Label wie »Islamismus« dienen dazu, Musliminnen und Muslime sowie den Islam an sich pauschal zu diskreditieren. Wir beantworten die wichtigsten Fragen für die Linke
Wie wird »der Islam« vereinheitlicht und zu einer Gefahr für die Gesellschaft gemacht?
In Deutschland werden bei Debatten über den Islam verschiedenste Begriffe durcheinandergebracht und teilweise beabsichtigt miteinander vermischt. Muslime bilden die zweitgrößte Religionsgemeinschaft – weltweit und auch in Deutschland. Wie bei jeder anderen Religion gibt es im Islam Strömungen, die beispielsweise als liberal oder konservativ eingestuft werden können. Der Islam wird insbesondere von AfD und anderen Nazis und Rassisten mit »Islamismus« gleichgesetzt. Die AfD schreibt in ihrem Grundsatzprogramm: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland. In seiner Ausbreitung und in der Präsenz einer ständig wachsenden Zahl von Muslimen sieht die AfD eine große Gefahr für unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Werteordnung.« Doch auch CDUler wie Christoph de Vries oder die Ethnologin Susanne Schröter grenzen das, was sie als »Islamismus« oder »politischen Islam« verstehen, nicht klar von dem Islam an sich ab. Damit befördern sie Vorbehalte gegen den Islam.
In welchem Kontext entstand der Begriff »Islamismus« und wer ist damit gemeint?
Der in seiner Definition unklare Begriff Islamismus ist im Westen entstanden, um Entwicklungen in Ländern mit einer muslimischen Mehrheit zu beschreiben. Er wird zum Beispiel von der Bundeszentrale für politische Bildung als »Sammelbegriff« benutzt, um islamische Bewegungen zu beschreiben, die eine »rein religiös begründete Gesellschaftsordnung wollen«. Der Verfassungsschutz betrachtet jegliche Form von »Islamismus« als »Extremismus«.
Der Begriff beschreibt sowohl Bewegungen, die sich explizit nicht in Politik einmischen wollen, als auch solche, die bewusst einen politischen Anspruch formulieren. Und er schließt Strömungen ein, die Gewalt ablehnen und andere, die Gewalt befürworten.
Es werden nicht nur diejenigen als Islamisten bezeichnet, die ein vermeintlich reaktionäres Gesellschafts- und Geschlechterverständnis aufweisen. Vor allem in der Vergangenheit wurden auch Bewegungen als »islamistisch« bezeichnet, die sich für gesellschaftliche Erneuerung, gegen den Kolonialismus und gegen bestehende Unterdrückung einsetzten. Als »Islamisten« werden sowohl Gruppen bezeichnet, die an der Macht sind und Unterdrückung ausüben, als auch Gruppen, die in ihrem Land in Opposition zum herrschenden Regime stehen. Unter denjenigen Regimen oder Parteien, die alle als »Islamisten« bezeichnet werden, gibt es also große ideologische und praktische Unterschiede und Interessenkonflikte.
Anstatt pauschal über »Islamisten« zu sprechen, ist es sinnvoller zu benennen, welche Bewegung konkret gemeint ist und was es für Widersprüche zwischen ihnen gibt.
Die Lebensrealität der meisten Muslime, in diesem Land und weltweit, hat mit den Klischees, die mit dem Begriff »Islamismus« heraufbeschworen werden, nichts gemein. Im Übrigen zeigt eine von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene Umfrage, dass die Zustimmung zur Demokratie unter Muslimen und Musliminnen mit 91 Prozent höher als unter der Gesamtbevölkerung ist. Bei der Befürwortung der gleichberechtigten Aufgabenteilung von Mann und Frau im Haushalt sind die Werte ähnlich hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Jedoch ist auch das Heranziehen solcher Daten nicht unproblematisch, da Musliminnen und Muslimen stets auferlegt wird, ihre »Demokratiefähigkeit« oder ihre Befürwortung der Gleichberechtigung zu beweisen. Dieser Rechtfertigungszwang, der nie die Mehrheitsgesellschaft betrifft, folgt nämlich gesellschaftlich vorhandenen Rassismen, die Musliminnen und Muslimen beispielsweise ein »Demokratiedefizit« zuschreiben und sie dann dazu auffordern, dazu Stellung zu beziehen.
