Die tiefe politische Krise in Frankreich ist auch nach der Parlamentswahl alles andere als gelöst. John Mullen aus Paris über ein Land am Scheideweg
John Mullen ist revolutionärer Sozialist und Unterstützer von »La France insoumise« (FI). Er lebt im Großraum Paris und schreibt regelmäßig auf marx21.de. Weitere Beiträge von ihm findest du auf seiner Website randombolshevik.org.
marx21: Obwohl die Faschist:innen bei der Parlamentswahl keine Mehrheit erringen konnten, hat Le Pens Rassemblement National (RN) so viele Sitze wie nie zuvor gewonnen. Wie bewertest du das Wahlergebnis?
John Mullen: Es ist ein wichtiger, kurzfristiger Sieg für die arbeitenden Menschen und für die Linke. Vier linke Parteien – La France Insoumise, die Sozialistische Partei, die Grünen und die Kommunistische Partei – haben sich zusammengeschlossen und die Bildung einer faschistischen Regierung, die durchaus wahrscheinlich war, verhindert. Millionen von Menschen im Land, insbesondere Muslime, Lesben und Schwule, können diese Woche wieder ruhiger schlafen.
Noch wichtiger als das Ergebnis ist die Art und Weise, wie es zustande gekommen ist. Wir haben den dynamischsten Wahlkampf seit mindestens vierzig Jahren erlebt: Zehntausende neuer Aktivist:innen schlossen sich FI an, viele weitere Tausende sind anderen linken Organisationen beigetreten. Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Universitätsräte, Sänger:innen, Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Verleger:innen, Sportler:innen – sie alle engagierten sich. Es gab Hunderte von Demonstrationen und zahllose andere Aktionen. Diese Masse an Menschen weiterhin organisiert und mobilisiert zu halten, wird eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Monate.
Im Parlament sind die ultrarechten Kräfte stärker als je zuvor, und weite Teile der konservativen Rechten erwägen eine Zusammenarbeit mit ihnen. Edouard Philippe, Ex-Premierminister und wichtiger Führer der Macronisten, hat kürzlich mit Marine Le Pen zu Abend gegessen. »Ich kannte sie bislang einfach nicht sehr gut«, so seine Begründung. Die Bosse hatten große Eile, sich mit ihr zu treffen und sich bei ihr einzuschmeicheln, für den Fall, dass der RN die Regierung übernimmt. Die faschistische Gefahr ist also noch lange nicht gebannt. Aber die Bewegung, die sie zurückgedrängt hat, könnte, ermutigt durch diesen ersten Sieg, noch viel mehr bewirken.
Wird Mélenchon nun Premierminister? Und was würde das aus deiner Sicht bedeuten?
Eines der Symptome der tiefen Krise ist die lange Verzögerung bei der Ernennung des Premierministers. Traditionell ernennt der Präsident einen Premierminister aus der Fraktion mit den meisten Sitzen. Macron hat sich bisher geweigert, dies zu tun, und in einem am 10. Juli veröffentlichten »Brief an das französische Volk« erklärt er, dass er eine Koalition zwischen Macronisten, der konservativen Rechten und Teilen der gemäßigten Linken will. Es ist keineswegs sicher, dass er über die notwendigen Mehrheiten verfügt, und seine eigene Gruppe von Abgeordneten der Macronisten ist momentan dabei sich zu zerlegen. Mélenchon hat Macrons Versuch scharf verurteilt, »zu einem königlichen Vetorecht zurückzukehren und sich über das Wahlergebnis einfach hinwegzusetzen«.
