Das Attentat auf die Journalisten von „Charlie Hebdo“ war ein grauenhaftes Verbrechen. Doch die Antwort darauf ist keine Bewegung für das Recht auf rassistische Karikaturen, meint Hans Krause.
Maskierte Männer mit Gewehren stürmen die Redaktion und ermorden insgesamt zwölf Menschen. Die meisten davon Journalisten und Zeichner der traditionsreichen linken Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«.
Journalisten machen sich oft keine Freunde, werden scharf kritisiert, beleidigt und manchmal sogar angegriffen. Aber ein Attentat, das eine halbe Redaktion buchstäblich auslöscht, stellt eine neue Qualität der Gewalt dar und ist durch nichts zu rechtfertigen.
Viele spekulieren jetzt, ob die Mörder muslimische Dschihadisten oder Terroristen waren oder Kämpfer für den Krieg im Irak angeworben haben. Doch über die etwa vier Millionen Muslime in Frankreich, die dort seit Jahren für alles Übel dieser Welt verantwortlich gemacht werden, sprechen nur wenige.
Dabei sind sie es, die von der zunehmenden Armut im Land am meisten betroffen sind. Mittlerweile sind 140.000 Menschen in Frankreich obdachlos, doppelt so viele wie noch im Jahr 2001. Ein Viertel von ihnen ist berufstätig, verdient aber so wenig, dass es nicht für Miete reicht.
Ein Franzose mit heller Haut und französischem Namen wird bei gleicher Qualifikation zweieinhalb Mal so oft zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, wie jemand mit arabischem Namen. Die Chance auf einen Job ist bei seit langem hoher Arbeitslosigkeit für immer mehr Muslime so schlecht, dass sie sich nur noch mit Kleinkriminalität über Wasser halten können. Unter der Gesamtbevölkerung beträgt der Anteil der Muslime 7 Prozent, unter den Insassen der französischen Gefängnisse sind es 60 Prozent.
Hinzu kommt, dass die französische Regierung die Vorurteile gegen Muslime benutzt, um ohne größeren Widerstand Kriege in islamischen Ländern führen zu können. Allein in den letzten vier Jahren hat die französische Armee Libyen bombardiert, in Mali gekämpft, Kampfverbände in die Zentralafrikanische Republik geschickt, ebenso wie in den Tschad und den Norden Iraks bombardiert. Viele französische Muslime haben Verwandte und Freunde in den umkämpften Gebieten und müssen hilflos mit ansehen, wie diese von »ihrer« Regierung bombardiert und getötet werden.
Rassismus in »Charlie Hebdo«
Kenza Drider ist Mutter von drei Kindern und trägt den muslimischen Gesichtsschleier, der in ihrer Heimat Frankreich verboten ist. »Ich werde drei- bis viermal am Tag beleidigt«, erzählt sie. »Die meisten sagen: ›Geh nach Hause‹. Manche sagen: ›Wir bringen dich um.‹ Einer hat gesagt: ›Wir machen mit dir dasselbe wie mit den Juden.‹« Von solchen oder ähnlichen Vorkommnissen berichten sehr viel Muslime in Frankreich, vor allem aber Musliminnen.
Das »Kollektiv gegen Islamfeindlichkeit in Frankreich« dokumentierte 2014 in seinem Jahresbericht 691 islamophobe Gewalttaten. Das ist die mit Abstand höchste Zahl, seit der Bericht erstellt wird. Vermutlich gab es noch deutlich mehr Übergriffe.
Erst im Oktober letzten Jahres wurde eine Frau mit Gesichtsschleier während der Vorstellung aus der Pariser Oper geworfen. Mehrere Sänger hatten sich geweigert, weiterzumachen, so lange sie im Publikum sitze.
Was hat das mit »Charlie Hebdo« zu tun? Sehr viel. Denn auch diese Zeitschrift hat mit Bildern und Texten dazu beigetragen, dass der Hass auf Muslime mittlerweile bis in linke Kreise hinein »zum guten Ton« gehört. Das ist besonders bedauerlich, weil die Journalisten sich immer wieder an Kampagnen gegen Nazis und Rassismus beteiligt hatten.
Die jetzt in den Medien veröffentlichen »Charlie Hebdo«-Karikaturen über Muslime oder den Propheten Mohammed scheinen harmlos zu sein. Doch es gibt noch andere. Erst im vergangenen Oktober hat die Redaktion eine Ausgabe mit dieser Titelseite veröffentlicht:
Der Text bedeutet: »Die Sexsklavinnen von Boko Haram in Wut«
In der Sprechblase: »Hände weg von unserem Kindergeld!«
Solche Karikaturen rechtfertigen keine Morde und auch keine andere Art von Gewalt oder Zensur. Doch sie zeigen, dass der Kampf für eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft nicht durch eine Solidarisierung mit den Methoden von »Charlie Hebdo« gewonnen werden kann. Vielmehr benötigen wir eine Bewegung, die gegen den weit verbreiteten Hass gegen Muslime argumentiert und ihn zurückdrängt.
Gelingt das nicht, droht der Aufstieg des rechtsradikalen Partei „Front National“ weiterzugehen. Nach den letzten Umfragen würde die Vorsitzende Marine Le Pen bei einer Präsidentschaftswahl mit 29 Prozent die meisten Stimmen erhalten. Seit Jahren versucht sie, Muslimen die Schuld für Armut und Arbeitslosigkeit in die Schuhe zu schieben.
