Mit 51 Prozent Zustimmung im Verfassungsreferendum in der Türkei kann Recep Tayyip Erdoğan zwar das Präsidialsystem einführen, aber sein Sieg war knapp. Ali Cem Deniz erklärt, warum die Linke hoffen, aber Erdoğan nicht mit der Forderung nach mehr Laizismus besiegen kann
Marx21: Nach dem Verfassungsreferendum haben mehrere zehntausend Menschen in der Türkei protestiert. Welche Rolle spielte dabei die sozialdemokratische kemalistische Partei CHP?
Ali Cem Deniz: Die CHP hat mit ihrer Beschwerde gegen das Ergebnis ihren Teil beigetragen. Gleichzeitig haben wir wieder einmal gesehen, dass die Parteiführung keinen Bezug zur Straße hat. Der Vorsitzende der CHP Kemal Kılıçdaroğlu hat sich nur in sehr vagen Formulierungen mit den Demonstrierenden solidarisiert, gleichzeitig aber betont, dass die CHP keine offizielle Rolle bei den Protesten einnehmen würde. Das ist nicht verwunderlich, schließlich waren diese auch gegen die CHP und Kılıçdaroğlu gerichtet, die man für die Niederlage mit verantwortlich gemacht hat.
Ist jetzt die Formierung eines neuen Blocks gegen Erdoğans AKP aus Kemalisten (CHP) und Kurden und Linken (HDP) möglich?
Das Bündnis zwischen linken Kurden und Türken gibt es schon in der Form der HDP. Doch für die Präsidentschaftswahl 2019 wird das nicht ausreichen. Das Nein-Lager konnte der AKP Großstädte wie Istanbul und Ankara entreißen. Doch während das Ja-Lager ein solider Block ist, der 2019 geschlossen Erdoğan wählen wird, ist das Nein-Lager gespalten.
Selbst wenn CHP und HDP sich auf einen Kandidaten einigen könnten, müssten sie die Nationalisten überzeugen, die beim Referendum überwiegend mit »Nein« gestimmt haben. Und auch die größtenteils religiös-konservativen Kurden, die beim Referendum wieder zu Erdoğan gewandert sind, müsste man zurückgewinnen. Das alles muss passieren, ohne die urbanen AKP-Wähler zu verlieren, die mit »Nein« gestimmt haben. Ich glaube derzeit nicht, dass sich all diese Gruppen bis 2019 auf eine Alternative zu Erdoğan einigen können.
Die Chancen für die Opposition werden größer
Die Zukunft sieht dennoch gut aus. Bei den 18-35-Jährigen sind die »Nein«-Wähler in der Mehrheit. Das sind Menschen, die nur die AKP-Regierung kennen. Bei ihnen ist der Frust am größten. Hier muss die Opposition ansetzen, denn hier sind die ideologischen Gräben nicht so tief wie bei älteren Generationen. Für die AKP wird es mit jeder Wahl schwerer, die Mehrheit zu halten, während die Chancen für die Opposition größer werden.
Warum war die Opposition bisher nicht erfolgreich?
Die türkische Linke und die gesamte Opposition haben folgendes Problem: Sie müssen der Versuchung widerstehen, ständig auf Erdoğan zu reagieren. Mittlerweile hat auch die europäische Öffentlichkeit Erdoğans Medienstrategie zu spüren bekommen: »bad news is good news«. Seit 15 Jahren dominiert er nahezu alle politischen Debatten in der Türkei. Gerade die Linke muss aber über Erdoğan hinausschauen und die strukturellen Hintergründe seines Erfolgs verstehen, statt auf Klischees zurückzugreifen. Kurz gesagt: Je weniger man sich mit Erdoğans Person beschäftigt, desto verständlicher wird die aktuelle Türkei.
Durch die staatlichen Repressionen sind die kurdische und die türkische Linke geschwächt. Viele Parteimitglieder und Abgeordnete sind im Gefängnis. Wie sollte die HDP damit umgehen?
Wir erleben, dass auch nach dem Referendum die Repressionen nicht abnehmen. HDP-Abgeordnete werden weiterhin festgenommen. Die Partei ist abhängig von der Willkür der Behörden und kann dagegen leider nicht viel unternehmen. Solange der Ausnahmezustand herrscht, wird sich das nicht ändern. Allerdings hat die AKP ein Interesse daran, den Ausnahmezustand zu beenden. Außerdem ist Erdoğan auf die kurdischen Stimmen angewiesen, wie das Referendum gezeigt hat. Das ist die zweite gute Nachricht aus der Abstimmung: Die Koalition zwischen AKP und Nationalisten ist gescheitert. Obwohl die Parteispitze der nationalistischen MHP sich hinter Erdoğan gestellt hat, hat ihre Basis mit »Nein« gestimmt. Wenn die AKP in Zukunft Wahlen gewinnen möchte, muss sie ihr Verhältnis zur HDP neu überdenken.
