Rassismus und Islamophobie werden die wichtigsten Optionen für Macrons neue Rechte sein, wenn sie versucht, die in der gegenwärtigen Bewegung gegen die Rentenreform gezeigte Klasseneinheit zu untergraben. Von John Mullen
Die Massenbewegung zur Verteidigung der Renten in Frankreich hat die Welt beeindruckt und ist eine der größten Mobilisierungen in Europa zu Klassenfragen seit 1968. Viele Millionen sind in Hunderten von Städten auf die Straße gegangen. Massenstreiks und kleinere wilde Streiks, Besetzungen, Schulblockaden, direkte Aktionen und Krawalle waren Teil des Ganzen. Die Bewegung hat noch nicht gewonnen oder verloren, aber sie hat sich die Unterstützung der großen Mehrheit der Bevölkerung bewahrt, die dem Gejammer der Regierung, wir müssten alle den Gürtel enger schnallen und zwei Jahre länger arbeiten, keinen Glauben schenkt.
Diese Bewegung hat einmal mehr ein weit verbreitetes politisches Klassenbewusstsein im Lande offenbart. Eine große Zahl von Menschen, die nicht persönlich von der Reform betroffen sind, hat sich dem Kampf angeschlossen, genau wie 2006, als die Bewegung, die die Abschaffung eines Gesetzes erzwang, das prekäre Arbeitsverträge für alle unter 26-Jährigen vorschrieb, Arbeitnehmer:innen aller Altersgruppen einschloss. Dieses Klassenbewusstsein hat im Laufe der Jahre unter anderem den Aufstieg der radikalen Linken France Insoumise (»Frankreich in Aufruhr«) ermöglicht, die bei den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr sieben Millionen Stimmen erhalten hat.
Aber auch eine andere Besonderheit Frankreichs fand im Frühjahr 2022 weltweiten Widerhall. Dreizehn Millionen Menschen (41 Prozent der Wähler, d.h. 25 Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung) stimmten bei denselben Präsidentschaftswahlen für die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen. Diese Kandidatin verspricht, nicht in Frankreich lebenden Ausländern den Bezug von Sozialleistungen oder Sozialwohnungen zu verwehren, muslimische Kopftücher auf den Straßen zu verbieten und die »Einheit der Nation« in den Mittelpunkt ihres rassistischen Programms zu stellen. Sie unterhält außerdem diskrete Verbindungen zu Nazis, die auf der Straße kämpfen (wie diejenigen, die diesen Monat das Haus eines Bürgermeisters einer Kleinstadt in Brand setzten, der sich für den Bau eines Asylbewerberheims einsetzte). Le Pens Partei »Nationale Versammlung« behauptet oft, »die führende Arbeiter:innenpartei in Frankreich« zu sein.
Offensichtlich gibt es eine starke Polarisierung in der Gesellschaft, die durch den Bankrott der traditionellen Rechten und der Linken der Sozialistischen Partei begünstigt wird, die bei den Präsidentschaftswahlen 2022 zusammen weniger als 7 Prozent der Stimmen erhielten (obwohl der eine oder andere das Land jahrzehntelang regiert hatte).
