Auftrittsverbote, Straßenschlachten und Protest: Im Vorfeld der Volksabstimmung über die Verfassungsreform spitzt sich die Situation weiter zu. Aber was will Erdoğan? Wohin steuert die Türkei? Und sollte die Linke Auftrittsverbote unterstützen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen rund um das Referendum in der Türkei.
Worum geht es beim Verfassungsreferendum in der Türkei?
Am 16. April findet in der Türkei eine Volksabstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems statt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will erreichen, dass die Menschen in der Türkei für die Verfassungsreform stimmen. Der Entwurf zur Verfassungsänderung beinhaltet 18 Artikel, bei denen es zum Beispiel um die Senkung des für die Wählbarkeit zum Parlament erforderlichen Wahlalters von 25 auf 18 Jahre geht, oder um die Erhöhung der Zahl der Parlamentssitze von 550 auf 600.
Die wichtigste Änderung bezieht sich jedoch auf die Regierungsführung und ist auf die Bedürfnisse Erdoğans zugeschnitten: Der Posten des Ministerpräsidenten soll wegfallen und der Präsident soll den Vorsitz über den Ministerrat übernehmen. Er würde außerdem Chef der Exekutive, wobei er gleichzeitig Mitglied einer politischen Partei sein dürfte. Das Neutralitätsprinzip würde nur symbolisch beibehalten. Nach der derzeitigen Verfassung hat der türkische Präsident nur eine repräsentative Funktion. Das würde sich deutlich ändern und der Präsident hätte eine große Bandbreite von Machtbefugnissen. Er könnte zum Beispiel die Minister ernennen, vorzeitige Wahlen einberufen, den jährlichen Haushaltsplan entwerfen und den Ausnahmezustand ausrufen. Er könnte zudem eine unbegrenzte Anzahl stellvertretender Präsidenten ernennen und Regierungsdekrete erlassen.
Der Einfluss des Präsidenten auf die Ernennung oberster Richter würde ebenfalls steigen. Dank der Tatsache, dass der Präsident das Recht haben soll, Parteimitglied zu sein, könnte Erdoğan auch erneut Chef der AKP werden. Sollte es eine Mehrheit für das Referendum geben, wird es die ersten Präsidenten- und allgemeinen Wahlen im Jahr 2019 geben. Die Verfassungsänderung würde zur Aufhebung der derzeitigen parlamentarischen Demokratie in der Türkei führen. Die Wahlberechtigten können nur für oder gegen das Gesamtpaket stimmen und nicht über einzelne Artikel entscheiden.
Ist es richtig, Politikerinnen und Politikern der AKP, die Wahlkampfauftritte zu verbieten?
Viele Menschen sind zu recht wütend über Erdoğans autoritären Kurs und erhoffen sich von den Auftrittsverboten, dass sie die Position der AKP schwächt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mithat Sancar, Abgeordnete der oppositionellen HDP, argumentierte gegenüber dem Spiegel richtigerweise: »Die Auftrittsverbote für türkische Minister in Deutschland sind völlig falsch. Ebenso lehne ich Forderungen nach einem Boykott ab. Unsere politische-moralische Grundhaltung ist eindeutig. Wir sind prinzipiell gegen Verbote und für die Freiheit, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Mit diesen Methoden spielt man außerdem nur Erdoğan in die Hände und damit bringt man ihn auch nicht zu Zugeständnissen.«
Auftrittsverbote erlauben es Erdoğan sich als »Opfer« zu inszenieren. Er kann den Türkinnen und Türken in Deutschland oder den Niederlanden zurufen, sie würden nicht die gleichen Rechte genießen. Verbote spalten und nützen am Ende Erdogans Wahlkampagne. Der deutsche Staat ist keine Hilfe im Kampf gegen Erdogans autoritären Kurs. Erst Anfang März hat das Bundesinnenministerium per Erlass die Zahl der Gruppierungen erheblich vergrößert, deren Fahnen und Symbole auf Grundlage des seit 1993 bestehenden Betätigungsverbots für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nicht mehr öffentlich gezeigt werden dürfen. Damit beteiligt sich Merkels Regierung vor dem Referendum über das Präsidialsystem in der Türkei an den unterdrückerischen Maßnahmen Erdoğans gegen die kurdische Bewegung.
