Zwei dschihadistische Terrorattacken haben in Frankreich zu einer bisher nie da gewesenen rassistischen Offensive gegen Musliminnen und Muslime geführt. Eine Handreichung für Antirassisten. Von John Mullen aus Paris
Die brutale Ermordung des Gymnasiallehrers Samuel Paty am 16. Oktober auf offener Straße durch einen Dschihadisten hat das ganze Land schockiert. Die Tötung von drei Katholiken in einer Kirche in Nizza nur 13 Tage später durch einen jungen Muslim, der erste wenige Tage zuvor nach Frankreich eingereist war, hat weiter Öl ins Feuer gegossen. Emmanuel Macron zögerte keinen Augenblick, die Gelegenheit, die ihm diese furchtbaren Taten boten, beim Schopf zu ergreifen, um alle Muslime zu stigmatisieren. Damit versucht er, Marine Le Pen und ihre Faschisten rechts zu überholen.
Macrons islamfeindliche Kampagne
Der antimuslimische Rassismus in Frankreich erstarkt schon seit vielen Jahren, aber in den letzten Wochen hat er eine gefährliche Beschleunigung erfahren. Schon vor den beiden Terroranschlägen hatte Macron seine rassistische Offensive in Gestalt einer Gesetzesvorlage »gegen Separatismus« – so die ursprüngliche Bezeichnung – vorbereitet. Das Gesetz gäbe dem Staat die Handhabung, Organisationen und Vereine zu verbieten und aufzulösen, die sich nicht zu den »republikanischen Werten« bekennen. Es enthält auch vollkommen skurrile Elemente, wie Gefängnisstrafen für Männer – sprich Muslime –, die sich weigern, sich von einer Ärztin behandeln zu lassen.
Macron gibt vor, dieses Gesetz beziehe sich auf ganz unterschiedliche Gruppen, auch auf rassistische Weiße. Doch in Wirklichkeit geht es um die Propagierung des Mythos, wonach Musliminnen und Muslime sich weigern würden, Teil der französischen Gesellschaft zu sein. Das ist eine erfundene Gefahr. Muslime sind beispielsweise weitaus weniger darauf erpicht, ihre Kinder auf getrennte Schulen zu schicken, als fromme Katholiken oder Juden. Es gibt in Frankreich 9.000 private katholische Schulen und etwa 300 private jüdische Schulen und nur etwa 20 private muslimische Schulen – bei einer muslimischen Bevölkerung von fünfeinhalb Millionen.
Verhaftungen, Razzien, Verbote: Muslime im Visier
Die Regierung von Emmanuel Macron nutzt nun die beiden Terroranschläge aus, um ihre anti-muslimische Hetzkampagne weiter anzuheizen. So wurden bereits Hunderte von Menschen abgeschoben oder verhaftet und ihre Wohnungen durchsucht, die in keinerlei Verbindung zu den Terroranschlägen stehen. Seine Regierung verbietet muslimische Organisation, denen vorgeworfen wird, in den »politischen Islam« verwickelt zu sein – eine praktischerweise sehr breit gefasste Bezeichnung, die es ermöglicht, gegen Wohltätigkeitsorganisationen, Rechtshilfestellen und antirassistische Gruppen vorzugehen. Sein Innenminister Gérald Darmanin verkündete Razzien bei mehr als 50 Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Moscheen sowiedie Zwangsauflösung einiger von ihnen, darunter auch das »Kollektiv gegen Islamfeindlichkeit« (CCIF; Collectif contre l’Islamophobie en France«).
Macron will Menschenrechtsgruppen verbieten
Dabei unterhält das CCIF gute Kontakte zu mehreren Ministerien und arbeitet mit weiteren staatlichen Gremien zusammen, wie der Nationalen Beratungskommission für Menschenrechte und dem staatlich anerkannten französischen Islamrat (CFCM; Conseil Français du Culte Musulman). Das CCIF ermutigt die Muslime im Land, ihm jegliche Art von Diskriminierung zu melden. Dafür hat es eine Hotline und eine App eingerichtet. Es verfasst einmal im Jahr einen Bericht über die Islamfeindlichkeit in Frankreich (http://www.islamophobie.net/rapport-2020/). Es organisiert Mediation bei Konflikten oder hilft bei der Suche nach Rechtsanwälten, damit Betroffene sich gegen islamfeindliche Diskriminierung am Arbeitsplatz oder anderswo wehren können. Es ist fast die einzige Organisation dieser Art, an die sich von Diskriminierung betroffene Musliminnen und Muslime wenden können. Es erhält seit einigen Jahren Geldmittel von der Stadtregierung von Grenoble und kooperiert seit Jahren mit einer Reihe von UNO-Körperschaften, wofür es Beobachterstatus zuerkannt bekommen hat. Die Organisation hat sich klar und deutlich in mehreren Statements von terroristischen Taten distanziert und den Terrorismus stets scharf verurteilt.
