender der Werteunion die reaktionärsten Elemente der CDU organisiert.
Wagenknecht und Maaßen sind so gut vernetzt, dass sie das Gras wachsen hören können. Insbesondere Maaßens hastige Parteigründung macht nur Sinn, wenn sie bei einem Verbot der AfD als deren Nachfolgepartei die Wählerstimmen der AfD erbt. Aber um sie zu erben, kann er kein AfD-Verbot fordern. Denn das würde ihm diese Wählerschaft nicht verzeihen. In einem ähnlichen Dilemma steckt Wagenknecht. Eigentlich sind viele Menschen des neuen Antifaschismus ihr Wählerpotential. Aber zugleich kann sie darauf hoffen, eine verbotene AfD zu beerben. Nach einigem Zögern hat sie sich der Meinung angeschlossen, dass man politische Überzeugungen nicht verbieten kann, um bei der AfD-Klientel zu punkten, nicht aber beim neuen Antifaschismus.
Brandmauer hoch genug?
Die Forderung nach einem AfD-Verbot wird in der neuen Bewegung überhaupt nur auf selbst gemalten Pappschildern, nicht auf den Transparenten der teilnehmenden Organisationen oder in deren Redebeiträgen vertreten. Bei der CDU war die Sache bisher klar. Sie ging davon aus, dass sie früher oder später um eine Zusammenarbeit mit der AfD in den Ländern und im Bund, wie sie sie schon jetzt in den Kommunen und im Europaparlament praktiziert, nicht herumkommt. Sie hat die AfD akzeptiert. Das war die Position von Merz. Die neue antifaschistische Bewegung führt auch zu neuen Überlegungen in der CDU. Denn ein Verbot der AfD könnte ja das Straußsche Ideal wieder Wirklichkeit werden lassen, wonach es keine Partei rechts von der CDU/CSU geben soll.
Andererseits erschwert die neue antifaschistische Bewegung eine Zusammenarbeit mit der AfD, und Merz flirtet mit den Grünen, die gestern noch sein Hauptfeind waren. Aber die SPD, die Grünen, DIE LINKE? Warum äußern die sich nicht entschieden? Mit ihrem Gerede, wonach es der neuen antifaschistischen Bewegung um die Demokratie gehe, verfälschen sie das Motiv dieser Bewegung. Statt eine Kampagne gegen den eliminatorischen Rassismus der AfD zu entfachen, sollen Wählerstimmen für diese parlamentarischen Parteien mobilisiert werden.
Wie dem auch sei: Wehret den Anfängen! Wir müssen die Gewerkschaften daran erinnern, dass ihre Mitglieder die ersten waren, die in den noch improvisierten KZs gefoltert und ermordet wurden und dass ihre Organisationen sich kampflos den Nazis ergeben haben. Das zu verhindern ist diesmal noch möglich. Und wenn die Gewerkschaften das verhindern wollen, dann sollten sie jetzt, wo es noch möglich ist, die Kampagne um ein AfD-Verbot mit Kundgebungen, Demonstrationen und vor allem mit Warnstreiks unterstützen. Vorbild Griechenland!
Machtergreifung: Alles übertrieben?
»Alles übertrieben« heißt es dann. Denn »es droht keine faschistische Machtübernahme«, weil die AfD noch keine SA, noch keine bewaffnete Bande in den Kampf führen könne. Das sehe man doch an der FPÖ in Österreich und den Fratelli in Italien. Blicken wir auf Österreich, genauer, auf die zweite Koalition zwischen FPÖ und ÖVP ab 2017: Da hatte die FPÖ als Juniorpartner in einer Koalitionsregierung mit der konservativen ÖVP das Innenministerium und das Ministerium für Landesverteidigung mit entschiedenen faschistischen Kadern besetzt. Und diese begannen mit dem Umbau des Staates, der Einschleusung von Nazi-Kadern in Geheimdienst und Polizei.