Es ist irreführend, wenn Linke, wie Sahra Wagenknecht, den deutschen Staat als Akteur im Kampf gegen Erdogans Politik ins Spiel bringen wollen. Den Staat aufzufordern, politische Veranstaltungen zu verbieten kann für die Linke schnell zum Eigentor werden. Die historische Erfahrung zeigt, dass der Staat Instrumentarien wie Versammlungs- und Organisationsverbote in Zeiten zugespitzter Klassenauseinandersetzungen vor allem gegen die politische Linke einsetze.
Im Falle des Verbots des Auftritts des türkischen Justizministers im baden-württembergischen Gaggenau ist es besonders heikel: Die Veranstaltung wurde untersagt, weil es »zu voll wird« und »zu wenig Parkplätze da sind«. Mit der Begründung kann der Staat jeden Protest verbieten, der verspricht groß zu werden – zum Beispiel gegen den AfD-Parteitag oder gegen die G20.
Was ist die Alternative zu Auftrittsverboten?
Die Alternative zum Verbot ist der gemeinsame Protest gegen Erdogans Pläne. Erdogans Mehrheit wackelt: Laut einer Meinungsumfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Gezici würden im Moment 58 Prozent der Wählerschaft mit Nein stimmen. Die AKP und die faschistische MHP konnten ihre Wählerinnen und Wähler nicht wirklich von der Verfassungsänderung überzeugen. Wegen der ernsthaften Risse in den beiden Parteien ist derzeit das eine wie das andere Ergebnis denkbar. Laut derselben Umfrage würden von den AKP-Wählern 23 Prozent mit Nein stimmen, von den Wählern der MHP 69 Prozent.
In der Türkei haben die Gegnerinnen und Gegner der Verfassungsreform eine »Nein«-Kampagne gegründet. Auch in Deutschland ist die »Nein«-Kampagne aktiv. Rund 1,4 Millionen wahlberechtigte Türkinnen und Türken leben in Deutschland. In der Vergangenheit genoss Erdogan unter den Deutschtürken Rückhalt. Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 stimmten 60 Prozent der wahlberechtigten Deutschtürken für Erdogan und seine Regierungspartei AKP. Allerdings bröckelt auch hierzulande die Zustimmung. Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) hat sich erstmals in ihrer Geschichte zu einem innenpolitischen Thema in der Türkei positioniert und sich der »Nein«-Kampagne angeschlossen. In der Türkei wirbt die linksliberale und kemalistisch orientierte CHP, die die Regierung der AKP nach dem Putschversuch der Armee mehr oder weniger unterstützt hat, jetzt trotzdem für ein »Nein«. Die »Nein«-Initiativen werden täglich mehr und haben großen Zulauf, trotz der Einschränkungen aufgrund des verhängten Ausnahmezustands. Auch in Deutschland sollten Linke, statt nach Auftrittsverboten zu rufen, den gemeinsamen Protest organisieren.
Die im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger können in den türkischen Konsulaten etwa zwei Wochen vor der Abstimmung in der Türkei ihre Stimme abgeben. Die AKP hat per Dekret die Stimmabgabe im Ausland erleichtert in der Hoffnung, mehr Ja-Stimmen zu bekommen. Wenn es den an der Nein-Kampagne Beteiligten gelingt, auch mit der Wählerschaft der AKP in die Debatte über Demokratie einzutreten, können sie vielleicht insbesondere in Europa, wo die regierungstreuen Medien nicht die einzige Quelle der Information sind, viele überzeugen.
Warum will Erdoğan ein Präsidialsystem?
Viele Linke meinen, Erdoğan strebe das Präsidialsystem aus Gründen persönlichen Ehrgeizes an, um sich zu einem Diktator aufzuschwingen. Persönlicher Ehrgeiz ist aber keine ausreichende Erklärung für den angestrebten Regimewandel, sondern ihm liegt eine sehr viel größere Dynamik zugrunde. Der parlamentarische Block der AKP und die faschistische Partei MHP haben den Entwurf gemeinsam erarbeitet und sie erhielten im Januar im Parlament sogar mehr als die erforderliche Dreifünftelmehrheit. Der Erfolg der AKP ist eng verbunden mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Erwartungen der konservativen Mittelschicht, die in den vergangenen 15 Jahren zur neuen Bourgeoisie aufstieg. Die sogenannten anatolischen Tiger konnten ihren ökonomischen Einfluss unter der Herrschaft der AKP ausweiten und viele gingen in der Großbourgeoisie auf.
