Massenstreiks und landesweite Aktionstage bringen Frankreich an den Rande des Stillstands und stürzen die Regierung in eine tiefe Krise. Nur wenige Tage vor dem Beginn der Fußball-Europameisterschaft ist kein Ende der Proteste in Sicht. Von Dave Sewell
Die Stromerzeugung brach letzte Woche in ganz Frankreich ein, nachdem Arbeiterinnen und Arbeiter in 19 Kernkraftwerken des Landes in den Streik getreten waren. Etwa 80 Streikende errichteten eine Barrikade aus brennenden Reifen vor dem Atomkraftwerk Gravelines. Die Sprecherin der Gewerkschaft CGT Marie-Claire Cailletaud meinte: »Allen Kernkraftwerken wurde die Streikfreigabe erteilt und zwölf davon haben unmittelbar die Produktion über Nacht eingestellt. Die Übrigen haben sich heute Morgen angeschlossen. Es muss mit Sicherheit Strom importiert werden.«
Die Regierung beeilt sich bereits, die Streiks in allen acht Ölraffinerien und die Blockade der Treibstoffdepots in den Griff zu bekommen. Doch auch das Anzapfen von Frankreichs Ölreserven konnte den akuten Benzinmangel nicht beheben. Die Streikfreigabe für den größten Importhafen für Erdöl des Landes in Le Havre wird diesen Mangel noch verschlimmern.
Eskalation der Streiks
Streikende sowie Unterstützerinnen und Unterstützer haben auch die beiden Treibstoffdepots auf der Insel Korsika blockiert. CGT-Funktionär Jean-Michel-Biondi sagte: »Wir schließen uns den landesweiten Protesten gegen das Arbeitsgesetz an, wir werden mit unseren Aktionen weitermachen. In den Depots arbeiten nur wenige Leute und die Chefs machen Druck, die Treibstoffe auszuliefern. Doch das lassen wir nicht zu.« Die Eskalation der Streiks gegen das neue Arbeitsgesetz verdeutlicht, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter diejenigen sind, die die Gesellschaft am Laufen halten – und dass sie die Macht besitzen, sie stillzulegen.
Am 26. Mai fand bereits zum achten Mal seit Beginn der mittlerweile zwei Monate andauernden Revolte eine landesweite Mobilisierung statt. Lediglich eine Zeitung war in den Geschäften erhältlich: Die linksgerichtete L‘Humanité. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Druckereien weigerten sich andere Zeitungen zu drucken, nachdem der Abdruck eines Artikels des CGT-Gewerkschaftsführers Phillipe Martinez abgelehnt worden war.
Konfrontation mit der Polizei
Streikende blockierten auch die Normandie-Brücke über die Seine und erzählten der Presse, dass sie die Arroganz von Premierminister Manuel Valls dazu motiviere. Fabien Gloa, CGT-Vertreter in den nahegelegenen Renault-Autowerken, meinte: »Die Polizei rückte massenhaft aus, also sind wir zur Brücke gegangen, um Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Wenn sie auch zur Brücke gehen, bedeutet das, dass sie auf Konfrontation aus sind.«
Jeff Vapillon, Sekretär der Gewerkschaft Force Ouviere in der Raffinerie Feyzin, sagte: »Ungefähr 200 Leute kommen täglich zum Streikposten – und es sind nicht jedes Mal dieselben 200. Das sind Menschen, die uns unterstützen, aber selbst nicht die Mittel haben, Druck auf die Regierung auszuüben.«
Rund um den Flughafen von Nantes wurden ebenfalls Blockaden errichtet. Pascal Bousson, Sekretär der CGT-Gewerkschaft in der Airbus-Flugzeugfabrik in Nantes, erklärte: »Gestern hatten wir eine Generalversammlung in der Fabrik, zu der etwa 200 Arbeiter kamen. Sie haben einstimmig für die Aufnahme von unbefristeten Streiks gestimmt – und für Blockaden am Flughafen. Wir stehen Seite an Seite mit dem Flughafenpersonal, den Beschäftigten in den nahegelegenen Betrieben und den Hafenarbeitern.«
Strahlkraft der Streiks
Auch Werktätige, die sich nicht im Streik befinden, schlossen sich dem Aktionstag an. Fährverbindungen von Portsmouth nach Frankreich mussten gestrichen werden, Flüge wurden unterbrochen, da die Hafenarbeiter und Fluglotsen streikten. Bahnbeschäftigte und Postangestellte hielten ebenfalls einen eintägigen Streik ab und viele andere haben sich vorgenommen, nächste Woche dabei zu sein.
