Der Sieg des »Rassemblement national« im ersten Wahlgang in Frankreich ist ein schwerer Rückschlag. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Frankreich bald seine erste faschistische Regierung seit der Nazi-Besatzung haben wird. Trotzdem konnte auch die Linke und das Bündnis der »Nouveau Front Populaire« (NFP) echte Fortschritte machen. John Mullen mit einer antikapitalistischen Perspektive auf die tiefe politische Krise in Frankreich
John Mullen ist revolutionärer Sozialist und Unterstützer von »La France insoumise« (FI). Er lebt im Großraum Paris und schreibt regelmäßig auf marx21.de. Weitere Beiträge von ihm findest du auf seiner Website randombolshevik.org.
In der ersten Runde der französischen Parlamentswahl haben rund 33 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben, während 16 Millionen zu Hause geblieben sind. Zehneinhalb Millionen stimmten für den rechtsextremen »Rassemblement national« (RN) und seine engen Verbündeten. Fast neun Millionen unterstützten das Linksbündnis »Nouveau Front Populaire« (NFP), in dem die radikale Linke »France Insoumise« (FI) die einflussreichste Kraft ist. Sechseinhalb Millionen stimmten für die Kandidat:innen von Macron und drei Millionen für die bürgerlich-konservativen Republikaner.
Defätismus ist aktuell weit verbreitet. Gleichzeitig gab es in den letzten drei Wochen dynamischere antifaschistische Aktivitäten als in den drei Jahren zuvor. Und der laufende Wahlkampf der Linken ist der energischste seit mehreren Jahrzehnten.
NFP: Nutzen für die Arbeiter:innenklasse
Die wichtigste Frage ist nicht: »Wie viele Meinungsverschiedenheiten haben Antikapitalist:innen mit dieser oder jener politischen Kraft?« Wir müssen von den Klasseninteressen ausgehen und fragen, was für die arbeitenden Menschen nützlich ist.
Zweifellos ist die NFP als Bündnis aus den vier linken Parteien von Nutzen für die Arbeiter:innenklasse. Es war vor allem der Druck von unten, der sie überhaupt ermöglicht hat. Aufgrund des Zwei-Runden-Wahlsystems hat die bloße Existenz des Linksbündnisses den Faschist:innen ein paar Dutzend Sitze weggenommen. Darüber hinaus hat das NFP-Programm zehntausende von Aktivist:innen für eine echte linke Alternative mobilisiert.
Das Programm, das in Form von etwa 150 Maßnahmen präsentiert wird, enthält unter anderem Zusagen zur Erhöhung des Mindestlohns um 14 Prozent, zur Beendigung von Obdachlosigkeit, zur Auflösung der gewalttätigsten Polizeieinheiten, zur sofortigen Anerkennung des Staates Palästina und zur Beendigung der Waffenlieferungen an Israel, um nur einen winzigen Teil der Punkte zu nennen.
Natürlich wurden Kompromisse gemacht. Der Austritt aus der Nato wird nicht erwähnt und die Frage der Atomkraft wird nicht angesprochen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Grünen oder die FI ihre Positionen in diesen Fragen aufgegeben haben. Jede der beteiligten Parteien kann weiterhin ihre eigenen inhaltlichen Prioritäten verteidigen.
Die Parteien haben sich darauf geeinigt, die Wahlkreise aufzuteilen und nicht gegeneinander anzutreten. Das bedeutet auch, dass wir mit einigen der Kandidat:innen nichts gemein haben. Die Sozialistische Partei wählte beispielsweise mit François Hollande den sozialliberalen Ex-Präsidenten, als einen ihrer Kandidaten. Das ist der Preis für ein solches unverzichtbares Bündnis.
