Mehr als 20.000 Menschen gingen in Paris gegen Islamophobie auf die Straße – unterstützt von den wichtigsten Gewerkschaften und Parteien der radikalen Linken. Verschiebt sich in der französischen Linken langsam die Stimmung gegen Islamophobie? John Mullen berichtet aus Paris.
Auf den Titelseiten französischer Zeitungen wird heftigst über Islam und Rassismus gestritten. Ende Oktober hatte ein ehemaliger Kandidat von Marine le Pens Partei Rassemblement National eine Moschee in Bayonne im Südwesten Frankreichs mit einem Revolver und einer Brandbombe angegriffen und dabei zwei Muslime schwer verletzt. Das war die dritte und schwerste Attacke auf die Moschee in fünf Jahren, und mehrere weitere Moscheen waren Ziel von Brandstiftungen oder rassistischen Graffiti.
Zwei Wochen zuvor hatte ein faschistischer Abgeordneter in einem Regionalrat im Zentrum Frankreichs die Verbannung einer Kopftuch tragenden muslimischen Mutter (die eine Schülergruppe auf einer Klassenfahrt zum Thema demokratische Institutionen begleitete) von der Publikumsgalerie gefordert. Es gab viel Protest dagegen, aber auch viel Zustimmung für diese Zwangsmaßnahme.
Islamophobie in Frankreich
In der gleichen Woche verabschiedete der Senat mit 163 zu 114 Stimmen in der ersten Lesung eine Gesetzesvorlage, die es Frauen, die Kopftuch tragen, verbietet, Schulausflüge zu begleiten. Obwohl das Gesetz im weiteren Verlauf sicherlich kassiert wird, steht sie für den Hass, mit der Muslime in Frankreich konfrontiert werden. Ein rechter Senator verglich Frauen mit Kopftuch mit »Halloweenhexen« und behauptete, sie würden nicht einfach ihre Religion praktizieren, sondern wäre »Kommunitaristen«, die den republikanischen Geist bedrohten.
Eine Gruppe Intellektueller veröffentlichte einen Appell in der Zeitung »Le Figaro«, in dem sie den Ausschluss von Kopftuch tragenden Musliminnen von Schulausflügen forderten. Der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer erklärte, das Kopftuch sollte zwar nicht verbannt werden, sei aber »in unserer Gesellschaft unerwünscht«. Anfang November weigerte sich der regionale Bildungsressortchef, einen Kindergarten zu betreten, der Workshops zum Thema »Respekt für andere Menschen« organisiert hatte, weil unter den teilnehmenden Eltern drei muslimische Mütter mit Kopftuch weilten, und blies seinen geplanten offiziellen Besuch ab.
In einer jüngsten Umfrage gaben 42 Prozent der Muslime an, wegen ihrer Religion diskriminiert worden zu sein. Der Prozentsatz bei den Menschen mit Hochschulabschlüssen lag noch wesentlich darüber, denn solange Muslime, zumeist Araber, als Putzfrauen oder Sicherheitspersonal »bei ihren Leisten« bleiben, bleiben sie von solcher Diskriminierung eher verschont.
Der blinde Fleck der französischen Linken
Seit zwanzig Jahren wird Islamophobie regelmäßig eingesetzt, um Frankreich zu spalten – mehr noch als in anderen Ländern, weil die Linke so kriminell schwach ist in dieser Frage. Eine Tradition der Verachtung für Gläubige plagt die Linke schon seit Jahrzehnten und hat sich vermischt mit bleibenden neokolonialen Einstellungen und neuen islamophoben Prioritäten seit dem Jahr 2001, um einen rassistischen Konsens hervorzubringen, der sich wie ein Wundbrand unter Linken ausbreitet.
Man begegnet immer noch Aktivisten und Aktivistinnen, die seit Jahrzehnten für die Rechte von Flüchtlingen eintreten oder andere Formen von Rassismus bekämpfen, die aber erschreckend rückschrittliche Vorstellungen über Muslime hegen und sich insbesondere weigern zu glauben, man könne Muslim und französisch zugleich sein (so dass jede Diskussion über den Islam innerhalb von Sekunden in Kommentaren über Saudi-Arabien mündet). Ältere Leser und Leserinnen werden Parallelen mit der Zeit vor fünfzig Jahren sehen, als genuin linke Menschen noch schrecklich homophob sein konnten.