Erdoğan und seine Mitstreiter haben sich dafür entschieden, die Partei in ein monolithisches Instrument zu verwandeln, um in den Jahren 2011 bis 2016 den Krieg um die Hegemonie über die anderen Sektionen der herrschenden Klasse zu erringen. Die AKP hat auf vielen Feldern schwere Schlachten geschlagen: Sie hat die Medienlandschaft umgebaut, die Kontrolle über die Staatsstrukturen übernommen und durch Regierungsinvestitionen und öffentlich geförderte Projekte die Macht innerhalb der herrschenden Klasse zu ihren Gunsten verschoben. Die Errichtung eines Präsidialsystems wird der letzte Schritt in diesem Kampf sein.
Woher kommt der Erfolg der AKP?
Einer der entscheidenden Gründe für den bisherigen Erfolg der AKP ist die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei. Sie bildet die Basis des Vertrauens in Erdoğans Politik und Rhetorik. Tatsächlich hat das Land während der AKP-Regierung seit 2002 ein stetiges und enormes Wirtschaftswachstum erlebt, von dem vor allem gebildete konservative Mittelschichten und Unternehmen aus Mittelanatolien profitierten. Das Bruttoinlandsprodukt der Türkei hat sich in dieser Zeit vervierfacht.
Die AKP ist eine junge Partei. Sie wurde erst 2001 gegründet. Trotzdem verfügt sie nach eigenen Angaben über 9.062.525 Mitglieder (Zum Vergleich: Die kemalistische und sozialdemokratische CHP hat 1.083.353 Mitglieder, die neofaschistische MHP 407.138 und die linke, prokurdische HDP 11.942 Mitglieder). Dass manche Oppositionelle behaupten, die AKP-Wähler seien der ungebildete Teil der Bevölkerung, sagt viel über die Arroganz dieser Oppositionellen aus und wenig über die Wähler der AKP. Denn zu den AKP-Wählern gehören wertkonservative Städter genauso wie die breite Mehrheit der Landbevölkerung. Unter der AKP zu gewissem Wohlstand gekommene gebildete Mittelschichten tendieren ebenfalls zu Erdoğan, genau wie lange Zeit auch beträchtliche Teile der kurdischen Bevölkerung.
Doch die wirtschaftliche Perspektive ist nach Jahren des Aufschwungs alles andere als rosig. Die türkische Wirtschaft ist auf Kapitalflüsse aus dem Ausland angewiesen. Hinzu kommt, dass der Tourismus, einer der größten Wirtschaftszweige der Türkei, deutliche Einbußen meldet. Wegen der angespannten Sicherheitslage weichen viele Touristen auf andere Ziele aus. Auch die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem. Sie liegt mit über zehn Prozent auf einem Fünf-Jahres-Hoch. Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, viele finden aber keine Jobs. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung in die Städte und industriellen Zentren ab. Sollte sich die wirtschaftliche Perspektive der Türkei weiter verschlechtern, könnte auch die Unzufriedenheit mit der neoliberalen Politik der AKP wachsen und zunehmenden Widerstand hervorrufen.
Ist die AKP eine »islamistische« Partei?
Die AKP ist eine konservativ-islamische Partei und steht für einen gemäßigten politischen Islam. Die Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft ist eines ihrer zentralen ideologischen und gesellschaftspolitischen Projekte. Dies ist auch ein weiterer Grund für die anhaltende Beliebtheit Erdoğans und der AKP, denn ihre Wählerinnen und Wähler sind zum überwiegenden Teil gläubige Muslima und Muslime. Nach 80 Jahren Kemalismus und dessen antireligiöser Politik stellt die neue Rolle, welche der Islam unter der AKP in der Türkei einnimmt, für sie auch ein Ende der Diskriminierung dar. Viele erinnern sich an die Repressalien gegen Muslime im öffentlichen Leben, die auf den schleichenden Sturz der Regierung Necmettin Erbakans durch das Militär im Jahr 1997 folgte. Die lange Geschichte der Ausgrenzung, Erniedrigung und Repression gegen Gläubige in der Türkei ist Bestandteil des kollektiven Bewusstseins großer Teile der Bevölkerung.
