Die etablierten Parteien in Frankreich sind am Ende. Lange sah im Rennen um die Präsidentschaft alles nach einem Duell zwischen der extremen Rechten um Marine Le Pen und der extremen Mitte um Emmanuel Macron aus. Doch dann begann Jean-Luc Mélenchon das Feld von links aufzumischen.
Was steckt hinter dem Aufstieg Mélenchons und wofür steht er? Ist Macron ein kleineres Übel? Und was passiert, sollte Marine Le Pen Präsidentin werden? Suzi Weissman sprach kurz vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl mit dem Aktivisten und Autoren Sebastian Budgen über eine Republik im Ausnahmezustand. Er erklärt, warum an diesem Punkt der größte Optimismus genauso gerechtfertigt ist wie der größte Pessimismus
Suzi Weissman: Was ist der politische und ökonomische Hintergrund, vor dem diese Präsidentschaftswahl stattfindet?
Sebastian Budgen: Politisch befindet sich Frankreich in einer Krise — und zwar einer tiefen. Die beiden »historischen Blöcke«, die sich in Frankreich seit Beginn der Fünften Republik an der Macht abgewechselt haben, — die Mitte-rechts Parteien und die Parti socialiste (PS), die manchmal auch Allianzen mit Parteien links von ihr, wie den Kommunisten oder Grünen eingegangen ist, — sind am zerfallen. Es ist gut möglich, dass als Resultat dieser Wahl nicht mehr viel von den beiden traditionellen Parteien übrig bleiben wird.
Dieses Vakuum hat neue Kräfte nach oben gebracht und alte Kräfte neu belebt, die nun auf den Plan treten. Die außerhalb Frankreichs bekannteste dieser Kräfte ist natürlich der »Front National« (FN), eine rechtsradikale Partei, die zwar ihre Sprache verändert hat und versucht ein anderes Image zu bekommen, die aber immer noch rechtsradikal ist. Die Kandidatin des FN, Marine Le Pen, hat momentan neben Emmanuel Macron die höchsten Umfragewerte für die erste Runde der Präsidentschaftswahl. Es gibt zwei Wahlrunden: die erste am 23. April und dann die Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten im Mai. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Le Pen in die Stichwahl kommt.
Auch in vielen anderen Ländern sind die etablierten Parteien unter Druck geraten, während neue politische Kräfte, wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien rasant aufstiegen. Für Frankreich ist das eine vollkommen neue Situation?
Ja, absolut. Frankreich holt momentan eine Entwicklung nach, die einige südeuropäische Länder bereits durchschritten haben. Es erlebt gerade den völligen Zusammenbruch der traditionellen Zentrumsparteien, wodurch die Parteien von rechts- und links-außen neue Räume haben, um zu wachsen und zu organiseren.
Das Vakuum wird einerseits vom Front National gefüllt, andererseits aber auch von links. Die Linke ist zwar wesentlich fragmentierter als die Rechte, allerdings hat die Kampagne von Jean-Luc Mélenchon, der links von der PS steht, in den letzten Wochen massiv an Dynamik gewonnen.
Es ist eine politische Krise und offensichtlich steht diese auch im Zusammenhang mit dem sehr niedrigem Wirtschaftswachstum, hoher Arbeitslosigkeit, der Kürzungspolitik und mit den großen sozialen Konflikten über die neoliberale Reform der Arbeitsmarktgesetzgebung. Es ist aber auch eine moralische Krise oder eine Krise der politischen Legitimation. Die große Mehrheit der Bevölkerung empfindet ein starkes Misstrauen gegenüber der gesamten politischen Klasse. Das macht es auch höchst unsicher zu prognostizieren, wen die Menschen letztendlich wählen werden. Ein Drittel der Wählerinnen und Wähler gibt an, immer noch nicht entschieden zu haben, wen sie wählen wollen. Das ist ungewöhnlich für französische Verhältnisse so kurz vor der Wahl. Es ist auch gut möglich, dass viele Wähler ganz zuhause bleiben.
Wir haben es also mit einer vierfachen Krise zu tun: einer politischen Krise, einer sozialen Krise, einer ökonomischen Krise und einer Art moralischen Krise.
Die spektakulären Streiks, die Blockaden, Demonstrationen, die Nuit Debout-Bewegung, all das ist erst ein Jahr her. Was ist seither passiert? Hat sich die Stimmung durch die Terroranschläge so verändert oder durch die verschlechterte wirtschaftliche Lage oder den Aufstieg von Populisten in anderen Ländern?
