Die Rentenreform ist umgesetzt und wird voraussichtlich ab September in Kraft treten. Dennoch halten die Proteste dagegen und gegen Macron an. Was jedoch fehlt ist die Ausweitung der Streiks durch die Gewerkschaftsführung, meint John Mullen
Zuerst die gute Nachricht. Der dreizehnte Aktionstag zur Verteidigung der Renten am 1. Mai brachte zwei Millionen Menschen auf die Straße, und jeden Tag gab es seit Wochen davor und danach energische Proteste im ganzen Land. Die Streikenden besetzen Autobahnmautstellen und lassen die Autofahrer:innen umsonst durch, während sie große Geldbeträge für die Streikkasse sammeln. Minister:innen, bis hin zu Macrons untergeordnetem Staatssekretär, der das abgelegenste Dorf besucht, werden von schnell organisierten Demonstrationen begrüßt, bei denen die Menge mit Töpfen knallt und »Macron, tritt zurück!« skandiert. In den letzten Wochen wurden mindestens achtzig Ministerbesuche gestört, und ein paar Dutzend wurden aus Angst vor Störungen abgesagt, so die Aktivist:innenorganisation ATTAC. Viele Minister:innen stellen plötzlich fest, dass die Elektrizitätswerke an den Orten, die sie besuchen, den Strom abgestellt haben.
Am 6. Mai organisierte die radikale Linke France Insoumise in Marseille den »Marsch all unserer Wut«. Am selben Tag mauerten Aktivist:innen den Eingang zum Sitz des Arbeitgeberverbandes MEDEF zu. Am 8. Mai konnte Macron seine Siegesfeier zum Zweiten Weltkrieg auf den Champs Elysees nur durchführen, indem er alle Zuschauenden aus der Zone verbannte, während er später am selben Tag in Lyon einen Kranz zu Ehren des Widerstandshelden Jean Moulin niederlegte, während er alle Demonstrationen im Stadtzentrum verbot. Macron ist gedemütigt, isoliert und verloren. Umfragen zeigen, dass 88 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass er »den Sorgen der einfachen Leute nicht nahe steht«. Obwohl er vor drei Wochen »hundert Tage zur Beruhigung der Lage« angekündigt hat, war dies bisher kein großer Erfolg.
Unter dem Druck, nicht mehr auf seine traditionellen rechten Verbündeten zählen zu können, die durch seine atemberaubende Unpopularität verängstigt sind, musste Macron viele seiner geplanten Angriffe zurückstellen und auch kleinere Zugeständnisse machen. Das rassistische Einwanderungsgesetz wird verschoben, ein neues Vorgehen gegen den Steuerbetrug der Superreichen wird auf den Weg gebracht, und es wurde Geld für Stipendien für Studierende gefunden. In einem Stellungskrieg muss Macron in vielen kleinen Dingen zurückstecken.
Dynamik
Die Bewegung hat Millionen von Menschen in Bewegung gebracht, von denen viele nicht gewohnt waren, zu protestieren, und diese Radikalisierung hat unserer Klasse bei anderen Themen geholfen. Eine Reihe von Protesten zur Verteidigung der Umwelt gegen riesige neue Straßen, zur Verteidigung der Landwirte gegen multinationale Konzerne, die ihnen das Wasser stehlen, usw. haben eine enorme Dynamik entwickelt. Die antirassistischen und antifaschistischen Proteste waren größer als sonst. In vielen Betrieben kommt es zu Lohnstreiks, manchmal mit schnellem Erfolg.
Unterdessen hat Macrons Polizei Gewalt und Repression verschärft und behauptet, dass die Aktivitäten des »Schwarzen Blocks« ihr keine andere Wahl lassen. Innenminister Gérard Darmanin behauptete, Tausende kämen zu den Demonstrationen »mit einem einzigen Ziel: Polizist:innen zu töten und fremdes Eigentum zu beschädigen«. Abgesehen davon, dass er anscheinend nicht bis zwei zählen kann, sind in Wirklichkeit fast alle Schwerverletzten bei Demonstrationen von der Polizei angegriffene Demonstrant:innen. Die Regierung plant ein neues Gesetz, das die Schikanierung von Demonstrierenden erleichtern soll (obwohl in der derzeitigen politischen Krisenstimmung sogar einige von Macrons eigenen Abgeordneten dagegen sind).