Die Inserate, um über 4.000 neue Polizist:innen zu rekrutieren, wurden auf rechtsextremen Websites platziert, darunter der des Führers der Identitären Bewegung, Martin Sellner, des Adlon-Strategen. Ein Genosse, der das damals aus der Nähe beobachtet hat, sagt zu dem Argument »es ist noch keine parteieigene Terrorbande da«: »Es ist ebenso denkbar, dass die zukünftige SS – also eine den Faschisten völlig loyale Polizeitruppe – nicht von außen in den Staatsapparat kommt, sondern von innen entsteht.« (David Albrich: Faschismus in der Regierung, Wien 2018:10)
Die Lage ist brandgefährlich. Die AfD befindet sich, was Wählerstimmen angeht, in der Position der NSDAP vom September 1930. Wer die Bedrohung durch eine faschistische Machtübernahme von der Existenz einer SA abhängig macht, muss sich fragen, wozu diese SA da war und ob sie heute ebenso gebraucht wird. Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man versteht, was Faschismus ist.
Höcke: »Noch nicht!«
Im übrigen ist das, was die FPÖ in Österreich versucht hat, auf Punkt und Komma das, was die Nazis in deutschen Ländern, vor der endgültigen Machtergreifung im Reich, als Juniorpartner reaktionärer Parteien auch schon gemacht haben: Innen- und Bildungsressort besetzen, eigene Kader einschleusen, die Politik in diesen Ressorts nach rechts drehen, die Inkonsequenz des konservativen Koalitionspartner bloßstellen, um auf dessen Kosten weiter zu wachsen. Das ist noch nicht die faschistische Diktatur, aber schon schlimm genug, nämlich die erste Etappe zum rassistischen Bürgerkrieg, wie sie im Adlon vorgestellt wurde.
Wer sich damit tröstet, dass es noch keine SA gebe, der übersieht auch, dass die Neonazis schlecht beraten wären, würden sie jetzt eine mehr oder weniger bewaffnete Truppe aufstellen. »Noch nicht«, wie Höcke gerne sagt, wenn er auf die Fortentwicklung seiner Partei angesprochen wird. Wer so argumentiert, der übersieht zweitens, dass es eine SA im Wartestand in Form des faschistischen Untergrunds längst gibt, ebenso wie ein weites Rekrutierungsfeld für eine SA bei Pegida und ähnlichen Vorfeldorganisationen der AfD.
Und wo sind eigentlich die bei Polizei, Spezialeinheiten und Bundeswehr dauernd verschwindenden Waffen? Was schließen wir daraus, dass Staatsdiener, die Waffen im Untergrund verschwinden lassen, amnestiert werden?
Strategie der alten und neuen Nazis
Wer sich damit tröstet, dass es noch keine SA gebe, der hat die Strategie der Nazis – alt und neu – nicht verstanden. Nach dem gescheiterten Marsch auf die Feldherrenhalle hat Hitler eben diese Geringschätzung von Wahlerfolgen aufgegeben und in »Mein Kampf« die neue Linie niedergelegt, vermittels von Wahlerfolgen ein politischer Faktor zu werden, der nicht übergangen werden kann. Ohne die Wahlerfolge der NSDAP wäre Hitler nicht Reichskanzler geworden. Und ohne Hitlers Reichskanzlerschaft hätte es keinen Staatsstreich im Wege des Ermächtigungsgesetzes und keine Nazi-Diktatur gegeben. Mit einem einseitigen Blick auf die faschistische Schläger- und Mörderbande lenkt man geradezu von der Gefahr ab, die sich aus Wahlerfolgen der Nazis ergaben und aus den Wahlerfolgen der AfD ergeben werden.
Im Übrigen war die – bewaffnete – faschistische Bewegung nicht nur dazu da, die Arbeiterbewegung zu terrorisieren. Sie sollte verhindern und hat verhindert, dass die Enthauptung der Arbeiterbewegung durch eine Militärdiktatur vorgenommen wurde, die die Nazis von der Macht ferngehalten hätte. Die Reichswehrführung hat diese Möglichkeit durchgespielt mit dem Ergebnis, dass im Falle eines Militärputsches die Nazis dagegen aufstehen würden und große Teile der Offiziere und Mannschaften der Reichswehr – einer Berufsarmee – zu den Nazis überlaufen würden. Der Militärputsch war deshalb keine Option.