Die Terroranschläge fanden bereits vor den Protesten vergangenes Jahr statt — der Angriff auf Charlie Hebdo im Januar und dann die großen Anschläge im November 2015. Das war noch vor den Protesten im Frühjahr gegen die Arbeitsmarktreform. Seither hat sich die politische Situation extrem polarisiert — in Richtung »Law and Order« und Notstandsgesetze, aber glücklicherweise auch in Richtung soziale Kämpfe.
Das alles geschah im Kontext der Präsidentschaft von François Hollande, der mit einem gewissen Grad an Enthusiasmus gewählt worden war — oder zumindest mit einer gewissen Erleichterung über die Abwahl Sarkozys. Von der Regierung unter Präsident Hollande erwartete niemand viele große Reformen, aber sie behauptete, sie würde der Macht der Finanzindustrie Grenzen setzen, für mehr soziale Gleichheit kämpfen und sie versprach generell eine vernünftigere und weniger peinliche Regierung darzustellen als unter Sarkozy.
So ziemlich das Gegenteil ist eingetreten: Die Hollande-Regierung hat sich als vollkommen inkompetent entpuppt und anstatt ihre sozialen Versprechungen zu halten, hat sie ziemlich aggressiv neoliberale Reformen durchgesetzt, die eine rechte Regierung niemals hätte durchsetzen können. Zudem hat sie sich an zahlreichen Kriegen und militärischen Interventionen in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten beteiligt.
Es gibt in Frankreich eine weitreichende Desillusion gegenüber dem gesamten politischen Prozess. Die radikale Rechte ist stetig gewachsen — es gab Hochs und Tiefs, aber der Trend ging die letzten fünfzehn Jahre klar nach oben. Das ist keine Überraschung. Es ist ganz klar ein Ausdruck des Protests gegen das, was als »das Establishment« angesehen wird, vergleichbar mit dem, was in den USA passiert ist.
Wie würdest du Marine Le Pens politische Haltung beschreiben? Sie scheint ja beinahe ein Programm für die Arbeiterklasse zu vertreten — ein Programm, das sich gegen Austerität richtet und den Sozialstaat unterstützt. Das ist ungewöhnlich für die neuen Rechtspopulisten, wie wir sie an vielen Orten momentan erleben.
In den 1980er Jahren, unter der Führung von Marine Le Pens Vater, war der Front National sehr pro-Reagan, neoliberal und gegen die Gewerkschaften. All das stand in Einklang mit der traditionellen sozialen Basis des FN im Kleinbürgertum, die an die Befreiung des Marktes durch einen Rückzug des Staates glaubt. Diese Gruppe bildet vor allem im Süden Frankreichs noch heute die soziale Basis des Front National. Unter anderem ist sie dort stark, weil dort viele weiße Franzosen leben, die nach der Unabhängigkeit Algeriens aus Nordafrika geflohen sind. Viele von ihnen sind nach wie vor politisch rechts, insbesondere in der Migrationsfrage.
Heute hat sich der Diskurs vollkommen verschoben. Der heutige Front National unter Marine Le Pen ist für den Sozialstaat, gegen Kürzungspolitik und gegen das was sie »Ultraliberalismus« und »Globalismus« nennt. Das hat es dem FN ermöglicht, Stimmen in traditionellen Arbeitergegenden im Norden Frankreichs zu bekommen. Vor allem können sie heute die Stimmen von jenen Arbeitern auf sich vereinen, die schon lange eher rechts gewählt haben. Allerdings haben sie auch viele Wählerinnen und Wähler gewinnen können, die früher links stimmten. Ein großer Teil der Bevölkerung in klassischen Arbeitergegenden geht überhaupt nicht wählen. Diejenigen, die es doch tun, wählen aber überwiegend Le Pen und den Front National.
Und die Verteidigung des Sozialstaats koppelt Le Pen mit einer harten Haltung gegen Migrantinnen und Migranten?