Der Widerstand gegen das Arbeitsgesetz hat auch andere Lohnabhängige dazu ermutigt, mit ihren Forderungen hervorzutreten. Mitarbeiter der Steuerbehörde befinden sich im Streik gegen Büroschließungen. Beschäftigte der Peugeot-Autowerke wehren sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Arbeiterinnen und Arbeiter bei Amazon belagerten ihre Warenlager mit der Forderung nach einem besseren Lohn.
Mehrheit unterstützt Streiks
Der Engpass an Energie und Treibstoff zwingt viele Betriebe dazu, die Produktion herunterzufahren. Die Auswirkungen des Streiks führten sogar dazu, dass das Tennisturnier »French Open« niedrigere Besucherzahlen zu verzeichnen hatte. Das ist auch eine Warnung an die Regierung im Hinblick auf die noch viel größere Fußball-Europameisterschaft nächsten Monat.
Die Regierung versucht die Gewerkschaften zu dämonisieren – insbesondere die CGT, als führender Kraft in diesem Kampf. Die Gewerkschaften seien eine »Minderheit«, die versuchen würde, die »Öffentlichkeit zu erpressen«. Premierminister Valls wetterte im Parlament: »Die CGT macht nicht die Gesetze in diesem Land.« Präsident François Hollande beteuerte Anfang der Woche, dass die Bewegung keine Wiederholung des Generalstreiks vom Mai 1968 sei.
Doch Umfragen zeigen, dass eine klare Mehrheit der Französinnen und Franzosen mit den Streiks sympathisiert, die Regierung für den Mangel verantwortlich macht und sich die Rücknahme des Arbeitsgesetzes wünscht. Das Gesetz würde es für die Bosse einfacher machen, die hart erkämpften Arbeitsbedingungen zurückzudrängen, Beschäftigte länger arbeiten zu lassen und sie mit niedrigeren Löhnen abzuspeisen.
Regierung in der Zwickmühle
Arbeitsministerin Myriam El Khomri, die das neue Gesetz eingebracht hat, musste letzte Woche ein Fernsehinterview abbrechen. Demonstrierende klopften an die Scheiben des Studios und unterbrachen die Aufnahme.
Die Regierung befindet sich in einer Zwickmühle, in der wenig Raum für politische Manöver bleibt. Bisherige Zugeständnisse für gewisse Branchen animieren andere erst recht, den Kampf aufzunehmen – was wiederum dazu geführt hat, dass die Bosse nicht mehr geschlossen hinter dem Gesetz stehen.
Die Umfragewerte für Hollande und Valls sind auf ein Rekordtief gesunken und die nächsten Wahlen stehen bereits 2017 an. Sie wollen die von den Konzernen verlangten Angriffe auf die Lohnabhängigen durchführen und sich im gleichen Zug die Unterstützung der Bevölkerung sichern. Bislang gelingt ihnen beides nicht.
Kein Zurück an den Verhandlungstisch
Valls meinte in Richtung der Gewerkschaften, seine Tür sei für sie »immer offen«. Doch er hat bereits Vorschläge von Regierungsmitgliedern aus der zweiten Reihe abgelehnt, der Rebellion mit einem Referendum den Kopf abzuschlagen. Unerbittlich wehrte er sich auch gegen die Entschärfung jener Maßnahmen, die unter den Gewerkschaften besonders verhasst sind, wie der Möglichkeit für Betriebe, die Landes- und Branchenstandards durch lokale Arbeitsverträge zu unterwandern. Er bestand darauf: »Das ist das philosophische Herz des Gesetzesentwurfs.«
Die Regierung versucht die Gewerkschaften zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen, doch der Streik breitet sich aus. Weitere Aktionen könnten sicherstellen, dass die Gewerkschaftsführer nicht klein beigeben.
Dieser Artikel ist zuerst auf Socialist Worker erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von Alexander Akladious.
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Schlagwörter: Arbeitsgesetz, Atomkraftwerke, Bahnstreik, CGT, Frankreich, Gewerkschaften, Hollande, Loi Travail, Nuit Debout, Paris, Polizei, Polizeigewalt, Proteste, Repression, Streik