Wieso ist der Begriff »politischer Islam« wenig aussagekräftig?
Als rechter Kampfbegriff wird die Bezeichnung »politischer Islam« verwendet. So forderte neulich Österreichs Kanzler Sebastian Kurz von der ÖVP, einen Straftatbestand »politischerpolititischer Islam« einzuführen, und veranlasste rassistische Großrazzien bei muslimischen Bürgerinnen und Bürgern, die unter dem Verdacht ständen, einen »politischen Islam« zu propagieren.
Dieser Begriff legt nahe, dass es per se falsch sei, wenn der Islam »politisch« ist – ein Vorwurf, welcher so weder beim Christentum noch beim Judentum gemacht wird. Der Vorwurf macht auch keinen Sinn, denn Religionen bewegen sich nicht im luftleeren Raum. Religionen können bestehende Gesellschaftsverhältnisse stützen oder unterminieren.
Politisch ist nämlich eben auch ein islamischer Sozialismus, wie ihn manche antikapitalistischen Musliminnen und Muslime fordern. Politisch ist die Flüchtlingssolidarität, die viele Musliminnen und Muslime auch religiös begründen, oder Aufrufe von Imamen gegen Rassismus und Nazi-Demonstrationen. Diese Formen des »politischen Islam« werden oft bewusst übergegangen. Denn anders als beim Christentum wird mit dem Begriff politischer Islam nur Negatives bezeichnet.
So ist es bemerkenswert, aber wenig überraschend, dass hierzulande nicht vom »politischen Christentum« geredet wird, wenn es doch die konservative Christlich Demokratische Union (CDU) ist, die seit langem das Land regiert. Deutschland, so könnte man sagen, leidet seit langem unter einer Ausprägung des »politischen Christentums«.
Die Aufregung über den »politischen Islam« dient dazu, die Ursachen für gesellschaftliche Missstände zu verschleiern. Statt Kapitalismus und Imperialismus als Gründe für die Verwerfungen zu benennen, werden muslimische Minderheiten zu Sündenböcken gemacht.
Sind muslimische Organisationen verantwortlich für Kontakte von Organisationen, mit denen sie zusammenarbeiten?
Die Kontaktschuldthese des Verfassungsschutzes trifft in Deutschland häufig Organisationen, die im Verdacht stehen, Teil der Muslimbruderschaft zu sein. Der Kulturwissenschaftler und ehemalige Vorsitzende des Rates für Migration, Prof. Werner Schiffauer, erläutert die Logik der Kontaktschuldthese: »Eine Organisation X wird auf Grund ihrer Kontakte zur Organisation Y oder der Person Z der Muslimbruderschaft zugerechnet. In Folge sind auch alle anderen Organisationen, die zu X Kontakt haben oder hatten, belastet. Dies gilt auch rückwirkend.« Die Folge: Nahezu alle muslimischen Organisationen fallen, der These folgend, als Bündnispartner für linke Organisationen aus, da man ihnen vorwerfen könnte, dass sie irgendwann mit einer Organisation zusammengearbeitet haben, die wiederum irgendwann mal mit irgendwem zu tun hatte, die irgendwelche ideologischen Gemeinsamkeiten mit den Muslimbrüdern haben könnte. Nebenbei wird ignoriert, dass oft sogar die ursprünglich beschuldigten Organisationen selbst – hier die Muslimbrüder und ihre Ableger – unterschiedliche Strömungen in ihren Reihen haben und keine monolithischen Blöcke sind.