Genau. Le Pen verbindet die Vorstellung, Frankreich müsse sich vor der Globalisierung, dem »Ultraliberalismus« und der globalen Elite schützen, den Wohlfahrtsstaat verteidigen und einen protektionistischen und nationalistischen Weg einschlagen mit der Forderung die Migration radikal zu begrenzen. Hinzu kommt die Haltung, dass das Problem nicht nur die Migration, sondern »der Islam« und »die Muslime« seien, die sich angeblich nicht in die französische Gesellschaft integrieren wollen. All dies wird auf eine kluge Weise miteinander verbunden und als Programm für die »einfachen Leute« präsentiert.
Wie sieht es aus mit der Forderung nach einem »Frexit«, also einem Ausstiegs Frankreich aus der Eurozone oder sogar der gesamten EU? War das ein wichtiges Thema im Wahlkampf?
Le Pen sagt, wenn sie gewinnt, wird sie ein Referendum über den Ausstieg aus dem Euro und wahrscheinlich auch der EU abhalten und sie behauptet, das Resultat zu akzeptieren, wie immer es aussehen wird. Der Teil ihrer Wählerbasis aus der Arbeiterklasse steht einem Frexit größtenteils nicht ablehnend gegenüber, der kleinbürgerliche Teil hingegen hält das für zu »links« und ist besorgt, dass ein Frexit den französischen Kapitalismus erschüttern würde. Daher ist das ein Thema, das Le Pen nicht durchgehend nach vorne stellt, aber es bleibt einer ihrer zentralen Programmpunkte.
Was ist mit Fillion passiert? Und wofür steht Macron?
François Fillon war der Überraschungsgewinner bei den Vorwahlen der Mitte-rechts Partei »Les Républicains«. Die meisten hatten eine Stichwahl zwischen dem ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Alain Juppé vorhergesagt, der unter Jacques Chirac Premierminister war, und ein eher traditionelles, gemäßigtes Mitte-rechts Image hat. Letztendlich hat keiner von ihnen gewonnen und der dritte Kandidat im Rennen, François Fillion, hat sich vollkommen unerwartet mit einem extrem radikalen Programm durchgesetzt, das massive Einschnitte im Sozialstaat und einen drastischen Umbau der Arbeitsgesetze vorsieht. Ein großer Erfolg für die radikalen Neoliberalen.
Doch nun ist Fillion, aufgrund einer Reihe von Skandalen, in die er verwickelt ist, in den Umfragen deutlich zurückgefallen. Sein gesamtes Image, das ihn von Sarkozy unterschied, beruhte darauf, dass er als ein Politiker der Rechten galt, der seriös und ehrlich sei — jemand der das Ansehen hatte, die traditionelle französische Bourgeoisie angemessen zu repräsentieren. Seine Skandale haben ihn jedoch vollkommen diskreditiert.
Allerdings war schon sein ursprüngliches Programm nicht wirklich erfolgversprechend für einen Sieg bei der Präsidentschaftswahl, da Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat und die sozialen Sicherungssysteme in Frankreich generell keine Begeisterung auslösen.
Doch auch auf der anderen Seite des traditionellen Parteienspektrums, bei der Parti socialiste, kandidiert ein Überraschungsgewinner der Vorwahlen, der mittlerweile nahezu chancenlos ist. Benoît Hamon kommt aus dem linken Flügel der PS und konnte sich innerhalb seiner Partei unerwartet gegenüber dem ehemaligen Premierminister Manuel Valls durchsetzen. Hamon steht innerhalb der PS weit links und wurde nach seinem Sieg bei den Vorwahlen schnell von der eigenen Parteiführung fallengelassen. Es ist davon auszugehen, dass diese mehrheitlich nun auf Emmanuel Macron setzt.
In den Umfragen kommt neben Le Pen nur Emmanuel Macron konstant über 20 Prozent. Was verfolgt er für ein Programm?
Macron ist eine Art leere Hülle. Aber als solche ist er ein guter Ausdruck des Vakuums in der französischen Politik, das die beiden traditionellen Parteien hinterlassen haben. Mit 39 Jahren ist Macron ein ausgesprochen junger Kandidat. Er hat Philosophie studiert und war dann der Assistent des französischen Philosophen Paul Ricœur. Nachdem er anschließend die Eliteschule der französischen Verwaltungsbeamten ENA besuchte, ging er ins Investmentbanking und arbeitete ein paar Jahre bei der Rothschild Bank, wo er viel Geld machte. Dann wurde er Berater von Hollande, tat sich mit Neoliberalen wie Jacques Attali zusammen und wurde schließlich Wirtschaftsminister. Vor ein paar Monaten trat er zurück.