Welle des Antifaschismus
Gegenwärtig sind die Faschist:innen innerhalb des Parlaments viel mächtiger als außerhalb. Obwohl sie bei manchen Wahlen bis zu 13 Millionen Stimmen erhalten haben, schafft es der RN nicht, Massendemonstrationen auf die Straße zu bringen. In den meisten Städten haben sie keine nennenswerte Parteistruktur. Mehr als zweihundert Sitze im Parlament zu erringen, was durchaus möglich erscheint, könnte für den RN einen großen Schritt nach vorn bedeuten, sodass natürlich in dieser Woche der Wahlkampf gegen sie im Vordergrund stehen muss. Es wäre im Moment auf jeden Fall absolut lächerlich, den Neulingen zu sagen: »Kommt und schließt euch unserer antifaschistischen Bewegung auf der Straße an. Im Übrigen ist es uns egal, ob Jordan Bardella nächste Woche Premierminister ist oder nicht.«
Diejenigen in der Linken, die dem Wahlbündnis den Kampf auf der Straße entgegenstellen wollen, irren sich also. Das Bündnis hat die antifaschistische Aktivität gefördert. Junge Menschen skandieren auf Demonstrationen sowohl »Siamo tutti antifacisti!« als auch »Front populaire« und »Free, Free Palestine!«
Die breite antifaschistische Aktivität, die Frankreich in diesen zwei Wochen im Sturm erobert hat, ist auch von großem Wert für die arbeitenden Menschen. Linke Parteien, aber auch Gewerkschaften, Frauenrechtsgruppen, Wohlfahrtsverbände und NGOs wie Attac oder Greenpeace ziehen alle Register, verteilen Flugblätter an Bahnhöfen und kontaktieren alle ihre Unterstützer:innen.
800 000 Menschen demonstrierten infolge einer Initiative der Gewerkschaften in über 200 Städten. Frauenrechtsgruppen organisierten Märsche in Dutzenden von Städten. Jeden Tag finden Kundgebungen statt, zu denen Jugendorganisationen oder die radikale linke Presse aufrufen. Am 3. Juli fand in Paris ein großes Konzert unter freiem Himmel statt, bei dem die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und Dutzende von Redner:innen auftraten. Aus Kreisen, aus denen man es nicht erwartet hatte, häufen sich die Aufrufe gegen die extreme Rechte. 800 klassische Musiker:innen unterzeichneten einen Aufruf, 2500 Wissenschaftler:innen einen anderen, und es gab ähnliche Initiativen von sozialwissenschaftlichen Zeitschriften, Universitätskanzler:innen, Rapper:innen und Rockmusiker:innen. Fußballstars, Radfahrer der Tour de France und viele andere haben sich zu Wort gemeldet. Akademische Gesellschaften, die linke Presse und das Theaterfestival in Avignon haben Appelle oder Veranstaltungen organisiert.
Antirassistischer Wahlkampf
Während sich Gewerkschaftsvertreter:innen oft auf die schreckliche Wirtschaftspolitik der extremen Rechten konzentrieren, stellen andere Linke zu Recht den Antirassismus in den Vordergrund. Auf seiner Massenveranstaltung in Montpellier vor zehn Tagen stellte Jean-Luc Mélenchon den Antirassismus und insbesondere den Kampf gegen die Islamophobie in den Mittelpunkt. Die FI-Abgeordnete Clémence Guette und andere betonten im Fernsehen zur Hauptsendezeit, dass der Rassismus im Zentrum der RN-Ideologie steht.
Die massenhafte Beteiligung an antifaschistischen Aktivitäten aller Art ist eine Möglichkeit, der rund um die Uhr präsenten Medienpropaganda über »Links- und Rechtsextremismus« und den Lügen über die angebliche Gewalttätigkeit und den Antisemitismus der radikalen Linken entgegenzutreten.
Der Wahlkampf der Linken und die antifaschistische Welle sind im Allgemeinen nicht voneinander zu trennen. In einer Woche haben sich über 50.000 Menschen als Unterstützer:innen von France Insoumise registriert und Zehntausende haben sich bereit erklärt, sich an den Kampagnen zu beteiligen. Dutzende von Bussen durchqueren das Land, um FI und andere Aktivist:innen in die Städte zu bringen, in denen der RN stark ist. Massenhafter Haustürwahlkampf – kein traditioneller Teil von Wahlkampagnen hier in Frankreich – wird alltäglich.