Mit einer Reihe von Erklärungen von Innenminister Darmanin über »Schmarotzer« unter den Einwandernden spielt die Regierung auch die rassistische Karte aus. Die rassistische Polizei wird immer selbstbewusster – letzten Monat rammte ein Polizeiauto in Paris absichtlich einen Motorroller, auf dem drei schwarze Teenager saßen, und verletzte sie schwer. (Lies hier den marx21-Artikel »Frankreichs Repression gegen Rentenproteste erinnert an die Unterdrückung von Muslim:innen«.)
Strategie und Führung
Der Angriff Macrons auf die Renten ist in Kraft getreten und wird theoretisch ab September gelten. Ein 14. gewerkschaftlicher Aktionstag wurde für den 6. Juni anberaumt, zwei Tage vor einer Abstimmung im Parlament über einen Antrag der Opposition, die Rentenreform zu streichen (eine Abstimmung, die so gut wie keine Chancen auf Erfolg hat). Aber selbst der Langsamste unter den Demonstrierenden denkt: »Wenn wir eine Taktik schon dreizehn Mal erfolglos ausprobiert haben, brauchen wir vielleicht eine Neue!«
Die nationalen Gewerkschaftsführungen haben sich geweigert, über einzelne Aktionstage hinauszugehen. Die offensichtliche Option, einen 24-stündigen Generalstreik zu organisieren, gefolgt von 48 Stunden, 72 Stunden usw., passte nicht in die Perspektive dieser professionellen Verhandlungsführenden, zumal die Unterstützung der Bevölkerung so groß war wie nie zuvor. Nun haben die Vorsitzenden der größten Gewerkschaften angekündigt, dass sie sich nächste Woche mit dem Premierminister zu Gesprächen treffen werden, was sie zuvor zu Recht abgelehnt hatten, solange das Gesetz nicht zurückgezogen wurde. Theoretisch geht es bei diesem Treffen um andere Themen, aber es wird den Eindruck erwecken, dass sich die Beziehungen »wieder normalisieren«, was Macron nur helfen kann.
Einige Teile der Arbeiter:innenklasse wollen über die Spielregeln der nationalen Führung hinausgehen: Es gibt immer noch regelmäßig eintägige sektorale Streiks oder Schulblockaden gegen die Rentenreform, einige Arbeitsplätze werden seit Monaten bestreikt, und die Demonstrationen gehen weiter.
Angesichts der Unnachgiebigkeit und der Verachtung der Regierung lässt sich ein Teil der Jugendlichen von den Ausschreitungen des Schwarzen Blocks verleiten, die von immer mehr Menschen gutgeheißen werden, obwohl sie im Grunde genommen eine Sackgasse sind, deren Haupteffekt darin besteht, die Repression der Regierung zu verstärken.
Die meisten Revolutionäre in Frankreich sind davon überzeugt, dass ein einziger Aktionstag uns nicht den Sieg bringen wird. Im Allgemeinen glauben sie jedoch, dass ihre Rolle nur darin besteht, so viel wie möglich zu tun, jede:r an dem eigenen Arbeitsplatz, um weitere Streiks zu fördern. Was fehlt, ist ein entschlossener Versuch der Massen, die nationalen Gewerkschaftsführungen unter Druck zu setzen, damit sie die Streiks ausweiten.
John Mullen ist ein antikapitalistischer Aktivist in der Region Paris und ein Unterstützer von France Insoumise. Seine Website lautet randombolshevik.org.
Titelbild: Kwikwaju (1.Mai Paris)
Schlagwörter: Emmanuel Macron, Frankreich, Rentenreform