Macron ist ein ziemlich glatter Typ. Er erinnert mich an den jungen Tony Blair: einigermaßen attraktiv, wirkt nicht aggressiv oder so als ob er wie einige andere Kandidaten tief gehende persönliche Probleme hätte. Aber sein Diskurs ist vollkommen leer. Er ist ganz klar ein Neoliberaler. Er steht offen ein für neoliberale Reformen. Er behauptet weder rechts noch links zu sein, will aber »gute Ideen« von beiden Seiten aufnehmen. Er erinnert mich an einen Roboter, der in irgendeinem Labor entwickelt wurde, um wie ein angenehmes menschliches Wesen zu wirken, aber irgendetwas stimmt nicht.
In der ersten Fernsehdebatte sagte er ein paar bedeutungsschwangere Sätze, aber sie hatten keinerlei Inhalt. Macron ist allgemein vollkommen inhaltsleer — außer wenn er über die neoliberale Wirtschaftspolitik spricht, die er voranbringen will. Er hat eine starke Verbundenheit mit der Europäischen Union und will sämtliche Zwänge, welche die EU für die staatliche Ausgabenpolitik vorsieht, beibehalten.
Das klingt als wäre er der Typ von Politiker, den wir dieser Tage häufig beobachten können — eine Art »leerer Anzug«. Die Financial Times sagt hingegen, Macron stehe für ein »nordisches Wirtschaftsmodell« und wolle moderate Ausgabenkürzungen mit einem Investitionspaket, Steuersenkungen und einem Ausbau des Wohlfahrtsstaates verbinden. Du bezeichnest ihn hingegen als klar neoliberal.
Und genau das ist er auch — mit einem »nordischen Modell« skandinavischer Sozialdemokratie hat er nichts zu tun, was auch immer die Financial Times sagt. Fillion ist der neoliberale Kandidat, der die Zähne fletscht, Macron ist der neoliberale Kandidat mit dem Lächeln.
Die Kürzungen und Reformen, die Macron vorschlägt sind nicht so weitreichend und radikal wie jene, die Fillion ankündigt. Macron behauptet im Gegenzug werde es gewisse Kompensationen geben, aber es bleibt neoliberale Reformpolitik. Niemand hat daran einen Zweifel.
Steht Macron deshalb so gut in den Umfragen da, weil die Menschen Angst vor den anderen beiden Extremen haben? Warum ist er so populär?
Zuallererst, weil er kein Politiker ist. Er ist sozusagen der Nichtpolitiker unter den Politikern. Er wurde niemals in irgendein Amt gewählt, seine Mitgliedschaft in der PS war nur von extrem kurzer Dauer — nahezu flüchtig könnte man sagen. Er wurde nie auf Parteitreffen gesichtet und nahm nie auf eine ernste Art und Weise am inneren Parteileben teil. Er kommt »aus der Zivilgesellschaft«. Seine Unterstützer sehen in ihm einen unverbrauchten, frischen Kandidaten — jemand, dem nicht der Makel der Inkompetenz und Korruption der traditionellen politischen Klasse anhaftet.
Zweitens denken diejenigen, die neoliberale Reformen befürworten, dass Macron möglicherweise den Widerstand dagegen eher wird brechen können als die traditionellen Parteien der Rechten oder der Linken. Er verspricht sein Kabinett mit Unternehmern, Menschen aus der Zivilgesellschaft und Repräsentanten der Rechten wie der Linken zu besetzen.
Er ist der feuchte Traum all jener, die das französische Parteiensystem sprengen und die links-rechts Unterscheidung loswerden wollen, um in Richtung einer Art Konsenspolitik der »extremen Mitte« ohne größeren Einfluss der politischen Parteien zu streben.
Macrons Erfolg erzeugt derzeit noch mehr Erfolg. Er inszeniert sich als die neue Kraft, die das politische Vakuum füllt, das durch die Korruption des linken wie des rechten Pols entstanden ist. Die Dinge könnten sich momentan ändern, aber lange erschien Macron als derjenige, der mit hoher Wahrscheinlichkeit Le Pen in der Stichwahl gegenüberstehen wird. Das gab dem Argument Auftrieb, dass eine Stimme für Hamon, Mélenchon oder irgendeinen anderen Kandidaten eine verschwendete Stimme wäre, da die zentrale Herausforderung darin bestehe Marine Le Pen aus dem Élysée Palast heraus zu halten. Es ist also auch eine Art selbsterfüllende Prophezeiung am Werk.