Und die Repressionen gegen die HDP haben noch etwas gezeigt: Die Partei repräsentiert eine etablierte politische Bewegung, die sich nicht einfach an den Rand drängen lässt.
In deinem neuen Buch sprichst du von dem Konflikt zwischen »weißen« und »schwarzen« Türken. Was hat es damit auf sich?
Die Begriffe haben nichts mit dem Aussehen oder der ethnischen Herkunft zu tun, aber sie sind eine sehr vereinfachte Möglichkeit Bruchlinien in der Gesellschaft zu erkennen. Interessanterweise wurden zuerst die »weißen« Türken definiert. Sie waren jene kemalistische Schicht, die in den ersten Jahrzehnten der Republik alle Bereiche der Gesellschaft und Politik dominierten. Sie kleideten sich westlich, hörten europäische Musik und hatten oft außerhalb der Türkei studiert. Ihnen gegenüber stand eine Art »schweigende Mehrheit« der »schwarzen« Türken, die mit der Binnenmigration ab den 1950er Jahren immer sichtbarer wurde. Sie gewannen an Bedeutung als billige Arbeitskräfte, die in Slums von Istanbul lebten und auch als politische Kraft, die bei so gut wie jeder Gelegenheit gegen die kemalistische Modernisierung stimmte.
Heute sind diese Bruchlinien unklarer als je zuvor. Viele »schwarze« Türken sind Teil der Mittel- und Oberschicht geworden und sie haben nicht nur die Politik, sondern die ganze Gesellschaft und Kultur der Türkei verändert. Auch sie schicken ihre Kinder auf private Schulen oder zum Studieren nach Europa. Die Türkei ist heute in vielerlei Hinsicht heterogener, als das Land, mit dem es die Kemalisten vor 90 Jahren zu tun hatten.
Der Kemalismus ist ein Projekt der Elite
Die Kemalisten sind stets modern und offen elitär aufgetreten. Ist der Kemalismus ein Projekt der Oberschicht?
Das lässt sich eindeutig bejahen, doch auch der Kemalismus hat Veränderungen durchgemacht. In den 1970er Jahren konnte die CHP mit dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit ihre größten Erfolge seit dem Ende des CHP-Staates 1956 erzielen. Reste dieser »anatolischen Linken« sind noch heute vereinzelt an der Basis der Partei vertreten. In bestimmten Regionen ist die CHP bei der ländlichen und sogar konservativen Bevölkerung durchaus beliebt. Insgesamt bleibt sie aber eine Partei, die für den Status Quo steht. Innerhalb der CHP gibt es kaum Veränderungen. Trotz zahlreicher Wahlniederlagen ist ein Wechsel an der Partei-Spitze äußerst selten. Selbst gegenüber linken Protestbewegungen, wie der Gezi-Park-Bewegung von 2013, blieb die CHP verschlossen.
Warum wurden der Islam und die Kurden zum Feindbild für die Kemalisten?
Hinter dem Kemalismus versteckt sich nicht nur ein autoritäres Verständnis von Laizismus, sondern auch ein beinharter Nationalismus. Mustafa Kemal und seine Anhänger waren davon überzeugt, dass das Osmanische Reich aufgrund seiner ethnischen und religiösen Vielfalt zerfallen ist. Kurden, Araber, fromme Muslime, aber auch nicht-muslimische Minderheiten wie Armenier und Griechen sind in dieser Ideologie die Sündenböcke. Für die Kemalisten kann die Türkei nur dann erfolgreich sein, wenn sie eine ethnisch und religiös homogene Nation ist. Das entspricht natürlich nicht der Realität der türkischen Gesellschaft und selbst die Kemalisten können diesem Anspruch nicht gerecht werden.
Kurden, Araber und fromme Muslime sind die Sündenböcke
Der aktuelle CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu stammt aus dem alevitisch-kurdischen Dersim. Doch er erwähnt Kurden oder Aleviten selten. Stattdessen betont er immer wieder, dass er keinen »ethnischen Separatismus« betreiben möchte. Das zeigt: jede Abweichung von der kemalistischen Identitätspolitik, wird von der CHP noch heute als Gefahr für die »Einheit« des Landes gesehen.