Die rassistische Karte ausspielen
Rassismus und Islamophobie werden die wichtigsten Optionen für Macrons neue Rechte sein, wenn sie versucht, die in der gegenwärtigen Bewegung gezeigte Klasseneinheit zu untergraben. Die Tatsache, dass Macron ursprünglich aus einer Strömung des rechten Denkens stammte, die Angriffe auf Muslime nicht als Priorität ansah, verlor an Bedeutung, als er erkannte, wie profitabel solche Angriffe sein können. So kam es im vergangenen Jahr zur Einführung des lächerlichen »Gesetzes gegen Separatismus« (das Moscheen und muslimischen Wohltätigkeitsorganisationen das Leben schwer macht) und zu weiteren Angriffen, die vor allem darauf abzielen, denjenigen, die Le Pen wählen, zu sagen: »Wählt uns, wir misstrauen auch den Muslimen«. (Lies hier den marx21-Artikel: »Macron gegen die französische Arbeiter:innenschaft – wer gewinnt?«)
In diesem Monat forderte die Schulbehörde von Toulouse die Lehrer auf, an einer polizeilichen Umfrage mitzuwirken, mit der ermittelt werden sollte, wie viele Schüler für das Zuckerfest, ein wichtiges muslimisches Fest, frei genommen hatten. Mit jeder Ausrede wird suggeriert, dass das große Problem des Tages die Präsenz von Muslimen in unserer Gesellschaft sei. In diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit der aktivistischen Linken und der Gewerkschaften, ihrem Antirassismus lautstark Priorität einzuräumen, von größter Bedeutung.
Historische Schwäche
Die radikale und revolutionäre französische Linke ist jedoch traditionell schwach im aktiven Kampf gegen Rassismus. Kürzlich fand eine rechte Hetzkampagne gegen eine Studentengewerkschaft, die manchmal Seminare organisiert, die Schwarzen Mitgliedern vorbehalten sind, viel zu wenige Verteidiger in der Linken. Und jahrzehntelang hat keine linke Organisation den Kampf gegen Islamophobie ernst genommen; auch heute sind sie oft enttäuschend.
Als 2016 rechte Bürgermeister das Tragen von Ganzkörper-Badeanzügen durch muslimische Frauen an ihren Stränden verboten, reagierte die Linke bestenfalls mit papiernen Anprangerungen. Schlimmstenfalls verbreiteten linke Organisationen (darunter Teile der France Insoumise) die lächerliche Idee, dass solche Badeanzüge Teil einer finsteren politischen Kampagne seien. Als im Jahr 2020 die Rechtshilfeorganisation Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich verboten wurde (eine Entscheidung der Regierung, die von Amnesty International angeprangert wurde), gab es außer lauwarmen Pressemitteilungen keine linken Mobilisierungen. Im Jahr 2021 lud die France Insoumise einen bekannten Islamfeind, Henri Pena Ruiz, ein, auf ihrer Sommerschule zu sprechen (was glücklicherweise einen Aufschrei auslöste). Im Jahr 2022 stieß eine bösartige Kampagne der Rechten gegen Ganzkörperbadeanzüge in städtischen Schwimmbädern, die von den Gerichten unterstützt wurde, auf den halbherzigen Widerstand der Linken.
Fortschritte
Dennoch sind in den letzten zehn Jahren echte Fortschritte erzielt worden. Vor allem die Veränderungen in den Reden des FI-Vorsitzenden Jean Luc Mélenchon sind sehr bemerkenswert. Er verteidigt nun in allgemeinen Fernsehinterviews und Reden lautstark Muslime gegen Rassismus, was dazu beigetragen hat, dass eine große Mehrheit der Muslime letztes Jahr für ihn gestimmt hat. Auch die Neue Antikapitalistische Partei hat Fortschritte gemacht, seit (2011) Frauen, die den Niqab tragen, auf der Titelseite der NPA-Zeitung mit einem Artikel beleidigt wurden, in dem sie als »Vögel des Todes« bezeichnet wurden. 2019 fand in Paris erstmals eine Massendemonstration speziell gegen Islamophobie statt. Sowohl die FI als auch die NPA waren sehr präsent, obwohl es in beiden Organisationen sicherlich viele Mitglieder gab, die sich weigerten, den Marsch zu unterstützen. Auch heute noch gibt es in praktisch allen linken und linksextremen Organisationen eine bedeutende Minderheit, die die Islamophobie nicht bekämpfen will, und die nationalen Führungsspitzen zögern daher, in dieser Frage viel Lärm zu machen.