Allein im letzten Monat gab es mehr antifaschistische Aktivitäten als in den fünf Jahren zuvor
Unterdessen verhandelt das Linksbündnis »Nouveau Front Populaire« (NFP) darüber, wen es als Premierminister vorschlagen will. Das Problem ist neu, und es gibt hierfür bislang kein allgemein akzeptiertes Verfahren. La France Insoumise hält es als größter Teil des Bündnisses (74 Abgeordnete) für angemessen, dass sie den Premier stellen. Die Parti socialiste (PS, 59 Abgeordnete) und die Grünen (28) sind dagegen, einen Premier aus den Reihen von FI vorzuschlagen. Sie würden aber zweifellos FI-Minister:innen in anderen Schlüsselpositionen akzeptieren. Im konkreten Fall von Jean-Luc Mélenchon haben seine klaren Positionen zu Palästina und die Tatsache, dass er offen für einen radikalen Bruch mit dem Status quo steht, dazu geführt, dass er Opfer endloser Verleumdungskampagnen ist, die von Teilen der PS und der Grünen munter unterstützt wurden. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass er als Premierminister vorgeschlagen wird.
Der Wahlkampf der NFP war von einer starken Dynamik getragen und es gab große antifaschistische Mobilisierungen. Wie würdest du die aktuelle Stimmung im Land beschreiben und erwartest du, dass die Protestwelle weitergeht?
In der Tat gab es allein im letzten Monat mehr antifaschistische Aktivitäten als in den fünf Jahren zuvor. Und es gab keine klare Abgrenzung zwischen der antifaschistischen Mobilisierung und der Kampagne für das radikale Programm der vereinigten Linken, das 150 Reformen vorsieht, darunter die Beendigung der Waffenexporte nach Israel, die Erhöhung der Löhne und Sozialleistungen und die Eindämmung der Polizeigewalt.
Derzeit wird dazu aufgerufen, in jeder Stadt Ausschüsse oder andere Arten von offenen Komitees der NFP einzurichten. An mehreren Orten ist dies bereits geschehen. Es wurde auch ein Marsch auf Matignon, den Sitz des Premierministers, vorgeschlagen, falls Macron sich weigert, einen linken Premierminister zu ernennen. Der Vorsitzende des größten und kämpferischsten Gewerkschaftsverbands, der CGT, forderte, Macron müsse »das Wahlergebnis respektieren und eine neue Regierung auf der Grundlage des Programms der NFP ernennen«. Der Eisenbahnerverband der CGT hat die Initiative ergriffen und für den 18. Juli, also den Tag der Wiederaufnahme der Parlamentsgeschäfte, zu Kundgebungen vor dem Parlament und vor allen regionalen Regierungszentralen (préfectures) aufgerufen.
Es ist unmöglich vorherzusagen, wie groß die Proteste in diesem Juli noch sein werden, aber auf jeden Fall wird die derzeitige politische Krise noch viele Monate andauern. Die französische Verfassung verbietet eine Wiederholung der Parlamentswahl innerhalb der nächsten zwölf Monate, selbst wenn der Präsident zurücktritt und ein neuer Präsident gewählt wird.
Offensichtlich steht Frankreich eine schwierige Regierungsbildung bevor. Welche Möglichkeiten gibt es und für wie wahrscheinlich hältst du diese?
Es könnte eine linke Minderheitsregierung geben. Auch ohne neue Gesetze zu verabschieden, könnten mehrere der wichtigsten Maßnahmen des Programms der NFP umgesetzt werden, etwa die Erhöhung des Mindestlohns und der Löhne im öffentlichen Dienst oder die Auflösung der gewalttätigsten Polizeieinheiten. Wenn eine NFP-Regierung dem Parlament beispielsweise ein Gesetz vorlegen würde, um die brutalen Angriffe auf die Renten rückgängig zu machen, die im letzten Jahr durchgesetzt wurden und in der gesamten Bevölkerung auf große Ablehnung stoßen, wären alle Parteien gezwungen, sich öffentlich dafür oder dagegen auszusprechen. Der Rassemblement National, der vorgibt, gegen die Angriffe auf die Renten zu sein, würde dabei besonders unter Druck geraten. Sollte es zu einer linken Minderheitsregierung kommen, wäre die Mobilisierung der Massen entscheidend. Je mehr das Parlament gelähmt ist, desto wichtiger sind die Massenbewegungen.