Doch obwohl Erdoğan und die AKP vor allem unter konservativen Türkinnen und Türken großen Zuspruch genießen, bedeutet das nicht, dass die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler nach einem islamischen Staat strebt. Der Tagesspiegel schreibt: »Laut Umfragen liegt die Unterstützung für die Einführung des Rechtssystems der Scharia bei zehn Prozent. Neun von zehn Türken finden, dass Frauen frei entscheiden sollten, ob sie das Kopftuch anlegen oder nicht.«
Wenn linke Kritiker Erdoğans ihr vorrangiges Augenmerk auf die Religion legen, machen sie damit einen großen Fehler. Opposition gegen die AKP auf Grundlage ihres »Islamismus« führt lediglich dazu, den Widerspruch zwischen ihrer neoliberalen Politik und ihrer Basis in der Arbeiterklasse zu kaschieren und so die gläubigen Bevölkerungsteile noch näher an die Partei zu binden. Der Widerspruch erscheint dann als einer zwischen Muslimen und Säkularen und die Klassenfrage gerät in den Hintergrund. Statt in erster Linie ihren »Islamismus« zu kritisieren und sich so gegenüber der gläubigen Bevölkerung zu isolieren, sollten Linke die AKP für ihre antidemokratische und prokapitalistische Politik angreifen und auf die gegensätzlichen Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten und der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit hinweisen.
Ist die Türkei auf dem Weg in den Faschismus?
Nein. Nicht alles, was wir nicht mögen, sollten wir als »Faschismus« bezeichnen. Die Politik der Erdogan-Regierung ist demokratiefeindlich, unsozial und nationalistisch. Sie ist Ausdruck eines autoritären Regimes. Aber sie ist nicht die einzige demokratisch gewählte Macht, die den Ausnahmezustand ausgerufen hat und per Dekret regiert: In den USA herrscht seit 16 Jahren der Ausnahmezustand. In Frankreich hat die sozialdemokratische Regierung ihn gerade bis Juli 2017 verlängert und Ministerpräsident François Hollande hat gegen Massenprotest eine neoliberale Arbeitsmarktreform per Dekret durchgesetzt. Trotz der wachsenden staatlichen Repression ist es absolut irreführend, in Bezug auf die Türkei vom Faschismus zu sprechen. Wäre sie ein faschistischer Staat, gäbe es keine kurdische Partei, geschweige denn Abgeordnete. Es gäbe auch keine freien Gewerkschaften und Streiks. In einer Diktatur setzt sich der bürgerliche Gewaltapparat (Armee, Polizei, Gefängnisse/Justiz) als Machtstruktur auch offiziell und formell durch und ersetzt die demokratischen, parlamentarischen Strukturen. Der Faschismus ist dagegen eine Verdoppelung der Staatsmacht durch die Erhebung der faschistischen Bewegung zur staatlichen Macht, neben dem existierenden bürgerlichen Staat, der dadurch auch in seiner Kompetenz beschränkt wird, mit dem Ziel der vollständigen Zerschlagung der Arbeiterbewegung und aller Formen der Demokratie, wie Parteien, Gewerkschaften, Betriebsräten und Genossenschaften. Die Türkei ist auf dem Weg in einen autoritären Staat, aber nicht auf dem Weg in den Faschismus. Trotz dessen stärkt der nationalistische Kurs der Erdogan Regierung die neofaschistische Rechte in der Türkei. Erdogan ist defakto eine Allianz mit der in der Opposition stehenden parlamentarischen Vertretung der neofaschistischen Grauen Wölfe, der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi – MHP), eingegangen. Ihr Erkennungszeichen sind drei weiße Halbmonde auf rotem Grund und der mit fünf Fingern stilisierte »Wolfsgruß«. Unter der Erdogan-Regierung konnte die MHP ihre Wahlergebnisse zwischen 12 und 14 Prozent stabilisieren. Die Partei hat zur Zeit 39 Abgeordnete und nach eigenen Angaben 400.000 Mitglieder.
Wie steht es um die deutsch-türkischen Beziehungen?
Die Äußerungen über die Verschlechterung des deutsch-türkischen Verhältnisses sind irreführend. Denn auch, wenn manchen Politikerinnen und Politikern in Deutschland die Politik Erdoğans teilweise ein Dorn im Auge ist, halten sie an seiner Unterstützung fest. Die Türkei ist für die EU und Deutschland ein wichtiger strategischer Partner. Mit seinen 78 Millionen Einwohnern liegt das Land am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien und ist ein Schlüsselmitglied des imperialistischen Nato-Bündnisses. Innerhalb der Nato verfügt die Türkei über das zweitstärkste Militär nach den USA. Sie ist die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa. Das Land ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber es ist eng in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU integriert. Erich Vad, Brigadegeneral a.D. des Heeres der Bundeswehr, war von 2007 bis 2013 in der außen- und sicherheitspolitischen Abteilung im Bundeskanzleramt tätig.