Als Bezugspunkt für die Verdächtigungen wird selbst in linken Kreisen dabei teilweise auf den Verfassungsschutz verwiesen. Dieser jedoch macht selten konkrete Angaben zu tatsächlichen organisatorischen Verbindungen, sondern verweist meist auf Kontakte oder theologische Gemeinsamkeiten in einzelnen Bereichen. Aus den Kontakten Einzelner oder ähnlichen Interpretationen bestimmter Fragen wird leicht eine Mitgliedschaft bei z. B. den Muslimbrüdern. Eine Überprüfung oder ein Nachweis bleibt meist aus. Für die betroffenen Organisationen bedeutet es häufig, dass sie keine staatlichen Fördermittel mehr erhalten und somit deutliche finanzielle Einbußen haben, sobald der Verfassungsschutz Bedenken äußert, ohne diese begründen zu müssen. Die Folge für muslimische Organisationen ist häufig, dass ihnen andere Organisationen die Zusammenarbeit aufkündigen, Solidarität gegen staatliche Diskriminierung ausbleibt und die muslimischen Organisationen zum Beispiel bei Bündnissen gegen Rechts nicht mehr einbezogen werden. Der Verdacht des Verfassungsschutzes trifft somit nicht nur Organisationen, die angeblich den Muslimbrüdern nahestehen – was an sich schon fragwürdig wäre – sondern mit dem Dominoeffekt auch möglicherweise alle, die irgendwann mal mit ihnen zu tun hatten. So klagte der Berliner Moscheeverein Neuköllner Begegnungsstätte erfolgreich gegen seine Nennung im Verfassungsschutzbericht. Dennoch wird er in den Medien immer wieder in dem Zusammenhang erwähnt.
Unabhängig davon sollten sich Linke generell nicht auf den Verfassungsschutz und seine Methoden beziehen. Denn der Verfassungsschutz sichert den kapitalistischen Staat, trägt dazu bei, die Klassengesellschaft aufrechtzuerhalten, und steht als Geheimdienst im Ernstfall immer rechts außen.
Die Kontaktschuldthese trifft in den Communities übrigens nicht die konservativen Hardliner, sondern die Personen, die sich bemühen, Brücken zu bauen, die an antirassistischen Protesten beteiligt sind oder die Demokratie stärken wollen. Statt der Stärkung muslimischer Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen bewirkt die Kontaktschuldthese die Ausgrenzung muslimischer Organisationen und damit innerhalb der Community eine Schwächung derjenigen, die für eine breite Zusammenarbeit mit nicht-muslimischen Organisationen eintreten. Die Kontaktschuld gilt dabei stets nur in eine Richtung, denn Kontakte zu linken, progressiven oder liberalen Organisationen wirken nicht entlastend, im Gegenteil: Sie werden teilweise als Versuch gedeutet, die eigenen Absichten zu verstecken.
Darüber hinaus entlastet die Kontaktschuldthese den westlichen Imperialismus und auch die deutsche Außenpolitik von ihrer Verantwortung für die Probleme in einer Vielzahl von muslimisch geprägten Ländern. Sie verhindert ein tieferes Verständnis der Konflikte in konkreten Ländern. So werden in ihrem Entstehungsland Ägypten Anhängerinnen und Anhänger der Muslimbrüder von der durch deutsche Rüstungsexporte und »Sicherheitskooperation« unterstützten»säkularen« Militärdiktatur täglich verfolgt, verhaftet und ermordet.
Was hat es auf sich mit dem Vorwurf von rechts, dass Muslime ihre wahren Absichten versteckten?
Der Verfassungsschutz warnt vor der Gefahr eines »legalistischen Islamismus«, bei dem »Islamisten« gewaltfrei und gesetzestreu agieren, aber angeblich andere Ziele haben.
Ähnliche Vorwürfe hören Musliminnen und Muslime oft. Ihr Eintreten für Gleichberechtigung und Solidarität, für Demokratie und Menschenwürde sei nur eine Tarnung ihrer eigentlichen demokratie- und menschenfeindlichen Absichten. Diese Unterstellung knüpft an antisemitische Denkmuster an, nach denen Jüdinnen und Juden ihre eigentlichen Absichten verbergen würden. Dem zu Grunde liegt das Vorurteil, dass der Islam unvereinbar mit Demokratie und das Ziel aller Muslime die Errichtung eines Kalifats sei.