Keine Beweise für Verbindung zum Terrorismus
Eine Gruppe, die bereits unmittelbar nach den Terroranschlägen am 28. Oktober von Frankreichs Innenminister verboten wurde, obwohl es keinerlei Beweise gibt, die sie mit Terrorismus in Verbindung bringen, ist die im Jahr 2008 gegründete islamische Wohltätigkeitsorganisation »Barakacity«. Die Organisation wurde bekannt für ihre Kampagne, Teile von Westafrika mit sauberem Wasser zu versorgen, auch für ihr Bemühen , obdachlosen Menschen in der Pariser Region zu helfen, oder für ihre Initiative, die Bestattungskosten für Geflüchtete, die in Calais oder bei der versuchten Überfahrt nach England gestorben sind, zu übernehmen. Der Innenminister begründete den Schritt mit angeblichen Verbindungen der NGO zur »radikal-islamistischen Bewegung«. Ihr wird vorgeworfen »sich daran zu erfreuen, terroristische Handlungen zu rechtfertigen«.
Details, die in dem von Darmanin geteilten Dekret dargelegt wurden, beschuldigten BarakaCity und seinen Gründer Idriss Sihamedi, »hasserfüllte, diskriminierende und gewalttätige Ideen über seine Social-Media-Konten zu verbreiten«. Als Beweis wird unter anderem ein Fernsehinterview aus dem Jahre 2016 angeführt, in dem Sihamedi sich angeblich weigerte, den Islamischen Staat (IS) zu verurteilen. Auf Twitter antwortete die Organisation: »Das beigefügte Dekret ist ein Gefecht aus Lügen, und viele dieser Behauptungen wurden bereits von den Geheimdiensten widerlegt, die sie zurückgewiesen haben!«. In der französischen Presse kursiert zudem der Vorwurf, die Organisation würde die Wohltätigkeitszwecke vortäuschen, weil es ihr eigentlich darum gehe Menschen zum Islam zu missionieren. Doch glaubensorientierte Wohltätigkeitsorganisationen sind von der Religionsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft abgedeckt und das Agieren von beispielsweise katholischen Wohltätigkeitsorganisationen, die auch einen »missionarischen Auftrag« erfüllen, wird demgegenüber nicht kritisiert.
»Die Angst wird jetzt die Seiten wechseln«
Eine Moschee in Pantin, die in vergangenen Wochen Sympathien mit Kritiken an Samuel Patys Unterricht gezeigt hatte, wurde geschlossen, obwohl es keinerlei Belege gibt, dass die Moscheeverantwortlichen irgendwelche Gewalt befürwortet hätten. In den Tagen nach dem Mord verkündete der Innenminister ganz offen, sie holten viele Menschen ohne Bezug zur Morduntersuchung, »um die Botschaft rüberzubringen«. Macron erklärte, »die Angst wird jetzt die Seiten wechseln«. Bereits in seiner Rede auf einer Pressekonferenz am 2. Oktober propagierte er die Mär vom »Kampf der Kulturen«, die Islamisten würden eine »Parallelgesellschaft« (contre-société) aufbauen.
Hetze statt Versöhnung
Innenminister Darmanin erklärte seinerseits im TV-Infokanal BFM die Supermärkte mit Halal-Produkten zum Problem: »Es hat mich schon immer schockiert, zu sehen, dass in großen Supermärkten ein Regal mit kulinarischen Spezialitäten einer community steht und daneben die einer anderen. Ich meine: So fängt es doch an mit dem Kommunitarismus.«
Vor wenigen Wochen sagte der gleiche Innenminister, »der Islam in Frankreich muss sich vergewissern, dass alle Gläubigen die Gesetze der Republik als denen Gottes übergeordnet akzeptieren«. Dabei halten Gläubige vieler Religionen ihren Gott den menschlichen Institutionen für überlegen – das macht sie jedoch nicht zu Terroristen oder Killern! Mit solche pauschalen Äußerungen über den Islam ist der Innenminister nicht alleine. So tönte François Fillon, ehemaliger Premierminister von Frankreich, er sei für die Ausweitung des Kopftuchverbotes. So sollen Kopftuchtragende Mütter nicht mehr als ehrenamtliche Helferinnen an Schulausflügen teilnehmen dürfen. Auch in öffentlichen Einrichtungen mit Publikumsverkehr und an den Universitäten wollte Fillon keine »religiösen Symbole« mehr sehen.