Gegenüber dem Magazin Cicero sagt er: »Die Türkei ist ein ganz wichtiger geopolitischer Akteur in der Region. Sie ist der strategische Brückenkopf des Westens im Kampf gegen den »Islamischen Staat« und zur Befriedung der Bürgerkriege in Syrien und im Irak. Die Türkei ist Nachbar dieser beiden großen Bürgerkriegsgebiete mit fast drei Millionen Flüchtlingen im Land. Zum Schutz der Nato-Südflanke ist die Türkei unerlässlich. Und obwohl es innerhalb der Nato natürlich Dissens gibt, etwa hinsichtlich der Kurden oder der anfänglichen Passivität der Türkei gegenüber dem »Islamischen Staat«, braucht die Nato eine handlungsfähige Türkei als sicherheitspolitischen Partner. Das Letzte, was wir wollen können, ist politische Instabilität in der Türkei.«
Dementsprechend steht die Bundesregierung fest an der Seite ihres NATO-Partners. Ohne die politische und militärische Unterstützung durch westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA wäre die jahrelange Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung überhaupt nicht möglich gewesen. Die Bundesregierung unterstützt die Türkei militärisch, indem sie eine Raketenstaffel der Bundeswehr (die Patriots) im Land unterhält und im großen Stil Waffen exportiert. Zudem unterstützt sie die türkische Regierung politisch, indem sie weiterhin am Verbot der PKK festhält und so die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden stigmatisiert und kriminalisiert. Das PKK-Verbot ist nichts anderes als ein Instrument der Repression und der Versuch, eine große Minderheit in Deutschland einzuschüchtern.
Welche Rolle spielen die Kurdinnen und Kurden?
Die rund dreißig Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak sind weltweit das größte Volk ohne eigenen Staat. In ihren Siedlungsgebieten werden sie seit langer Zeit angefeindet, unterdrückt und verfolgt. Das reichte vom Entzug der Staatsangehörigkeit in Syrien bis hin zu Angriffen mit Chemiewaffen durch das irakische Saddam-Regime. Auch im Iran erging es der kurdischen Bevölkerung nicht viel besser – unabhängig davon, wer dort gerade herrschte.
Die türkische Regierung betrieb die vielleicht gründlichste Unterdrückungspolitik. Dort wurden beispielsweise die Worte Kurde und Kurdistan aus allen Schulbüchern, Lexika und Landkarten getilgt. Die öffentliche Verwendung der Sprache war verboten, ebenso kurdische Kulturvereine und politische Parteien. Auch kurdische Schulen wurden nicht zugelassen, Zeitungen und Bücher immer wieder beschlagnahmt oder verboten. Laut türkischen Presseangaben wurden alleine in den 1990er Jahren 6153 Siedlungen und 1779 Dörfer zwangsgeräumt und eine Million Menschen zwangsumgesiedelt. Im Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden ermordete die türkische Regierung Tausende politisch aktive Menschen. Bis heute schließt die Türkei etwa zwölf Millionen Personen von jeglichen verfassungsrechtlichen Garantien aus.
Unter Erdogan kam es zunächst jedoch zu politischen Zugeständnissen gegenüber den Kurdinnen und Kurden. Während die Regierung einerseits die Führung der kurdischen Bewegung verfolgte und zahlreiche Politiker ins Gefängnis warf, war sie andererseits zu Verhandlungen über eine friedliche Lösung des Konflikts bereit. Auch wenn diese Fortschritte maßgeblich auf den Widerstand der kurdischen Bewegung zurückzuführen waren, war dies für die Türkei eine bisher nie dagewesene Politik. Die kurdische Frage wurde historisch ausschließlich mit den Mitteln der Sicherheitsapparate bekämpft. Der verhältnismäßig moderate Kurs der AKP gegenüber der kurdischen Bewegung spielte auch eine wichtige Rolle für die große Unterstützung Erdogans.
Als sich jedoch die Kurden im Norden Syriens erfolgreich dem IS widersetzten und es erneut zu Autonomiebestrebungen in den kurdischen Regionen in der Türkei kam, reagierte der türkische Staat wieder mit militärischer Gewalt. Tausende Kurdinnen und Kurden wurden getötet, mehrere Städte und Viertel zerstört und Zehntausende verloren ihre Häuser. Dennoch bleibt die kurdische Bewegung eine starke Massenbewegung. Sie hat sich bisher noch von jedem Rückschlag wieder erholt. Die Solidarität mit der Befreiungsbewegung der Kurdinnen und Kurden ist deswegen seit langem eine zentrale Haltung innerhalb der Linken.
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