Lass uns über die Herausforderung für die Linke sprechen. Wo steht Mélenchon politisch und wie hat er sich gegenüber der Welle von Protesten im letzten Jahr positioniert?
Jean-Luc Mélenchon war in seiner Jugend ein Trotzkist und ist in den 1970er Jahren der Parti socialiste beigetreten. Er wurde dann einer der jüngsten Senatoren der PS. Ursprünglich stand er François Mitterrand nahe und er sieht in Mitterrand noch heute eine politische Heldenfigur, aber innerhalb seiner Partei war er in den 1980er und 1990er Jahren klar im linken Flügel verortet und vertrat eine Minderheitenposition.
Der Bruch erfolgte für Mélenchon im Jahr 2005, während der Kampagne gegen den Europäischen Verfassungsvertrag — dieser sollte die Verfasstheit der Union auf eine neoliberale Ausrichtung festlegen, etwa durch die Betonung der freien und unbegrenzten Konkurrenz auf dem gemeinsamen europäischen Markt. Sowohl die Rechte als auch die PS befürworteten den Verfassungsvertrag. Die gesamte wirtschaftliche, politische und mediale Elite unterstützte die Kampagne für eine neoliberale EU-Verfassung. Doch die populäre Kampagne dagegen war am Ende siegreich.
Mélenchon war Teil dieser Kampagne und ich denke er begriff sie als Gelegenheit für eine Politik jenseits der Parti socialiste, in der er so viele Jahre gefangen war. Er verließ die PS ein paar Jahre später, um seine eigene Formation zu schaffen, die Parti de Gauche (PG), welche gemeinsam mit der Parti communiste français (PCF) und anderen politischen Kräften der Linken die Wahlplattform Front de gauche (Linksfront) gründete. Im Jahr 2012 kandidierte Mélenchon auf dieser Plattform bei der Präsidentschaftswahl und erzielte ein respektables Ergebnis von elf Prozent, etwa vier Millionen Stimmen.
Wie ist die französische Linke insgesamt aufgestellt?
Es gab in Frankreich bis letzten Sommer zwei Zusammenhänge der radikalen Linken. Einerseits die Front de gauche, welche als Wahlbündnis die PCF, die PG sowie eine Reihe ehemaliger Mitglieder der Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) und einiger anderer kleiner Gruppen vereinte. Und dann gab es noch die zahlreichen Gruppen der radikalen Linken außerhalb der Front de gauche, wie Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf), die NPA und so weiter. 2016 wurde die Front de gauche von Mélenchon jedoch zugunsten der für die Präsidentschaftskampagne 2017 geschaffenen Formation »La France Insoumise« (in deutsch etwa: »Das widerspenstige/unbeugsame Frankreich«) aufgelöst. France Insoumise erinnert eher an die spanische Podemos als an die Front de gauche.
Ist Mélenchon ein radikaler Linker, wie die Presse schreibt?
Bis Mitte der 1970er Jahre hatte Mélenchon mit keiner dieser Gruppierungen der radikalen Linken irgendetwas zu tun, weshalb er auch nicht wirklich als ein Kandidat der radikalen Linken beschrieben werden kann. Er selbst beschreibt sich als »republikanischer Sozialist« und identifiziert sich stark mit Mitterrand und der traditionellen linken Strömung innerhalb der Parti socialiste. Aber er ist ein interessanter Kandidat — ein extrem guter Redner, der sehr wortgewandt in politischen Debatten auftritt. Er hat auch einen gute Sinn für Humor und eine wesentlich größere kulturelle Ausstrahlungskraft als irgendein anderer der Kandidaten. Er bezeichnet sich als »Intelektueller« und er hat eine politische Vision, die wesentlich ambitionierter ist als bei irgendjemand anderem auf Seiten der Linken.
