In Frankreich bemühen sich Regierung und Medien, die Unruhen nach dem Mord an Nahel einzudämmen. Über staatlichen Rassismus und Faschisten in der Polizei schweigen sie, meint John Mullen
John Mullen ist ein revolutionärer Aktivist, der in der Region Paris lebt und ein Anhänger der France Insoumise ist. Seine Website: randombolshevik.org
Nahel war ein siebzehnjähriger Rugby-Fan, der als Lieferfahrer arbeitete. Am Morgen des 27. Juni hielt die Polizei ihn an, als er mit zwei Freunden in einem Auto auf der Busspur unterwegs war.
Einer der Polizisten verlangte Nahels Führerschein. Beide Polizisten zogen ihre Waffen und richteten sie auf Nahel. Das ist vollkommen illegal, da die Vorschriften vorsehen, dass die Waffen nur im »absoluten Notfall« gezogen werden dürfen. »Beeil Dich«, sagte der eine Polizist, »sonst bekommst Du eine Kugel in den Kopf«. Daraufhin setzte Nahel das Auto in Bewegung. Eine Sekunde danach wurde er in die Brust geschossen. Er starb eine halbe Stunde später.
Einer der Rettungssanitäter, der Nahel seit seiner Kindheit kannte, traf einige Stunden später auf zwei Polizeibeamte derselben Einheit. Er schrie sie an, weil er wütend war. Er wurde wegen »Missachtung eines Polizeibeamten« verhaftet und verbrachte 48 Stunden in einer Polizeizelle.
Mord, Lügen und Video
Die Polizei erklärte in ihrem offiziellen Bericht über die Schießerei zunächst, dass einer der Beamten vor dem Auto gestanden habe. Der Fahrer habe versucht, ihn zu überfahren, so dass es notwendig gewesen sei, ihn zu erschießen. Diese spektakulär fadenscheinige Ausrede ist die klassische Antwort der Polizei in solchen Fällen. Sie wurde auf allen Nachrichtensendern getreulich wiederholt.
Doch es gab ein Video. Ein Passant hatte die Szene gefilmt, einschließlich der Drohungen. Die sozialen Netzwerke sorgten dafür, dass dies nicht ignoriert werden konnte. Der Polizist wurde inzwischen verhaftet und sitzt wegen Mordes im Gefängnis. Der zweite Polizist hingegen wurde noch nicht einmal verhaftet.
Unruhen in Frankreich
In den folgenden Nächten kam es in mehr als einem Dutzend Städten Frankreichs zu Ausschreitungen. In der Nacht zum 29. Juni wurden 650 Menschen festgenommen. Die meisten von ihnen waren sehr jung. Polizeiwachen wurden mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Viele wurden niedergebrannt. Der Bürgermeister von Romainville in den östlichen Vororten von Paris erklärte am Morgen des 30. Juni: »Es war ruhiger als in der Nacht zuvor, aber wir hatten eine Gruppe von sechzig Personen, die um zwei Uhr morgens die Polizeiwache angriffen.«
Ähnliches geschah in mehr als einem Dutzend Städten. Einige Rathäuser und eine Reihe von Autos wurden in Brand gesetzt. Supermärkte und andere Geschäfte wurden geplündert. Im Zentrum von Paris wurden Filialen von Nike und Zara geplündert, da einige die Überlastung der Polizei ausnutzten. Der Anwalt des Mörders beklagte sich im Fernsehen, dass sein Mandant wegen der Unruhen nicht auf Kaution freigelassen worden sei.
Medien ignorieren Polizeigewalt
Die Nachrichtensender laden derzeit Eltern aus verschiedenen armen Vorstädten zusammen mit Soziolog:innen ins Fernsehen ein. Die Eltern werden gefragt: »Wie können wir verhindern, dass heute Abend noch mehr Autos in Brand gesetzt werden?«. Die Soziolog:innen sollen erklären, wie mehr Sport und Kultur dazu beitragen könnten, dass sich multiethnische Jugendliche besser in die Gesellschaft integriert fühlen.
Niemand scheint danach zu fragen, wie die Polizei davon abgehalten werden kann, rassistische Hinrichtungen durchzuführen. Oder danach, wie die Ausbildung der Polizei beschaffen sein muss, wenn sie dazu führt, dass Polizist:innen mit der Waffe auf jemanden zielen, wenn sie ihn nach dem Führerschein fragen. Oder auch danach, was man gegen die enorme faschistische Präsenz in der Polizei tun kann.