Auch in Teilen des linken und linksliberalen Spektrums wird vor den Gefahren des »legalistischen Islamismus« gewarnt. Ihre Kritik richtet sich zwar nicht gegen alle Musliminnen und Muslime, aber gegen muslimische Organisationen und Verbände. So schreibt beispielsweise Reyhan Şahin in der Süddeutschen Zeitung: »Der legalistische Islamismus unterscheidet sich weniger in der Radikalität seines Gesellschaftsentwurfs als in seinen Methoden vom Dschihadismus und ist daher umso wirksamer.«
»Links und antirassistisch auf Deutsch, rechtsautoritär auf Türkisch«, so beschreibt der Journalist Ilkay Çiçek im »Neuen Deutschland« die Taktik konservativer Verbände in Deutschland.
Auch wenn es nicht beabsichtigt ist: Solche pauschalen Vorwürfe begründen oft Passivität gegen bestehende Diskriminierungen und führen zu antimuslimischem Rassismus. Und sie vereinheitlichen Menschen, die aus den verschiedensten Strömungen und Gemeinden kommen.
Wie kann man reaktionäre islamische Strömungen kritisieren ohne Rassismus zu schüren?
Dort, wo es nationalistische, kriegsverherrlichende oder rassistische Äußerungen gibt, müssen diese konkret bekämpft werden. So haben zum Beispiel Mitglieder des geschäftsführenden Parteivorstandes der LINKEN 2018 einen kriegsverherrlichenden Tweet von dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) Mehmet Çelebi zum Angriff der Türkei auf Afrin in einem Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern des ZMD kritisiert und festgestellt, dass es auch im ZMD selbst eine scharfe Kritik an dieser Äußerung gibt.
Kritik muss immer konkret sein und darf nicht ein Vorwand sein, um einer Religionsgemeinschaft pauschal ihre Rechte abzusprechen.
Ein Generalverdacht, ob vom Verfassungsschutz oder Linken, ist schwerwiegend. Muslimischen Organisationen wird grundsätzlich misstraut und sie sind gezwungen, einen Nachweis abzuliefern, dass ihr Einstehen für Demokratie und Menschenrechte ernst gemeint ist. Dieser Nachweis wird allerdings schnell wieder angezweifelt, da es ja scheinbar einen inhärenten Widerspruch zwischen Islam und Demorkatie gibt, der Zweifel schürt. Das trifft vor allem die Reformkräfte in den Gemeinden und Verbänden. Solch eine Beweispflicht ist eine Ausprägung des antimuslimischen Rassismus und muss ein Ende finden.
Wieso ist ein gemeinsamer Kampf so wichtig?
Anstatt einer Nachweispflicht ist eine Einheit im gemeinsamen Kampf gegen die Probleme notwendig, die alle Menschen in Deutschland teilen und von denen insbesondere Minderheiten betroffen sind. Das schließt die gezielte Einbindung von muslimischen Akteuren und Akteurinnen im Kampf gegen Rassismus ein, aber auch Zusammenarbeit überall, wo es eine gemeinsame politische Grundlage gibt zum Beispiel gegen Mietenwahnsinn, besonders starke Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt, Abschiebungen, menschenverachtende Außenpolitik, Zerstörung der Umwelt oder Stellenabbau als Teil des größeren Kampfs gegen den Kapitalismus. Ein gemeinsames Vorgehen ist wichtig, um Vorurteile abzubauen und voneinander zu lernen, um alle Betroffenen der herrschenden Missstände zu adressieren und einzubinden. So schaffen wir breite Bündnisse gegen rechts und gewinnen mehr Musliminnen und Muslime für eine antikapitalistische Alternative.
Foto: verbformen.de
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Islam, Islamfeindlichkeit, Muslime