Die zweite Möglichkeit wäre eine (katastrophale) Koalition der »nationalen Einheit«, die Macronisten, Rechte und Linke, die sich durch wichtige Posten verlocken oder bestechen lassen, zusammenbringt. Diese würde wahrscheinlich keine Mehrheit haben. Sollte sie dennoch Bestand haben, würde sie zu einer tiefen Enttäuschung und bei den nächsten Wahlen ohne Zweifel zu einer rechtsextremen Regierung führen.
Nicht zuletzt ist es möglich, dass Macron »Experten« – also bürgerliche »Experten« – zum Regieren des Landes einsetzt. In Italien haben sie vor einigen Jahren den Direktor der Zentralbank gewählt. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Regierung nicht auf der Seite der arbeitenden Menschen stehen würde. In jedem dieser Szenarien ist der Widerstand aus der Arbeiterbewegung und auf der Straße das zentrale Element.
Die Parlamentswahl war ein Rückschlag für den RN. Trotzdem scheint die Strategie der »Normalisierung« zu funktionieren. Wie stark ist der RN?
Der RN war sehr erfolgreich damit, die Menschen davon zu überzeugen, dass er seine faschistische Vergangenheit hinter sich gelassen hat. Letztes Jahr wurde er sogar bei einer Demonstration gegen Antisemitismus akzeptiert. Und er behauptet, sein Ziel sei es, Juden gegen linken Antisemitismus zu verteidigen. In den letzten Wochen gelang es der antifaschistischen Mobilisierung jedoch, ganze Listen von RN-Abgeordneten auf die Titelseiten zu bringen, die rassistische oder antisemitische Äußerungen abgegeben hatten, und einige RN-Kandidaten wurden deswegen abgesetzt – einer von ihnen war mit einer Nazimütze fotografiert worden.
Ich denke, dass es Raum für eine marxistische Strömung – »Marxistes insoumis« – gibt, und dass eine solche auch dringend gebraucht wird
Der RN profitiert davon, dass in der Linken kein allgemeines Verständnis darüber herrscht, dass der Kampf für die Forderungen der Arbeiterklasse und die Vision einer linken Alternative nur ein Teil dessen ist, was notwendig ist, um die Faschist:innen zurückzudrängen. Darüber hinaus braucht es eine landesweite, langfristige Kampagne zur Aufklärung der Massen und zur Bekämpfung der faschistischen Rechten, die sich speziell gegen den RN richtet.
Momentan ist der RN innerhalb des Parlaments ungleich stärker als außerhalb. Trotz der bis zu 13 Millionen Stimmen, die er bei manchen Wahlen erhalten hat, ist er nicht in der Lage, Massendemonstrationen auf der Straße zu organisieren. In sehr vielen Städten verfügt er über nahezu keine Parteistrukturen. Wir müssen es ihm unmöglich machen, solche in Zukunft aufzubauen.
Neben dem Aufbau der parlamentarischen Macht setzen die Faschist:innen der AfD in Deutschland auch auf den Kampf um die Straße und unterstützen immer wieder rechte Mobilisierungen. Wie ist die Situation in Frankreich?
Der RN hat dies im Rahmen seiner Strategie der »Entgiftung« vermieden. In einigen Städten haben jedoch kleinere faschistische Gruppen demonstriert. In Paris demonstrierten vor zwei Monaten über 600 bekennende Nazis, in Lyon im vergangenen Dezember zwei- bis dreihundert. Der RN vermeidet bis auf weiteres offizielle Verbindungen zu diesen Gruppen.
Du bist Revolutionär und aktiv bei France Insoumise. Gibt es so etwas wie revolutionäre Zusammenschlüsse oder organisierte Strömungen revolutionärer Kräfte innerhalb der FI?