Es gibt eine Reihe von Punkten in seiner politischen Vision, die höchst problematisch sind, aber man kann nicht leugnen, dass es sich um ein ziemlich komplexes Programm zu wichtigen Fragen, wie Geopolitik, Ökologie oder der Verfassung handelt. Mélenchon will eine verfassungsgebende Versammlug einberufen, welche eine neue »Sechste Republik« gründen soll — eine neue Verfassungsordnung für Frankreich, die vollständig mit der »präsidialen Monarchie« brechen soll, die unter De Gaulle 1958 eingeführt wurde und die zutiefst zentralistisch, personenzentriert und undemokratisch ist. Stattdessen fordert Mélenchon ein parlamentarisches System, mit größerer demokratischer Kontrolle der Bevölkerung über die politischen Repräsentanten. Sobald das neue System durch ein Referendum beschlossen wäre, beteuert Mélenchon von seinem Amt als Präsident zurückzutreten. Sein Wahlprogramm ist wesentlich komplexer, durchdachter und überzeugender als das irgendeines der anderen Kandidaten.
Wie würdest du es im Detail charakterisieren?
Als links-sozialdemokratisch, aber als eine Form linker Sozialdemokratie, die fähig ist neue Themen aufzugreifen. Zum Beispiel hat Mélenchon beim Thema Ökologie mit dem lange in der Linken dominanten Glauben an ein grenzenloses Wachstum und eine stetig wachsende Produktivität gebrochen. Stattdessen propagiert er eine Idee, die er »ökologische Planung« nennt, welche linke Konzepte der wirtschaftlichen Planung mit der Umweltfrage in Verbindung bringt. Mélenchon sagt, nur durch Planung könne den ökologischen Gefahren auf eine systematische und realistische Weise begegnet werden. Er will in der Verfassung eine Selbstverpflichtung verankern, dass keine Ressourcen der Erde entnommen werden dürfen, die sich nicht selbst regenerieren.
Mélenchon hat auch einige Fragen aus der Genderpolitik in seiner Kampagne aufgegriffen. Er ist sehr aktiv und populär in den sozialen Medien vertreten und seine Begeisterung für neue Technologien hat ihn dazu veranlasst die Hologramm-Technik bei seinen Wahlkampfauftritten einzusetzen, wodurch er bei mehreren Massenveranstaltungen im ganzen Land gleichzeitig auftreten kann. Es handelt sich in gewisser Weise um traditionelle linke Sozialdemokratie, aber um eine linke Sozialdemokratie, die in der Lage ist sich zu erneuern — mit neuen Themen und neuen Formen der Kommunikation.
Mélenchon steht in den Umfragen mittlerweile bei etwa 20 Prozent. Woher kommt der plötzliche Erfolg?
Seine Kampagne ist extrem wirksam. Bei den politischen Debatten haben ihn alle Beobachter als den Sieger wahrgenommen — oder ihn zumindest gleich auf mit Le Pen gesehen. Die Art, wie er sich weigerte, wie die meisten anderen Kandidaten, seine auswendig gelernten Antworten einfach runterzubeten und wie er Scherze auf Kosten der anderen machte, war extrem effektiv. Es gibt im Moment eine richtige Dynamik in seiner Kampagne.
Dennoch gibt es auch wichtige Kritikpunkte an Mélenchon — sowohl an seiner Haltung zu zahlreichen politischen Fragen als auch an der Art und Weise seines Handelns als Politiker. Die Kampagne, die er zu dieser Präsidentschaftswahl führt, unterscheidet sich stark von der Kampagne im Jahr 2012 — zumindest in einem wichtigen Kriterium. Im Jahr 2012 führte er seine Kampagne unter dem Banner des Front de gauche. Mélenchon war der Präsidentschaftskandidat dieser Wahlfront. Für die Kampagne in diesem Jahr hat er mit France Insoumise eine komplett neue Organisation geschaffen. Er ist der Kandidat dieser beinahe strukturlosen Organisation. Die Kampagne 2017 wurde mit einem ziemlich anderen Stil geführt als noch 2012. Das ist nicht notwendigerweise alles schlecht, aber es gibt einige wesentliche Beschränkungen seiner Kampagne.
Eine weitere Kritik gegenüber Mélenchon betrifft seine längerfristige politische Perspektive. Er beschreibt sich selbst als »republikanischer Sozialist« und er nimmt diese Selbstzuschreibung sehr ernst. Er sieht in der Bewegung hinter sich und in der neuen Sechsten Republik, die er aufbauen will, eine Art Fortsetzung der französisch-republikanischen Tradition, die zurück auf die Französische Revolution geht. Sicherlich gibt es viele positive Elemente dieser Tradition, aber sie hat auch eine dunkle Seite — die Mitschuld am Kolonialismus, den Massakern und des Ausschlusses zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen.