Die Schwäche der Linken und der extremen Linken in diesen Fragen führte zum Entstehen unabhängiger Aktivistennetzwerke unter nicht-weißen Bürgern, vor allem in multiethnischen Vorstädten, die sich häufig vorrangig dem Kampf gegen Polizeirassismus widmen. Diese Netzwerke haben eine starke antikapitalistische Komponente, wie aus dem kürzlich erschienenen Buch von Houria Bouteldja , Rednecks and Barbarians, (Beaufs et Barbares) hervorgeht, in dem sie auf eine Einigung zwischen weißen Arbeiter:innen aus der Provinz, den »Rednecks«, und schwarzen Bürgern der zweiten Klasse hofft. In solchen Kreisen hört man aber auch die Vorstellung, dass man »weißen Gewerkschaften« und »der weißen Linken« niemals trauen kann. Diese Netzwerke hätten der großen antikapitalistischen Linken viel näher stehen können, wenn diese nicht so schwach im Kampf gegen Rassismus und insbesondere gegen Islamophobie gewesen wäre. (Lies hier den marx21-Artikel: »Die Revolte gegen Macron und der Kampf gegen Faschismus in Frankreich«).
Heute
Die Kampfkraft der Bewegung zur Verteidigung der Renten und eine gute Mobilisierungsarbeit haben in letzter Zeit zu einem Aufschwung der antirassistischen Demonstrationen geführt. Am 1. Mai fand in Le Havre eine große Gegendemonstration zu Marine Le Pens »Bankett für die Nation« statt; nächste Woche findet eine weitere antifaschistische Mobilisierung (zur Verteidigung des oben erwähnten Bürgermeisters) statt, und Ende April gab es einen Aktionstag gegen Rassismus und für die Rechte von Arbeitsmigranten ohne Papiere. An diesem Tag fanden in Dutzenden von Städten große Kundgebungen statt, die von den Gewerkschaften breit unterstützt wurden. (Lies hier den marx21-Artikel: »Die französischen Gewerkschaften und die Revolte gegen Macron«).
Einige Kommentatoren haben behauptet, dass die derzeitige Bewegung zur Verteidigung der Altersrenten die nicht-weiße Bevölkerung in den ärmeren, multiethnischen Vorstädten nicht mobilisiert hat. Daran ist nur ein kleines Körnchen Wahrheit dran. Sicherlich ist es für Arbeitnehmer:innen mit weniger stabilen Verträgen schwieriger, zu streiken (und nicht-weiße Arbeitnehmer:innen haben im Durchschnitt wesentlich prekärere Arbeitsverhältnisse). Außerdem ist man sich als Schwarzer oder Araber durchaus bewusst, dass man im Falle von Polizeigewalt das bevorzugte Ziel sein wird, und das wird einige natürlich davon abhalten.
Viele schwarze Arbeitnehmer:innen in den Gewerkschaften waren jedoch voll in die Streiks eingebunden. In einigen Städten schlossen sich den Rentendemos Demonstrationen an, die Papiere für Migranten ohne Papiere forderten. Und im April gaben fünfzig Rapper, darunter einige der bekanntesten des Landes, ein Konzert in den Pariser Vorstädten, um Geld für die Streikenden zu sammeln. Dies war ein Symbol für die Mobilisierung einer Kultur, die in multiethnischen Gebieten neben den etablierten Gewerkschaften am stärksten ist.
Macrons Leute haben viel mehr Angst vor dem Klassenkampf und vor der radikalen Linken als vor rechtsextremen Rassist:innen, und sie haben das dringende Bedürfnis, eine kämpferische Arbeiter:innenklasse zu spalten. Wir können also mit weiteren rassistischen Provokationen rechnen, und es besteht die reale Gefahr, dass rechte Parteien und Faschisten enger zusammenarbeiten. Eine entschlossene antirassistische Mobilisierung ist das, was die Einheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse voranbringen kann.
John Mullen ist ein revolutionärer Sozialist, der in der Region Paris lebt, und ein Unterstützer der France Insoumise.
Titelbild: John Mullen
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Frankreich