Die Nazis haben immer den alten Eliten, Kapitalisten und Militärführung, gedient und sie zugleich mit ihren eigenen bewaffneten Truppen in Schach gehalten, um in allen Fragen das letzte Wort zu haben, erst mit der SA, danach mit der Waffen-SS. Das ist der Kern des faschistischen Doppelstaates und die Voraussetzung für die halsbrecherische Blitzkriegsstrategie wie für den Holocaust.
Machtergreifung? Wo stehen wir?
Ohne Weltwirtschaftskrise kein Aufstieg der Nazis und kein Faschismus. Die Weltwirtschaftskrise hat erstens die Wahlerfolge der Nazis ausgelöst von 2,6 Prozent vor der Weltwirtschaftskrise auf 18,3 Prozent 1930 bis 37,3 Prozent im Juli 1932 indem sie am Ende die Stimmen aller konservativen Parteien, außer denen für den politischen Katholizismus, auf sich vereinigte. Zweitens veränderte der Zusammenbruch der Weltwirtschaft die Ziele der Großindustrie. Hatte zuvor nur eine Minderheit der Schwerindustrie für einen neuen imperialistischen Krieg plädiert, so gewann diese Perspektive nun an Boden. Ihr stand die Arbeiterschaft entgegen, die erneut den Blutzoll würde bezahlen müssen. Zu lebendig war noch die Erinnerung an das Gemetzel des Ersten Weltkrieges in ihren Reihen. Sollte ein neuer Krieg vorbereitet werden, musste zuvor die Arbeiterklasse ihrer politischen Handlungsfähigkeit beraubt werden. Das hieß: Zerschlagung ihrer Organisationen, Verfolgung, Wegsperren, Ermordung, Vertreibung ihrer Kader. So wie die Dinge lagen, ging das nicht ohne die Nazis.
Die jüngste Finanzkrise ist anders ausgegangen. Der Casino-Kapitalismus wurde gerettet. Der shareholder value dominiert, die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten sinken, die Reichen werden immer reicher, weil nicht besteuert, der Staat wird so verarmt. Steuerpolitik und Schuldenbremse sorgen dafür, dass dies so bleibt. Das bisschen, was, gemessen an der Aufgabe, gegen den Klimawandel gemacht wird, kostet viel und wird den kleinen Leuten aufgebürdet, ebenso die Kosten für ein militärisch stärkeres Deutschland. Da braucht es keinen faschistischen Staatsstreich. Da muss man keinen Höcke die Macht ergreifen lassen. Im Gegenteil, eine an den Wahlurnen erfolgreiche faschistische Partei, eine der Voraussetzungen für den Staatsstreich, stört eher, wie man an den Reaktionen aus Unternehmerkreisen sieht. In solchen Zeiten scheint eine kleine, scheinbar bedeutungslose faschistische Partei im Wartestand, wie sie das Verfassungsgericht bisher vorhalten will, auf den ersten Blick viel sinnvoller.
Kampf gegen den Neofaschismus
Also keine Gefahr? Was spricht eigentlich gegen eine große faschistische Partei, die sich, bezogen auf den Staatsstreich und die Errichtung der faschistischen Diktatur, zurückhält, bis sie wirklich benötigt und gerufen wird? Und bis dahin ihre Ziele im Rahmen der parlamentarischen Demokratie verfolgt? Ist das die Blaupause für Le Pen, Wilders, Meloni und Höcke?
Was hier zur Debatte steht, ist der unmittelbare Abwehrkampf gegen den Vormarsch des Neofaschismus. Wenn die Sozialist:innen in Deutschland in diesem Kampf in die Offensive kommen sollen, dann müssen wir lernen, eine Aktionseinheit mit dem neuen Antirassismus einzugehen. Wenn wir weiter zuschauen, wie alle Parteien den neuen Antirassismus in Deutschland in eine sterile »Wählt-besser-uns-Initiative« verbiegen, dann vergeben wir eine historische Chance.
Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0 1.0 UNIVERSAL
Schlagwörter: AfD, Antifaschismus, Faschismus