Sündenbockpolitik
Was steht hinter der Anti-Islam-Kampagne von Präsident Emmanuel Macron? Die Regierung nutzt die Situation um einen weiteren Rechtsruck des politischen Establishments zu rechtfertigen, die Befugnisse der Polizei auszuweiten und die demokratischen Rechte der Bevölkerung einzuschränken. Außerdem will er Stimmen von Rassistinnen und Rassisten gewinnen. Die Faschistin Marine Le Pen erhielt zehn Millionen Wählerstimmen bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 – das bislang höchste Ergebnis für die extreme Rechte. Präsident Macron seinerseits ist extrem unbeliebt wegen seiner drastischen Rentenkürzungspläne, gegen die letztes Jahr Millionen streikten. Es war für ihn daher nur zu verlockend, sich auf die Suche nach einem Sündenbock zu machen (Lies hier den marx21-Artikel: »Rassismus und das französische Establishment«).
Linke Schwächen
Doch der Rechtskurs fällt ihm auch deswegen besonders leicht, weil die Linke in Frankreich, auch die radikale Linke, eine konfuse Haltung zum antimuslimischen Rassismus hat. Dank der beharrlichen Arbeit einer Minderheit von Aktivisten hat sich hier das Bild im Laufe der letzten fünf Jahre zwar etwas erhellt, aber heute noch hält weitaus weniger als die Hälfte linker Aktivisten und Aktivistinnen den Kampf gegen antimuslimischen Rassismus für wichtig. Das im Jahr 2004 eingeführte Gesetz gegen das Tragen eines Kopftuches (Hidschāb) durch Gymnasiastinnen blieb so gut wie unwidersprochen. Und zwölf Jahre später, als etwa zwanzig Stadtverwaltungen das Tragen von Ganzkörperschwimmanzügen an Stränden und in Schwimmbädern verboten, beschränkte sich die Opposition bestenfalls auf einige wenige Pressemitteilungen. Die Rechte ist sich vollkommen bewusst, dass ihre wortgewaltigen Angriffe auf Musliminnen und Muslime von der Linken nur halbherzig gekontert werden (Lies hier den marx21-Artikel: »Burkiniverbot und Kopftuch-Streit: Die Wurzeln der Islamfeindlichkeit in Frankreich«).
Islamfeindlichkeit als Waffe gegen die Linke
Neben seinem Bestreben, rassistische Stimmen zu gewinnen, will Macron die Krise nutzen, um die wichtigste Linke Opposition zu beschädigen, indem er sie als »nachsichtig gegenüber dem islamischen Extremismus« porträtiert. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen erhielt der linke Reformist Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise (Das unbeugsame Frankreich) mit seinem radikalen Programm im Stil Corbyns sieben Millionen Stimmen. La France Insoumise, wie die übrige französische Linke, war lange Zeit schwach im Kampf gegen antimuslimischen Rassismus, hat aber in jüngster Zeit aufgeholt, vor allem unter dem Druck von erstarkenden schwarzen und muslimischen antirassistischen Netzwerken. So sitzt die langjährige Aktivistin gegen Islamfeindlichkeit und eine der beiden Sprecherinnen Mélenchons, Danièle Obono, seit 2017 für France Insoumise in der Nationalversammlung. Im November 2019 fand die allererste Großdemonstration gegen Islamfeindlichkeit in Paris statt. Mélenchon setzte – gegen beträchtlichen innerparteilichen Druck – durch, dass FI die Demonstration unterstützt. Der Bildungsminister Blanquer beschuldigte FI diese Woche, »Islamo-Linke« zu sein und »eine Ideologie zu befürworten, die Stück für Stück zum Terrorismus führt«.