Kaum Widerstand gegen Islamophobie
Das im Jahr 2004 verabschiedete Gesetz, das es Gymnasialschülerinnen verbot, ein Kopftuch zu tragen, stieß kaum auf Widerstand seitens der radikalen Linken. Nur wenige Dutzende beteiligten sich an den Protesten gegen das Gesetz. Sogar die bedeutendste Organisation der revolutionären Linken (damals die Ligue Communiste Révolutionnaire – LCR), die noch zehn Jahre zuvor bessere Anschauungen vertrat, führte auf der Titelseite ihrer Zeitung die Schlagzeile: »Weder dieses Gesetz noch die Schleier!«, womit sie ihre Pflicht, unterdrückte Minderheiten zu verteidigen, aufgab. Der Großteil der Linken unterstützte das Verbot und manche Aktivisten und Aktivistinnen auf der radikalen Linken starteten sogar Kampagnen vor Ort, um das Verbot auf Universitäten auszuweiten, während andere Organisation, die in der Frage tief gespalten waren, sie daran nicht hinderten.
Das Anschlussgesetz von 2010, das das Tragen der Niqab in der Öffentlichkeit verbot, stieß auf noch weniger Widerstand. Dieses Gesetz war ein historisches Novum, denn zum ersten Mal war ein Gesetz verabschiedet worden, das sich gegen die Bräuche einer winzigen Minderheit richtete. Das wahre Motiv war, rassistische Wähler mit dem Argument zu ködern, Muslime seien »das wahre Problem«.
Demonstration am Strand
Die Aufstellung einer jungen, Kopftuch tragenden Muslima als Kandidatin zu den Kommunalwahlen durch eine Ortsgruppe der Nouveau Parti Antikapitaliste (NPA, Nachfolgeorganisation von LCR) war der Anlass für eine Zerreißprobe in der Partei und einen beinahe 50/50 Pattsituation auf der nationalen Vollversammlung der Organisation in dieser Frage. Als im Jahr 2016 einige rechte Bürgermeister das Tragen von Ganzkörperschwimmanzügen am Strand verboten, gab es seitens der radikalen Linken einige Pressemitteilungen aus Protest und eine kleine Demonstration auf einem Strand.
Aber Jahr für Jahr hat es keine von linken Parteien organisierten öffentlichen Versammlungen, keine Kampagnen, keine Pamphlete, Bücher oder Demonstrationen gegen Islamophobie gegeben, obwohl diese Form des Rassismus diejenige ist, die der faschistischen Rassemblement National Le Pens am meisten in die Hände spielt (ihr Stimmenanteil liegt laut Umfragen derzeit bei 23 Prozent).
Ein Geschenk für die Rechte
Diese Schwäche ist ein Gottesgeschenk für Macron und die Rechte allgemein. Da Angriffe auf Muslime keinen Anlass für eine konzertierte Gegenwehr seitens der Linken bieten, sind sie die ideale Taktik für jede Regierung, um ihre Kürzungspolitik hinter einer Nebelwand verschwinden zu lassen.
Macrons modernistische Abart rechter Politik richtete sich anfänglich nicht speziell gegen Muslime, aber je prekärer seine Lage wurde und angesichts einer nach wie vor lebendigen Bewegung der Gelbwesten, von Wahlerfolgen der extremen Rechten und anstehenden Massenstreiks zur Verteidigung der Renten stellt Islamophobie auch für ihn eine unwiderstehliche Versuchung dar.
Endlich ein Kampf gegen Islamophobie
Die Haltung linker Organisationen ändert sich nun endlich, wenn auch quälend langsam. Am Sonntag, den 10. November, demonstrierten über 20.000 Menschen in Paris gegen Islamophobie. Die Demonstration wurde unterstützt von der CGT, der größten Gewerkschaft landesweit, sowie von der kleineren, radikaleren SUD, von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich, vergleichbar mit dem britischen Corbynismus) und der Kommunistischen Partei. Aufgerufen hatte Madjid Messaoudene, ein linker Stadtverordneter in Saint Denis, Paris.
Muslimische Organisationen, Studierendengewerkschaften und die NPA unterstützten den Aufruf, der dann von weiteren gesellschaftlichen Kräften aufgegriffen wurde. Anführer und Anführerinnen der Gelbwesten und Menschenrechtsorganisationen marschierten ebenfalls mit. Zu meiner Überraschung hatte die Bäckerei in meinem Pariser Vorort einen ganzen Stapel Aufrufe auf der Theke – eine schöne Wende, wenn man bedenkt, dass Muslime es eher gewohnt sind, sich bedeckt zu halten als zurückzuschlagen.