Aber dafür steht doch nicht Mélenchon.
Nein, aber in Mélenchons politischem Denken gibt es eine Idealisierung der republikanischen Tradition, was dazu führt, dass er zu Fragen wie Rassismus und Religion sehr abstrakte universalistische Positionen einnimmt. Das scheint oberflächlich betrachtet erst einmal in Ordnung. Wenn man jedoch tiefer gräbt, bedeutet es tatsächlich eine vollständige Verweigerung Themen wie den grassierenden antimuslimischen Rassismus ernst zu nehmen. Mélenchon identifiziert sich sehr stark mit der Laïcité, dem staatlichen Säkularismus, von dem er behauptet, dieser unterscheide nicht zwischen der Katholischen Kirche, dem Islam und anderen Religionen. Aber es sind nicht Katholiken, die in Frankreich unter Unterdrückung leiden — es sind Muslime.
Es gibt ein ernstes Problem mit seiner störrischen Verweigerung die Islamfeindlichkeit und den antimuslimischen Rassismus ernst zu nehmen. Das unterscheidet sich deutlich davon, wie sich Mélenchon zu einer Reihe anderer Fragen verhalten hat — Ökologie, LGBTQ und vielen anderen Themen aus dem Spektrum, was einmal Neue Soziale Bewegungen genannt wurde. Beim Thema Islamfeindlichkeit verweigert er sich jedoch vollkommen.
Und dann ist da noch die Tatsache, dass er sich in jeder Hinsicht mit dem französischen Staat identifiziert. Er betrachtet den französischen Staat in seiner republikanischen Form als Verteidiger des Gemeinwohls der Menschheit. Auf philosophischer Ebene ist das eine Art Ausweitung des emanzipatorischen Anspruchs der Französischen Revolution, aber in der Realität übersetzt sich diese Vorstellung in eine Identifikation mit dem französischen Staat in seiner realen repressiven Gestalt. Daher äußert sich Mélenchon sehr schmeichelhaft über die Polizei und die französische Armee, einschließlich ihrer Rolle an verschiedenen Kriegsschauplätzen und Fronten, die während der Präsidentschaft Hollandes aufgemacht wurden. Mélenchons Diskurs über Frankreich als starke Macht, die sich behaupten müsse, hat immerhin die positive Seite, dass er sich unabhängig von den USA behaupten will und den Austritt Frankreichs aus der Nato fordert. Aber dann ist da immer noch die Identifikation mit dem, was im Grunde nichts anderes ist als das Vermächtnis des französischen Imperialismus.
Mélenchon ist sehr darauf bedacht sich nicht für die französischen Kolonialverbrechen zu entschuldigen. Er identifiziert sich nicht mit den französischen Kolonialisten, aber er will sich auch nicht für sie entschuldigen. Diese Identifikation mit dem französischen Staat, mit seiner Macht, seiner Fähigkeit sich auf der Weltbühne zu behaupten und so weiter ist wirklich problematisch, weil es bedeutet, dass er nicht in der Lage wäre eine unabhängige linke Außenpolitik zu entwickeln.
Wie positioniert sich Mélenchon zur Austeritätspolitik in der Eurozone?
Da hat er seit 2012 große Fortschritte gemacht. Nun nimmt er an zahlreichen Konferenzen in ganz Europa teil, auf denen ein »Plan B« vorangebracht werden soll. Wenn Mélenchon gewählt würde, will er mit Deutschland neu verhandeln und versuchen die Kriterien in den europäischen Verträgen zu ändern, um eine aktive Konjunkturpolitik mittels Deficit spending und andere Dinge zu ermöglichen. Aber er hat auch einen eigenen Plan B in der Tasche: Er will nicht wie die Griechen nackt an den Verhandlungstisch treten und droht im Falle einer Niederlage mit einem Austritt Frankreichs aus dem Euro.
Er vertritt also einen Plan A, der darin besteht, die Verträge teilweise nicht länger zu befolgen und gleichzeitig zu versuchen, sie neu auszuhandeln. Wenn das fehlschlägt, ist sein Plan B per Referendum einen linken Frexit ins Spiel zu bringen.
Was passiert wenn Mélenchon es nicht in die Stichwahl schafft? Dann haben wir einen Showdown zwischen dem neoliberalen Mitte-rechts Kandidaten Macron und der rechtsextremen Le Pen. Was würde das für die Linke bedeuten und was steht auf dem Spiel, sollte Le Pen am Ende gewinnen?