Diese Attacken finden Anklang bei Teilen der Linken. Es gibt in Frankreich eine lange Tradition, wonach Linkssein mit politischen Angriffen und Verhöhnungen von Gläubigen einhergehen muss (Lies hier den marx21-Artikel: »Der falsche Säkularismus«). In den letzten 25 Jahren hat diese Tradition auch die Attacken gegen den Islam genährt. Viele Linke – mit der Ausrede, sie würden alle Religionen gleichermaßen kritisieren – unterstützen islamfeindliche Gesetze und Kampagnen der Regierenden oder beteiligen sich sogar aktiv daran. So brandmarkte die Zeitung der revolutionären »Nouveau Parti anticapitaliste« (NPA) auf ihrer Titelseite Frauen, die den Niqab tragen, als »Vögel des Todes«. Zum Glück hat sich die heutige NPA von diesem Kurs soweit gelöst, dass die Partei die Demonstration gegen antimuslimischen Rassismus im vergangenen November unterstützen konnte.
Unidozenten als Zielscheibe
Macrons Minister setzen mittlerweile auf einen rechten Populismus im Stile Trumps und greifen Universitätslehrende an, die zu Rassismus und Antirassismus forschen. Der französische Bildungsminister Jean-Michel Blanquer behauptet, die Universitäten seien infiltriert durch »sehr mächtige islamo-faschistische Strömungen, die nur Chaos anrichten«. Er meint: »Wir müssen gegen ein intellektuelles, aus amerikanischen Universitäten importiertes Bezugssystem und Ideen von Intersektionalität kämpfen, die Identitäten fixieren wollen, die zum Republikanischen Modell im Widerspruch stehen … Das ist die Basis für eine Aufsplittung der Gesellschaft, die mit dem islamischen Modell konvergiert.«
Universitäre Organisationen haben gegen diese Verleumdungen protestiert. Sogar der Koordinierungsrat aller Unipräsidenten Frankreichs (CPU, nicht gerade eine linke Körperschaft) veröffentlichte eine Erklärung, die Blanquers Beleidigungen zurückwies: »Nein, die Universitäten produzieren keine Ideologie, die zu den schlimmsten Exzessen führt. Nein, die Universitäten sind keine Orte, an denen Fanatismus zu Wort kommt oder gefördert wird. Nein, die Universitäten können die Anschuldigung, Komplizen des Terrorismus zu sein, nicht auf sich sitzen lassen.« Auch andere akademische Organisationen haben protestiert, wenn auch viele unter ihnen Mitglieder führen, die die Mythen von den »islamo-Linken« schlucken. Es ist ein Skandal, dass ein hundert Uni-Professoren einen Artikel in Le Monde unterzeichneten, in dem sie Blanquer ihre Unterstützung versichern und muslimische Studentinnen, die den Hidschab tragen, verurteilen.
Welche Rolle spiele die Mohammed-Karikaturen?
Eine rechte dänische Zeitung publizierte im Jahr 2005 eine Reihe Karikaturen, die Charlie Hebdo (Lies hier den marx21-Artikel: »Sind wir alle »Charlie Hebdo«?«) dann übernahm und mit noch beleidigenderen Exemplaren bereicherte, bevor der grausame Anschlag auf das Redaktionsbüro im Jahr 2015 stattfand, in dem Terroristen zwölf Redaktionsmitglieder ermordeten (und am gleichen Tag jüdische Kunden in einem Koscher-Supermarkt). Die Karikaturen sind aus zumindest zwei Gründen rassistisch. Zuerst enthalten sie Abbildungen von Mohammed mit einer in seinem Turban eingewickelten Bombe mit angezündeter Lunte. Die Zeichnung soll 1) ausdrücken, dass Muslime typischerweise Terroristen sind 2) die Leute zum Lachen bringen, weil sein muslimischer Kopf drauf und dran ist zu explodieren. Die anderen Hebdo-Karikaturen – wie jene, die Mohammed nackt und mit entblößten Genitalien zeigt, bieten dem Leser oder Leserin eine andere Art »Befriedigung«, die darauf fußt, dass es Allgemeingut ist, dass Muslime der Meinung sind, dass der Prophet nicht abgebildet werden sollte, erst recht nicht nackt und in lächerlicher Pose. Man kann diese Comiczeichnung nur unter einer Bedingung lustig finden und die ist, man glaubt, Muslime zu beleidigen sei an sich lustig, mit anderen Worten, wenn man eine Rassistin oder ein Rassist ist.