La France Insoumise ist eine linksreformistische Organisation und keine politische Partei im eigentlichen Sinn. Man wird nicht Mitglied, sondern Unterstützer:in. Delegiertenkonferenzen werden oft auf innovative Art und Weise organisiert, einschließlich der Auswahl der Delegierten durch Verlosung. Das alles hat Vor- und Nachteile, aber der Vorteil für Marxist:innen ist, dass es nichts gibt, was sie daran hindert, eine Zeitung zu verkaufen, Diskussionsveranstaltungen zu organisieren und so weiter. Ich denke, dass es Raum für eine marxistische Strömung – »Marxistes insoumis« – gibt, und dass eine solche auch dringend gebraucht wird. Die Hauptströmung des Denkens innerhalb der FI ist »für eine Bürgerrevolution«, und auf dieser Grundlage hat sie neun Millionen Stimmen erhalten und eine große neue reformistische Bewegung mit einem soliden Bildungs- und Kaderaufbauprogramm, Sommerschulen und so weiter aufgebaut.
Wir Marxist:innen wollen eine Arbeiterrevolution, denn nur dort, wo die Arbeit getan wird, liegt die Macht zum Sturz des Kapitals. Aber in einer Situation, in der die große Mehrheit der radikalisierten Arbeiter:innen nicht die geringste Ahnung vom Unterschied zwischen einer Arbeiterrevolution und einer Bürgerrevolution hat, müssen wir Marxist:innen unsere Ideen in breiten radikalen Kreisen verteidigen und nicht draußen in der Kälte bleiben, nur, weil wir nicht gerne mit Reformist:innen reden.
Es gibt ein paar mehr oder weniger revolutionäre Gruppen innerhalb der FI, mit jeweils höchstens ein paar hundert Mitgliedern. Die »Nouveau Parti anticapitaliste« (NPA) um Olivier Besancenot mit ein paar tausend Aktivist:innen stellte bei der Präsidentschaftswahl 2022 ihren eigenen Kandidaten auf, anstatt Mélenchon zu unterstützen. Sie erhielt 0,7 Prozent der Stimmen. Letzten Monat haben sie sich jedoch der NFP angeschlossen und leisten einen nützlichen Beitrag.
Sozialist:innen in Deutschland blicken oft etwas neidisch auf die vergleichsweise hohe Zahl von Streiks und die Militanz der Gewerkschaftsbewegung in Frankreich. Gleichzeitig ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad sehr niedrig und auch die französische Arbeiterbewegung befindet sich seit langem in einem Zustand der Defensive. Wie blickst du auf die Lage des Klassenkampfs und die Stärke der Gewerkschaften?
Seit dreißig Jahren gibt es regelmäßig Massenstreiks und Proteste gegen neoliberale Reformen. Diese wurden gelegentlich gewonnen, etwa bei der Ablehnung einer neuen Art von Arbeitsverträgen für junge Menschen, dem »contrat prémière embauche«. Oft gingen sie verloren oder endeten mit einem Unentschieden. Das Resultat ist, dass neoliberale Reformen wesentlich langsamer vorangekommen sind als in vielen anderen reichen Ländern. Diese Bewegungen haben gezeigt, dass unter den französischen Beschäftigten ein politisches Klassenbewusstsein weit verbreitet ist. Millionen von Menschen, die nicht persönlich betroffen waren, beteiligten sich an den Protesten gegen die Erhöhung des Rentenalters oder gegen die miesen Verträge für junge Leute. Dieses Klassenbewusstsein, gepaart mit der großen Schwierigkeit, sich durchzusetzen – vor allem aufgrund der bremsenden Aktivität der nationalen Gewerkschaftsführer:innen –, hat den Aufbau einer linken reformistischen Massenbewegung, der France Insoumise, ermöglicht, die sehr radikale Veränderungen anstrebt – eine »Bürgerrevolution« –, aber Wahlen in den Mittelpunkt ihrer Strategie stellt.