Politische Reaktionen von rechts
Angesichts der Unruhen sah sich Präsident Emmanuel Macron gezwungen, die Tötung als »inakzeptabel« zu bezeichnen. Doch er ist es, der seit Jahren die zunehmende Brutalität der französischen Polizei organisiert. Im Jahr 2017 wurden die Regeln für den Einsatz der Polizei geändert, um sie zu ermutigen, mehr von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Das führte zu einer Verdoppelung der Tötungen durch die Polizei.
Im Jahr 2022 wurden 13 unbewaffnete Menschen, fast keine von ihnen Weiße, von der Polizei erschossen. Insgesamt wurden in diesem Jahr 39 Menschen von der Polizei getötet. Strafverfolgungen sind selten und Verurteilungen so gut wie nicht zu verzeichnen.
Die Faschistin Marine Le Pen und die meisten Polizeigewerkschaften haben den Schützen verteidigt und behauptet, er habe in Selbstverteidigung gehandelt. Sie fordert die Verhängung des Ausnahmezustands und Ausgangssperren. Der Nazi Eric Zemmour schreit, dass die Unruhen der Beginn eines »Rassenkriegs« seien.
Die Linke positioniert sich
Clémentine Autain, Abgeordnete von France Insoumise (FI), prangerte unterdessen an, was sie als »außergerichtliche Hinrichtung« bezeichnete. Die FI fordert eine parlamentarische Untersuchung des Mordes. Jean-Luc Mélenchon von der FI twitterte: »Die Wachhunde der Medien sagen, wir sollten zur Ruhe aufrufen. Wir rufen nach Gerechtigkeit!«, eine Aussage, die dazu führte, dass Mélenchon von den Rechten als Gefahr für die Republik angeprangert wurde.
Macron ist aus Brüssel zurückgekehrt, um eine Dringlichkeitssitzung des Kabinetts zu leiten. Die Behörden befürchten, dass sich die Unruhen ausweiten könnten, wie 2005. Damals starben zwei Jugendliche, Zyed Benna und Bouna Traore, auf der Flucht vor der Polizei. Die Unruhen dauerten drei Wochen lang an und 233 öffentliche Gebäude wurden beschädigt. Die herrschende Klasse war erschüttert. In den folgenden Jahren wurden 50 Milliarden Euro investiert, um den Wohnungsbau und die öffentlichen Dienstleistungen in 600 der betroffenen Stadtviertel zu verbessern.
Gerechtigkeit für Nahel
Unruhen sind eine komplexe Angelegenheit. Sie können für die betroffene Bevölkerung sehr hart sein. In vielen Armenvierteln und sozialen Brennpunkten treffen sich Elternausschüsse, um zu überlegen, was sie tun können, um ihre Jugendlichen vor der Polizei zu schützen und zu verhindern, dass die Wut die falschen Ziele trifft. In ein oder zwei Städten wurden zum Beispiel Schulen in Brand gesetzt. In meinem Viertel Montreuil war das Mütterkomitee den ganzen Abend unterwegs, um mit den jungen Leuten zu sprechen.
Aber wie viel schlimmer wäre es, wenn die Polizei unsere Kinder töten würden und es keine Reaktion gäbe? Ohne die Unruhen wäre der Polizist nicht im Gefängnis. Der Staatsanwalt wäre nicht gezwungen gewesen, öffentlich zu erklären, dass die Schusswaffenvorschriften der Polizei nicht eingehalten wurden.
6000 Menschen haben sich am 29. Juni in Nanterre an einer Demonstration unter dem Motto »Gerechtigkeit für Nahel« beteiligt. Es gibt bereits ein gutes Netzwerk kleiner Organisationen, die gegen Polizeigewalt kämpfen. Nötig ist eine breitere Bewegung, die sich traut, die Verhaftung des zweiten beteiligten Polizisten, die Entwaffnung der Polizei und den Ausschluss der Faschisten aus ihren Reihen zu fordern. Das wäre auf jeden Fall schon einmal ein guter Anfang.
Schlagwörter: Frankreich, Polizeigewalt