»Wir sind keine Gefahr, wir sind in Gefahr!«
An der Demonstration nahmen viele tausende Muslima teil, die Kopftuch trugen. Ihre Gesichter strahlten Freude und Staunen aus angesichts der Mengen, die skandierten: »Wenn ihr euch gerne mit Muslimen umgebt, klatscht in die Hände!« und »Solidarität mit verschleierten Frauen!« Das Leitlied der Gelbwesten wurde für das Ereignis angepasst und von den Massen gesungen: »Hier sind wir, hier sind wir, auch wenn es Blanquer (Bildungsminister) nicht passt, hier sind wir!«
Französische Nationalflaggen wurden geschwenkt und viele selbstgebastelte Plakate mit dem Slogan »Stolz, Franzose UND Muslim zu sein!« wurden hochgehalten. »Wir sind keine Gefahr, wir sind in Gefahr!« »Religionskritik ja, Hass auf Gläubige: Nein!« und »Muslime sind nicht das Problem: Islamophobe kennen nur Hass!« waren auch zu sehen.
Unterdrückte erteilen Linken Lektion
Ältere Aktivisten wie ich waren tief gerührt. Seit fünfundzwanzig Jahren haben wir auf diesen Tag gewartet. Diese Verschiebung auf der Linken ist verschiedenen Faktoren geschuldet. Neben der Eskalation körperlicher Attacken gegen Muslime war es vor allem der jüngste Anschlag vor der Moschee in Bayonne, der Menschen aufwühlte, die zuvor angesichts weniger gewalttätiger Übergriffe kaum Reaktion gezeigt hatten.
Dem vorausgegangen war eine in den vergangenen Jahren wachsende Organisierung von nichtweißen Organisationen unter Beteiligung vieler Muslima, die vor allem gegen Polizeiübergriffe, aber auch gegen Islamophobie mobilisierten. Sie schufen kleine, aber dynamische, unabhängig agierende Kampagnennetzwerke, die in der Lage waren, einige tausend Menschen auf die Straßen zu bringen. Wie in der Vergangenheit, als LGBTQ+ und Frauen sich wehrten, ist es die von der Linken unabhängige Mobilisierung der Unterdrückten, die den Linken eine Lektion erteilt, sie möge ihre Politik bessern.
Hartnäckige linke Minderheit
Ein zweiter Faktor war die Präsenz einer kleinen Minderheit innerhalb aller radikalen oder revolutionären Organisationen der Linken, die die Bedeutung des Kampfes gegen Islamophobie verstanden hat und seit zwanzig Jahren hartnäckig dafür streitet. Sie sind immer noch in der Minderheit, es ist aber eine, die wächst.
Drittens hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Den älteren, antireligiösen Aktivisten, ob in feministischen Kreisen, Lehrergewerkschaften oder revolutionären linken Parteien, gelingt es heute glücklicherweise nicht mehr, jüngere Generationen von Aktivistinnen, die seit ihrer Schulzeit in multikulturellen Gemeinschaften leben und es nicht einsehen, warum ihre muslimischen Zeitgenossen anders, als ob von Kräften der schwarzen Magie beseelt, behandelt werden sollten.
Streit am Kochen
Die Demonstration am Sonntag hat den Streit in den Massenmedien zum Kochen gebracht. Macrons Bildungsminister sprach von einer »unglücklichen Initiative«, die zu den Prinzipien des säkularen Staats im Widerspruch stünde. Die immer mehr zum Schröderismus tendierende Sozialistische Partei verweigerte ihre Beteiligung an der Demonstration. Einige von ihnen haben zu einer Alternativkundgebung am Folgesonntag unter dem Motto »Für Säkularismus, gegen Rassismus« aufgerufen.
Linke Politiker, darunter sogar einige, die den Demonstrationsaufruf mitunterzeichnet hatten, bemühen sich, die Liste der Erstunterzeichner akribisch durchzukämmen auf der Suche nach jemandem, der oder die in der einen oder anderen Frage zu reaktionär sein könnte, um das als Vorwand für die eigene Distanzierung von der Demonstration zu verwenden. Eine humoristische Karikatur macht die Runde, auf der ein linker Aktivist, auf die Frage, ob er sich am Marsch gegen Islamophobie beteiligen werde, mit unsicherer Miene antwortet: »Ich weiß nicht – es werden wohl keine Muslime dort sein, oder?«
Gegenreaktion zu erwarten
Es wird zu einer gewaltigen Gegenreaktion von islamophoben Teilen sowohl auf der Linken wie auf der Rechten kommen, die beide gut organisiert sind. Es gibt sogar ein populäres Wochenmagazin, Marianne, das sich extra an säkulare Islamophobe richtet, die sich zu den Linken zählen. Jede linke Organisation oder Gewerkschaft, die die Demonstration unterstützte, beherbergt eine große Anzahl Mitglieder, die die Demonstration boykottierten. Nur sehr wenige Gewerkschaften trugen ihre Fahnen auf dem Marsch. Diese Menschen müssen durch Überzeugungsarbeit gewonnen werden.