In Deutschland ist es der AfD gelungen, auch in die organisierte Arbeiterbewegung auszugreifen. Bei der Europawahl haben Gewerkschafter:innen sogar überdurchschnittlich oft für die Nazipartei gestimmt. Wie sieht es in Frankreich aus? Hat der RN eine Basis in den Gewerkschaften und unter Streikenden?
Mehrere der großen Gewerkschaften schließen RN-Aktive aus der Gewerkschaft aus, aber natürlich wählen viele Gewerkschaftsmitglieder oder, was wahrscheinlicher ist, Sympathisant:innen, immer noch den RN. 22 Prozent derjenigen, die sich als CGT-Anhänger:innen bezeichneten, stimmten 2022 bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl für Marine Le Pen – bei der Force Ouvrière, einem weniger kämpferischen Gewerkschaftsbund waren es sogar 24 Prozent der Sympathisant:innen, im Vergleich zu 23 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Dennoch leisten Gewerkschaftsaktivist:innen, insbesondere in einigen Regionen, sehr gute Arbeit in der antifaschistischen Aufklärung.
In Deutschland ist das Bild des klassischen RN-Wählers das eines sozial marginalisierten Protestwählers aus dem traditionellen Arbeitermilieu in den ehemaligen Industrieregionen oder der vernachlässigten Provinz. Ist dieses Bild korrekt? Oder anders formuliert: Was ist die soziale Basis der RN?
Dem RN ist es gelungen, seine soziale Basis zu verbreitern, aber nach wie vor bilden vor allem ältere Menschen aus den Kleinstädten den Kern der Wählerschaft. 20 Prozent der RN-Wähler:innen sind unter 35 Jahre alt – unter Linkswähler:innen sind es 33 Prozent. 25 Prozent der RN-Wähler:innen leben auf dem Land – unter Linken sind es 17 Prozent. 28 Prozent der RN-Wähler:innen sind im Ruhestand – so wie 24 Prozent Linkswähler:innen. 9 Prozent der RN-Wähler:innen leben in Paris oder den Vorstädten – unter den Linken sind es hingegen 21 Prozent. Der Umstand, in vernachlässigten Provinzen zu leben, erhöht die Wahrscheinlichkeit einer großen RN-Wählerschaft, aber der rassistische Hintergrund ist ebenso wichtig: Menschen, die in multiethnischen Orten leben, wählen viel seltener den RN. In sehr »weißen« Städten, in denen viele überzeugt sind, dass Einwanderung eine große Gefahr darstellt, ist er hingegen sehr stark.
Die Linke konnte bei der Parlamentswahl beeindruckende Erfolge erzielen, vor allem in den multiethnischen und proletarischen Vorstädten der Metropolen. Offensichtlich ist es ihr gelungen, den Kampf für soziale Fragen und gegen Rassismus erfolgreich zu verbinden. Dies war keineswegs immer der Fall. Lange Zeit hatte die französische Linke ein ambivalentes Verhältnis vor allem zum antimuslimischen Rassismus. In Deutschland diskutiert die Linke seit Jahren, welchen Stellenwert der Antirassismus in Zeiten des Rechtsrucks haben soll, und ob er die Linke nicht von Teilen ihrer gesellschaftlichen Basis entfremdet. Wie blickst du auf diese Frage vor dem Hintergrund der französischen Erfahrungen? Und wie ist es gelungen, die Haltung der Linken zum Antirassismus in Frankreich so zu drehen?