Trotz Mélenchons großer Aufholjagd bei den Wahlumfragen, ist es auch gut möglich, dass er es nicht in die zweite Runde schafft. Für die französische Linke käme die Wahl aber trotzdem einem politischen Erdbeben gleich, wenn Mélenchon den Kandidaten der PS Benoît Hamon schlägt und den vierten oder sogar dritten Platz einnimmt. Bereits das wäre eine enorme Erschütterung der französischen Politik und könnte das Ende der Parti socialiste bedeuten.
Wenn Le Pen am Ende siegt, ist völlig offen was passiert. Dann hängt es davon ab, ob sie und der FN bei der Parlamentswahl einen Monat später im Juni die Mehrheit bekommen. Das ist extrem unwahrscheinlich, also könnten wir dann auf eine Situation zusteuern, in der sie zwar Präsidentin ist, aber keine Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dann könnte eventuell das rechte Spektrum im Parlament versuchen einen Deal mit ihr zu schließen, um zumindest einige ihrer Maßnahmen durchgesetzt zu bekommen.
Das klingt sehr nach der Zusammenarbeit der Trump-Administration und des rechten Flügels der Republikanischen Partei.
Es würde höchstwahrscheinlich die Rechtsparteien spalten und vermutlich auch zu deren Ende führen. Bezogen auf Le Pen und den Front National sollte nicht vergessen werden, dass sie immer noch die extreme Rechte repräsentieren. Le Pen arbeitet immer noch sehr eng mit einer Reihe mehr oder weniger offener Neofaschisten zusammen. Noch hält der Front National seine Mitglieder zurück, was direkte Gewalt gegen Migranten oder Linke angeht, aber es ist klar, dass viele von ihnen voller Ungeduld darauf brennen loszuschlagen. Viel wird von der antifaschistischen Antwort auf eine Wahl von Le Pen abhängen, sollte dieser Fall eintreten. Wären die Menschen vom Resultat so eingeschüchtert und enttäuscht, dass sie nicht reagieren? Oder würde es zu einer Massenbewegung gegen die extreme Rechte führen, mit dem Potenzial sich zum Aufstand auszuweiten, mit Besetzungen, Blockaden, Generalstreiks?
Im Falle eines Sieges von Le Pen ist die politische Zukunft vollkommen offen. Aber auch wenn sie dieses Mal nicht gewinnt — sollte Macron Präsident werden und seine neoliberale Agenda durchsetzen, wärmt er Le Pen wahrscheinlich nur den Sitz bis zur nächsten Wahl.
Wenn Macron gewinnt, würde das eine Fortsetzung des Status quo bedeuten — jedoch noch etwas weiter rechts. Angesichts der wirtschaftlichen Lage, die du beschrieben hast, und der Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung, was würde passieren, wenn Macron Präsident Frankreichs würde?
Er würde versuchen seine neoliberale Reformagenda durchzusetzen — und das ohne zu zögern und auf eine viel konsequentere Art und Weise als frühere Regierungen. Er würde das unter dem Anschein der Neuartigkeit machen, den er sich gerne gibt — unter dem Anschein der Aufgeschlossenheit und in gewisser Weise auch unter dem Anschein eines Bruchs mit dem bestehenden System.
Er positioniert sich selbst als Anti-System-Kandidat, was sehr ironisch ist, angesichts seines sozialen Hintergrunds und seiner politischen Positionen. Aber erneut: Alles würde vom Grad des Widerstands abhängen. Es kann zu einer Situation führen, in der den Leuten erfolgreich eingeredet wird, dass es bergauf ginge. Es kann aber auch zu einem Zusammenschluss der radikalen Linken und der Gewerkschaften führen, um Macron bei jedem seiner Schritte mit Widerstand zu konfrontieren. An diesem Punkt ist der größte Optimismus genauso gerechtfertigt wie der größte Pessimismus.
Sebastian Budgen ist Redakteur bei Verso Books und Historical Materialism.
Das Interview führte Suzi Weissman. Zuerst veröffentlicht bei Jacobin. Übersetzung ins Deutsche von Martin Haller.
Schlagwörter: France Insoumise, Frankreich, Front National, Le Pen, Macron, Mélenchon, Präsidentschaftswahl, PS, Sarkozy