Währenddessen hofft Marine Le Pen, den Marsch für eine weitere Polarisierung nutzen zu können mit ihrer Behauptung, alle Unterstützer der Demonstration spielten in die Hände islamischer Fundamentalisten, und ihrer Bezichtigung, France Insoumise sei in Wirklichkeit die »France Islamiste«. Macrons Minister treten währenddessen im Fernsehen auf um zu erklären, wie »dumm und naiv« die Linke handeln würde.
Aber nun hat der Kampf endlich begonnen! Die Demonstration ist ein enormer Schritt nach vorne. Die erste Seite einer Pariser Lokalzeitung trug die Überschrift: »Muslime von Rassismus betroffen«. In der Vergangenheit gaben sogar die brachialsten Angriffe auf Muslime Anlass nur für lokale Demonstrationen, an denen sich lediglich einige hundert Muslime und immer die gleichen zwanzig oder so Aktivisten verschiedener linker Organisationen beteiligten.
Kampagne gegen Islamophobie nötig
Einige muslimische Aktivisten sind verständlicherweise skeptisch und sagen, dass die anstehenden Kommunalwahlen der Grund für Mobilisierung von Politikern auf der Suche nach Wählerstimmen sei. Diese Erklärung ist unwahrscheinlich, denn die traurige Wirklichkeit der französischen Linken ist, dass eine Organisation eher mit Stimmenverlusten rechnen muss, wenn sie sich auf die Seite von Muslimen schlägt, als mit Stimmengewinnen. Eine erst letzte Woche veröffentlichte Umfrage ergab, dass Zweidrittel der französischen Bürger sich für den Ausschluss von Müttern mit Kopftuch aus der Begleitung von Schulausflügen aussprechen! Eine breit angelegte Kampagne gegen Islamophobie ist dringend nötig.
Jean-Luc Mélenchon, Anführer der Parlamentsfraktion von France Insoumise – insgesamt 17 Abgeordnete, unter ihnen einige, die mit der Demonstration offensichtlich unglücklich sind – hat sich jetzt klar gegen Islamophobie positioniert, nachdem seine verbale Opposition zuvor oft zweideutig ausfiel. Es werden ganz sicher Parteiaustritte wegen der Demonstration folgen (in jenen linken Strömungen, die eine Harten Kurs pro Säkularismus fahren). Daher ist es sehr wohltuend zu sehen, dass Mélanchon standfest bleibt. »Wenn wir erleben, wie unsere muslimischen Mitbürger, die der zweitgrößten Religion in Frankreich angehören, stigmatisiert, beleidigt und physisch bedroht werden, ist es unsere Pflicht, ihnen zur Hilfe zu eilen«, sagte er.
Klassenwut gehört in den Vordergrund
Hinzu kommt, dass die erste Seite der Wochenzeitung der NPA zur Beteiligung an der Demonstration aufrief. Sogar die trotzkistische Organisation Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf), die in der Vergangenheit die Gesetze gegen das muslimische Kopftuch enthusiastisch begrüßte, war präsent.
Wenn der Kampf aufrechterhalten werden kann, könnte er Macron eine mächtige spalterische Waffe aus der Hand schlagen. Während Gewerkschaften in Transport, Bildung und Gesundheit sich für die massiven Streiks am 5. Dezember wappnen, kann Einheit gegen Rassismus und Islamophobie unsere Klasse enorm anspornen. Die Klassenwut inmitten steigender Armut (9,3 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze) muss in den Vordergrund rücken, nicht rassistische Spaltung unter dem Deckmantel der Verteidigung der säkularen Zivilisation.
Zur Person:
John Mullen ist revolutionärer Sozialist und Anhänger von France Insoumise in Paris.
Der Artikel erschien zuerst auf https://www.theleftberlin.com. Übersetzt von David Paenson.
Foto: Colin Falconer
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Frankreich