Das kemalistische Bürgertum und das Militär, das jahrzehntelang die Politik in der Türkei bestimmte, sieht sich heute in der Defensive. Die Popularität von Erdoğan können sie sich nur damit erklären, dass ungebildete Massen aus den ländlichen Regionen auf populistische Islamisten hereinfallen. Warum greift das zu kurz?
Dass Erdoğan mit Kohle- und Nudel-Verteilungen Stimmen kauft, so wie die Kemalisten es lange Zeit behauptet haben, stimmt nicht. Auch das persönliche Charisma von Erdoğan spielt zwar eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle. Das zeigt sich im derzeitigen Wahlkampf.
Obwohl Erdoğan seit 2014 aggressiv Werbung für das Präsidialsystem macht, lag die Zahl der Befürworter bis vor kurzem weit unter den Erwartungen. Rund 30 Prozent gehören zu den Stammwählern Erdoğans, die restlichen 15-20 Prozent müssen bei jedem Wahlkampf aufs Neue überzeugt werden.
In Abwesenheit der HDP, deren Mitglieder im Gefängnis sitzen und die de facto vom Wahlkampf ausgeschlossen ist, richteten sich alle Blicke auf die CHP. Doch sie führt den Wahlkampf hauptsächlich mit altbackenen kemalistischen Parolen. Selbst eine oberflächliche Neuausrichtung der Partei wäre ein klares Signal gewesen und hätte die »Nein«-Kampagne zu einem klaren Erfolg führen können. Stattdessen haben wir gesehen, wir Erdoğan mit 51 Prozent ganz knapp gewonnen hat.
Ist Erdoğans Islamisierung mit mehr Laizismus zu begegnen, wie es die Kemalisten fordern?
Rund 90 Jahre Laizismus »von oben« haben massiv zum Erfolg Erdoğans beigetragen. Die Islamisierung hingegen kommt nur zum Teil von oben. Als Erdoğan 2001 verkündete, dass er das Hemd des »Milli Görüş« ausgezogen hat, meinte er das tatsächlich. Die AKP ist ein Nebenprodukt des türkischen Islamismus, das jedoch weitgehend »ideologiefrei« bleibt. Elemente des Islamismus finden sich in der Rhetorik und teilweise in konkreten politischen Positionen, doch insgesamt dominieren Neoliberalismus und klassischer Fortschrittsgedanke die Politik der AKP. So konnte sie alle Mitte-Rechts Parteien verdrängen, während die traditionellen Islamisten unter dem Dach der Saadet Parti, heute eine Kleinstpartei bilden.
Hundertjährige Ideologie über Bord werfen
Der Kemalismus hingegen hat klare ideologische Linien, die sich seit Atatürk kaum verändert haben. Das zeigen Werbespots im aktuellen Wahlkampf: die AKP wirbt mit Mega-Bauprojekten und einem oberflächlichen, neoliberalen Pluralismus, der möglichst viele Schichten der Gesellschaft zu Wort kommen lässt. Die kemalistische CHP hingegen macht fast ausschließlich mit Kindern Wahlwerbung. Sie sagen kemalistische Parolen auf und halten Bilder von Atatürk in die Kamera. Alle sprechen dabei Hochtürkisch, regionale Akzente oder andere Identitätsmerkmale kommen nicht vor.
Die »Islamisierung« der Türkei ist in Wirklichkeit, das Sichtbarwerden der muslimisch-konservativen Bevölkerung, die seit den 1980er Jahren einen sozialen Aufstieg erlebt hat. Wie man auf diese Gruppe zugehen kann, hat die HDP zum Teil gezeigt, indem sie kopftuchtragende Aktivistinnen in die Partei aufgenommen hat. Das war ein Grund, wieso die AKP die HDP als Bedrohung gesehen hat. Gegen die Repressionen der Regierung, hätte sich die CHP, die sich als linke und sozialdemokratische Partei versteht, gegenüber der HDP öffnen müssen. Eine solche Öffnung wäre für die Schaffung einer linken Alternative beim Verfassungsreferendum notwendig gewesen. Dazu müssten allerdings die Kemalisten ihre fast hundertjährige Ideologie über Bord werfen.
Das Interview führte Tilman von Berlepsch.
Foto: illustir
Schlagwörter: AKP, CHP, Erdoğan, HDP, Islam, Kemalismus, Kopftuch, Kurden, Kurdistan, Laizismus, Türkei, Verfassungsreform