Mehr antifaschistische Aktivitäten, die Einrichtung von permanenten Netzwerken für antifaschistische Aufklärung und Störung der Rechten und eine stärkere France Insoumise sind notwendig. Die FI hat trotz der Grenzen ihrer »bürgerlichen Revolutionsperspektive« den Völkermord in Gaza lautstark angeprangert, den Kampf gegen Islamophobie in die linke Mainstream-Politik eingebracht, in der dieser jahrzehntelang beschämenderweise abwesend war, und es geschafft, die Bedeutung der Besteuerung der Reichen, des Übergangs zu 100 Prozent biologischer Landwirtschaft und 100 Prozent erneuerbaren Energien in den Mittelpunkt der politischen Debatte zu stellen. Wenn die FI und insbesondere Mélenchon so heftig angegriffen werden, dann deshalb, weil sie für einen radikalen Bruch mit dem neoliberalen Business-as-usual stehen, der längst noch nicht abgeschlossen ist. Das ist der Grund für ihre sehr starken Ergebnisse in den multiethnischen Arbeitervierteln der Städte und ihre Fähigkeit, eine große Zahl neuer Aktivist:innen anzuziehen.
NFP vs. RN: Die zweite Wahlrunde
Macron, der jahrelang rechtsextreme Ideen gefördert hat, erklärt nun, dass »keine einzige Stimme an den RN gehen sollte«, aber einige seiner Abgeordneten weigern sich, in Städten, in denen nur die Linke und die Faschist:innen im zweiten Wahlgang antreten, zur Wahl der Linken aufzurufen.
Auch in der Linken wird heftig darüber gestritten, was zu tun ist, wenn sie in einem Wahlkreis in der ersten Runde auf dem dritten Platz gelandet ist. Macron gegen Le Pen zu unterstützen, hat sich in den letzten sieben Jahren als katastrophale Strategie erwiesen. Andererseits ist es möglich, linke Kandidat:innen zurückzuziehen, ohne dazu aufzurufen, den oder die im Rennen verbliebene:n Kandidat:in der Rechten oder der Mitte zu unterstützen. France Insoumise hat sich im Allgemeinen darauf verständigt, für »keine einzige Stimme für den RN!« zu werben.
Die Ergebnisse der zweiten Runde der Wahlen am Sonntag, den 7. Juli, sind unmöglich vorherzusagen. Entscheidend ist, wie die Nichtwähler:innen von letzter Woche dazu gebracht werden können, ihre Stimme abzugeben.
Das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass keine Kraft eine Mehrheit erreichen wird, es aber auch nicht leicht wird, eine Koalition zu bilden. Ein großer Teil der bürgerlich-konservativen Rechten wird sich weigern, mit der RN zu regieren. Teilweise wird von der katastrophalen Möglichkeit einer »Regierung der nationalen Einheit« mit konservativen Republikanern, Macronisten und einigen Sozialist:innen und Grünen gesprochen. Selbst ein kleiner Teil des rechten Flügels der France Insoumise könnte sich davon verführen lassen. Eine solche Regierung der nationalen Einheit, die auf radikale Reformen zugunsten der Arbeitnehmer:innen verzichtet, dürfte den Weg für eine starke RN-Regierung in ein paar Jahren ebnen.
Aber es kann gut sein, dass es in der Linken nicht genug Befürworter:innen gibt, um eine solche Regierung zustande zu bringen. In jedem Fall ist die NFP, wie jede politische Konstellation in dieser tiefen Krise, zerbrechlich.
Wenn keine stabile Regierung gebildet werden kann, wird der außerparlamentarische Kampf wichtiger denn je sein. Der Aufbau einer starken radikalen Linken muss fortgesetzt werden, und Marxist:innen müssen innerhalb dieser Linken arbeiten und dabei ihre eigene solidarische, aber zutiefst unabhängige Stimme behalten.
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Schlagwörter: Frankreich, Le Pen, Macron, Mélenchon