Die Cartoons haben eine zentrale Rolle in der gegenwärtigen Krise gespielt. Als Teil des alljährlichen Unterrichts in Staatsbürgerkunde zeigte Samuel Paty einige dieser rassistischen Karikaturen, nachdem er zuvor seine Schüler davor gewarnt hatte und ihnen erlaubt hatte, für einen Augenblick den Raum zu verlassen, wenn sie das wünschten. Das Unvermögen, den Rassismus dieser Karikaturen zu erkennen, ist in der Rechten wie auch in der Linken Frankreichs weit verbreitet, und die Beschäftigung mit diesen Karikaturen ist Teil des Unterrichtsstoffs. Daher bedeutet deren Zeigen in der Klasse als Beispiele nicht, dass es sich um einen rassistischen Lehrer handelte. Dieses Jahr beschwerten sich allerdings einige Eltern, und die Schulaufsicht organisierte dazu eine Art Diskussionsrunde. Natürlich konnte sich keiner vorstellen, dass das einem jugendlichen Fanatiker zu Ohren kommen würde, der fast 100 Kilometer entfernt lebte und bereit war, dafür zu töten und zu sterben.
Nach dem Mord entschieden jene, die den Nonsens vom »Kampf der Kulturen« weitertreiben wollten, die Karikaturen zum Zentrum des Protests gegen Terrorismus zu machen. In einigen Großstädten wie Toulouse und Montpellier wurden die Karikaturen auf die Fassade des Rathauses projiziert, während mehr als nur eine Regionalregierung verkündet hat, Broschüren mit Karikaturen, darunter auch diese, an alle Gymnasiasten verteilen zu wollen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass einzelne Lehrer, sogar links eingestellte, fordern, dass das Zeigen der Karikaturen an allen Schulen zur Pflicht gemacht wird, aus Protest gegen die Ermordung von Samuel Paty. Das ist oft lediglich das Treiben einer stimmgewaltigen Minderheit, denn auf der von den Lehrergewerkschaften organisierten Massenkundgebung mit zehntausenden Teilnehmern und Teilnehmerinnen in Paris gab es nur ein Dutzend Charlie-Hebdo-Plakate, und auf Online-Foren beschweren sich islamfeindlich eingestellte Lehrende, dass »fast alle« ihrer Schülerinnen und Schüler der Meinung sind, man dürfe sich nicht über den religiösen Glauben von Menschen lustig machen, denn Respekt sei wichtig.
Was ist mit der extremen Rechten und den Faschisten?
Die drakonischen Strafen gegen die muslimische Gemeinschaft, das Ausweiten der polizeilichen Befugnisse oder die weitere Einschränkung der Bürgerrechte werden den Terror nicht stoppen. Stattdessen stachelt der antimuslimische Rassismus der Regierenden den Hass weiter an und stärkt der faschistische Rechten den Rücken. Die rechten Schlägerinnen und Schläger machen sich schon jetzt die neue Atmosphäre zunutze. In Paris wurde eine Familie mit Kindern und ihre Verwandten Opfer eines rassistischen Mordversuches. Bei ihrem abendlichen Familienspaziergang unter dem Eiffelturm wurden am 18. Oktober zwei Frauen aus der Familie, von zwei Täterinnen mehrfach mit einem Messer attackiert und niedergestochen. Zeugen des Vorfalls berichten, dass die Täterinnen die Opfer vor dem Angriff rassistisch als »schmutzig Araber« beleidigten und riefen: »Zieh deinen Schleier aus!« und »Hier sind wir zu Hause!«. In der Stadt Nimes hat der Leiter eines Supermarkts eine plakatgroße »Verkündung« aufgehängt mit dem Wortlaut: »Jegliche verschleierte Person erhält ab heute keine Erlaubnis, den Laden zu betreten«. Die älteste Moschee in Bordeaux und eine weitere in Montélimar wurden verwüstet. Mehrere Moscheen in Rouen haben Drohbriefe erhalten, während in Donzère ein muslimischer Gebetsraum demoliert und mit Graffiti und christlichen Kreuzen beschmiert wurde.
In Avignon hat ein Mitglied einer kleinen Neo-Nazi Gruppe einen nordafrikanischen Ladenbesitzer und dann die Polizei bedroht und wurde erschossen.