Die Journalisten von »Charlie Hebdo« haben oft darauf hingewiesen, dass sie keineswegs nur den Islam, sondern ebenso das Christentum und andere Religionen kritisieren und sich über sie lustig machen. Doch damit verkennen sie, dass der Islam, anders als das Christentum, in Frankreich die Religion einer unterdrückten Minderheit ist. Die Kritik an ihm wird seit Jahren missbraucht, um rassistische Vorurteile gegen Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und andere Migranten zu verbreiten.
»Der Koran ist scheiße.« »Er hält die Kugeln nicht auf.«
Wenn Muslime es ablehnen, in Karikaturen als gewalttätig, faul oder allgemein rückständig dargestellt zu werden, liegt das nicht an mangelnder Toleranz. Vielmehr sind es genau diese Vorurteile, die dazu führen, dass sie auf den französischen Straßen jeden Tag geschlagen und bespuckt werden. Dabei nützt es ihnen nichts, wenn der Rassismus gegen Muslime mit Witzen über die Katholische Kirche ergänzt wird.
Ebenso fehl am Platz ist das Argument, Satire müsse bissig und provozierend sein, dürfe nicht zensiert werden und gehöre zur Pressefreiheit. Zwar gehört es tatsächlich zu den Grundrechten einer freien Gesellschaft, auch rassistische Karikaturen veröffentlichen zu dürfen. Doch sie tragen nicht zu einer Lösung für die rassistische Atmosphäre in der Gesellschaft bei, sondern verschärfen sie.
Wer jetzt den großen linken Journalisten Kurt Tucholsky mit den Worten »Was darf Satire? Alles!« zitiert, sollte seinen gesamten Text lesen. Denn Tucholsky fordert in »Was darf die Satire?« (1919) eindeutig dazu auf, sich über die Herrschenden und Mächtigen lustig zu machen statt über die Unterdrückten: »Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer der heute den angreift und morgen den.«
»Ein Hanswurst, der heute den angreift und morgen den«
Es ist ein alter Trick rassistischer Autoren und Journalisten, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einzufordern, um damit den Eindruck zu erwecken, dass ihre Parolen auch richtig seien. In Deutschland hat bild.de diese Methode im Jahr 2010 berühmt gemacht. Damals rechtfertigte die Redaktion Thilo Sarazzins rassistische Thesen aus seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« mit der Überschrift: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«.
Der Sprachwissenschaftler Fredrik deBoer nennt diesen Trick, die »moralisch tote Frage« zu stellen. Bezüglich des Pariser Attentats bedeute das, »leidenschaftlich und rechtschaffen zu fragen: ›Sollten Menschen ermordet werden?‹ ›Sollten wir das Recht haben, Karikaturen zu veröffentlichen?‹ Solche Fragen zu diskutieren, erlaubt uns, all die anderen Fragen zu ignorieren, die uns vielleicht zu etwas anderem bringen, als unsere eigene liberale Rechtschaffenheit zu feiern.«
All diesen Argumenten liegt oft unausgesprochen die Behauptung zugrunde, dass der Islam in Europa eine böse oder gefährliche Religion sei, die bekämpft werden müsse. Tatsächlich ist er jedoch der Glaube einer mit Armut, Gewalt und Vorurteilen unterdrückten Minderheit der Gesellschaft.
»Der Papst in Paris: Die Franzosen, genauso saudumm wie die Neger.«
Wer glaubt, dass aufgeklärte und demokratische Menschen jede Religion und deshalb auch den Islam verurteilen müssten, ignoriert bewusst oder unbewusst, dass rechte und rechtsradikale Kräfte in ganz Europa mit der Kritik am Islam nur ihre Ausländerfeindlichkeit verschleiern wollen. Die Front National in Frankreich, Pegida und AfD in Deutschland oder die rechte UK Independence Party in Großbritannien versuchen alle, mit scheinbarer Kritik am Islam, Rassismus gegen alle Ausländer und dunkelhäutigen Menschen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.
Um zu sehen, wie gefährlich Kritik an Religionen sein kann, reicht ein Blick in die 1930er Jahre. Damals hat die NSDAP mit ähnlichen Argumenten, die heute gegen den Islam verwendet werden, gegen das Judentum gehetzt. Es gelang den Nazis auch durch antisemitische Karikaturen, den Glauben an den gefährlichen Charakter des »weltweiten Judentums« weit in bürgerliche Kreise zu tragen. Das war die Grundlage dafür, später Juden verprügeln, durch die Straßen zu treiben oder ermorden zu können, ohne dass es einen massenhaften Aufstand gegeben hätte.
Muslime und Nichtmuslime gemeinsam
Das Attentat in Paris ist eine furchtbare Tragödie und durch nichts zu rechtfertigen. Doch es ändert nichts daran, dass Muslime in Europa in den allermeisten Fällen nicht Täter, sondern Opfer von rassistischer Gewalt sind. Um eine friedliche und freie Gesellschaft zu erreichen, brauchen wir keine Bewegung für das Recht auf rassistische Karikaturen.
Viel wichtiger ist, dass wir den Anti-Islam-Hetzern von Pegida und AfD weiter erfolgreich die Straße streitig machen und auch gegen die mörderischen Mauern an der EU-Grenze mobilisieren, an denen Angela Merkel jedes Jahr tausende Flüchtlinge ertrinken lässt. Eine Bewegung von Muslimen und Nichtmuslimen gemeinsam gegen Krieg, Armut und Ausbeutung ist der einzig Erfolg versprechende Weg, um Hass und Gewalt zu überwinden.
Schlagwörter: Attentat, Frankreich, Front National, Islam, Islamophobie, Muslime, Rassismus