Die Linke und sogar die radikale Linke in Frankreich hatten lange Zeit kein Interesse daran, die Islamfeindlichkeit zu bekämpfen. Viele behaupteten gar, sie existiere nicht und sei eine Erfindung von Fundamentalisten, die die französische Gesellschaft ausrotten wollten. Große Teile der Linken und der feministischen Bewegung unterstützten die Hetze gegen Islam und Muslime. Am schlimmsten war es vor etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren, als Frauen, die einen Hidschab trugen, auf Frauenrechtsmärschen von Feminist:innen angeschrien wurden: »Deine Mutter hätte dich abtreiben sollen!«. Als 2010 ein Gesetz verabschiedet wurde, das das Tragen von Niqab-Gesichtsschleiern auf der Straße verbot, bezeichnete die Zeitung der Neuen Antikapitalistischen Partei Niqab-Trägerinnen auf der Titelseite als »Todesvögel«.
La France Insoumise hat den Kampf gegen antimuslimischen Rassismus in den Mainstream der französischen Linkspolitik gebracht
Linke Islamfeindlichkeit gibt es immer noch, und sie beeinflusst weiterhin bedeutende Teile der Aktivisten:innen. Aber sie wurde durch die Mobilisierungen von Muslim:a und ihren Verbündeten in den letzten dreißig Jahren geduldig zurückgedrängt. Ein Schlüsselmoment war, als Jean-Luc Mélenchon, der Vorsitzende der France Insoumise, mit französisch-nordafrikanischen Führungspersönlichkeiten zusammenarbeitete und dabei zu verstehen begann, wie der Islamhass funktioniert. Die FI hat den Kampf gegen den antimuslimischen Rassismus in den Mainstream der französischen Linkspolitik gebracht. Nicht nur, dass das Wahlprogramm der NFP das erste einer solch relevanten Kraft ist, das den Kampf gegen Islamfeindlichkeit beinhaltet, Jean-Luc Mélenchon machte diese Frage auch auf seiner größten Massenveranstaltung in Montpellier letzten Monat zu einem zentralen Punkt.
Auf der anderen Seite haben führende Vertreter:innen der Kommunistischen Partei, so auch ihr Vorsitzender Fabien Roussel, in den letzten Jahren wiederholt gefordert, dass der Stolz auf die (weiße) französische Kultur gestärkt werden müsse. Dahinter steht die Hoffnung, dass dies weiße Wähler:innen, die sich marginalisiert fühlen, anziehen würde. So haben sie etwa lautstark verkündet, wie wichtig Rotwein und Steak für die französische Identität seien oder behauptet, der Kampf für Palästina sei »Kommunitarismus«. Dies sind eindeutig Schritte in Richtung einer Aufweichung antirassistischer Haltungen, die wir klar zurückweisen müssen.
Gibt es einen Weg für Frankreich aus der politischen Krise und wenn ja, wie könnte dieser aussehen?
Die Art und Weise, wie die Kapitalist:innen Frankreich regieren, funktioniert nicht mehr. Die konservativen Rechten und gemäßigten linken Parteien haben ihre soziale Basis verloren, nachdem sie an neoliberalen Regierungen beteiligt waren, die das Leben vieler Arbeiter:innen ruiniert haben. Jetzt hat der Macronismus – die »radikale Mitte« – die Wahlen verloren und ist stark geschwächt. Wir stehen zunehmend vor der Entscheidung zwischen Faschismus und der radikalen Linken. Der Wahlkampf und die Idee, dass es möglich ist, die Löhne zu erhöhen, früher in Rente zu gehen, die Reichen zu besteuern und den öffentlichen Dienst wieder aufzubauen, hat Millionen Menschen begeistert. Mittelfristig werden die wichtigsten Kämpfe außerhalb des Parlaments ausgefochten werden, aber im Moment ist das Drängen auf eine NFP-Regierung, welche dringende Maßnahmen zur Verringerung von Elend und Unterdrückung einleitet, der entscheidende nächste Schritt.
John, wir danken dir für das Gespräch.
Foto: Jeanne Menjoulet / flickr.com
Schlagwörter: Frankreich, Le Pen, Macron, Mélenchon