Was Le Pen und ihre »anständigen Faschisten« anbelangt – sie hat ein paar schwierige Jahre durchgemacht. Die Revolte der Gelbwesten, die arme Arbeiter und Arbeiterinnen und kleine Geschäftsleute mobilisierte, drohte von der extrem Rechten vereinnahmt zu werden. Aber dank der enormen Arbeit von linken Aktivisten und Aktivistinnen an der Basis, konnte diese Gefahr abgewendet werden. Die Massenstreiks gegen die von der Regierung geplante Zerstörung der Renten letztes Jahr waren ebenfalls sehr populär. Le Pen – mit ihrer starken Anhängerschaft unter Kleinunternehmern – konnte sich nicht leisten, diese Bewegungen zu unterstützen.
Endlich taucht nun die Kampagne gegen Muslime auf, ein Terrain, auf dem Le Pen sich heimisch fühlt. Sie ruft nach einem Stopp jeglicher Immigration und der Gewährung der französischen Staatsbürgerschaft an Migrantinnen und Migranten. Sie verlangt die Einführung des »Kriegsrechts«, sie fordert eine »republikanische Rückeroberung« und erklärt, »niemand soll Angst haben, Islamfeindlich genannt zu werden«. Sie und ihre faschistischen Wegbegleiter werden Woche für Woche zu Talk-Shows zur besten Sendezeit eingeladen, um ihr Gift zu verbreiten.
Wer kämpft gegen all das an?
Die Situation ist widersprüchlich. Mehrere linke Gruppierungen und gewerkschaftliche Dachverbände kritisieren den antimuslimischen Rassismus. Das wäre vor zehn Jahren nicht passiert. Aber die Proteste bleiben zur Zeit leider nur symbolisch. Es gibt allgemeine Erklärungen der Linken , dass Muslime nicht wegen Terrorismus beschuldigt, herausgegriffen oder marginalisiert werden dürfen. Aber keine größere linke Gruppierung sagt: »Verteidigt die CCIF!«. Es fehlt zur Zeit eine gemeinsamepraktische Initiative, welche die Linke Seite an Seite mit muslimischen Gruppierungen bringt, um deren Verbot zu verhindern. Kleinere antirassistische Netzwerke tun ihr Bestes.
Die Linke hätte die Aufgabe die Heuchelei der Macron-Regierung zu entlarven, die sich als Bollwerk demokratischer Traditionen und als der Hort der Meinungsfreiheit inszeniert. Die Regierung Macron wurde von internationalen Menschenrechtsorganisationen für die Brutalität der Polizei verurteilt, die mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstrationen der »Gelbwesten« vorging und dabei hunderte Menschen verletzte. Die französische Regierung liefert Waffen an Diktatoren in der ganzen Welt, die damit Demokratiebewegungen niederschlagen. Die französische Armee ist an imperialistischen Kriegen in der Sahelzone und dem Nahen Osten beteiligt und lässt vorsätzlich Tausende Geflüchtete beim Versuch, Europa mit Booten zu erreichen, im Mittelmeer ertrinken. Es ist dieselbe Regierung, die Frankreich seit Jahren im Ausnahmezustand hält und in diesem Kontext massiv demokratische, gewerkschaftliche und journalistische Freiheitsrechte einschränkt. Die Macron-Regierung ging sogar soweit Journalistinnen und Journalisten der Organisation Disclose zu verfolgt, die illegale französische Waffenlieferungen an Saudi-Arabien enthüllt hatten. Saudi-Arabien führt einen Krieg gegen die verarmte Bevölkerung des Jemen, durch den schon Zehntausende Zivilisten getötet wurden.
Für antirassistische Linke in Frankreich sollte die praktische Solidarität mit der muslimischen Gemeinschaft und ihren Organisationen, die von der Regierung und von Faschisten bedroht werden zentral sein. Organisationen in anderen Ländern können ebenso helfen, in dem sie Solidaritätsadressen schicken. Wenn diese muslimischen Organisationen ohne Gegenproteste verboten werden, können wir uns auf noch Schlimmeres in der Zukunft gefasst machen.
Über den Autor:
John Mullen ist revolutionärer Sozialist, aktiv in der antirassistischen Bewegung und Unterstützer von »La France Insoumise« (FI). Weitere aktuelle Artikel auf Englisch von John Mullen über den Rassismus in Frankreich: https://www.theleftberlin.com/john-mullen
Zum Text:
Aus dem Englischen von David Paenson.
Bilder: Grafik marx21 / Bilder von freepik BiZkettE1 / NPA
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Frankreich, Islam, Terror, Terroranschlag