Der gescheiterte Putschversuch von Teilen des Militärs in der Türkei hat Präsident Erdoğan in die Offensive gebracht. Doch warum putschte das Militär und wer waren die Putschisten? Kann Erdoğans Errichtung einer Präsidialdiktatur noch gestoppt werden? Wir beantworten die wichtigsten Fragen rund um den missglückten Putsch am Bosporus
Ein »dilettantischer« Putschversuch?
Der Putschversuch von Teilen des Militärapparates in der Türkei ist gescheitert. Bei dem versuchten Umsturz wurden jedoch offiziellen Angaben zufolge in der Nacht mindestens 290 Menschen, darunter 104 Putschisten, getötet und mehr als 1400 Menschen verletzt. Türkische Medien berichten übereinstimmend, dass Erol Olcak, persönlicher Berater des türkischen Präsidenten Erdoğan, und dessen 16-jähriger Sohn getötet wurden. Erdoğan schilderte in einem CNN-Interview, dass er, wäre er zehn Minuten länger in seinem Hotel geblieben, ermordet oder verhaftet worden wäre. Es ist nicht zu überprüfen, ob das wirklich stimmt. Entgegen der Berichterstattung in den meisten Medien, die den Putschversuch als »amateurhaft«, »dilettantisch« oder »schlecht organisiert« kennzeichnen, veröffentlichte die britischen Zeitung Guardian neue Details, die dieser Sichtweise widersprechen. In dem Bericht werden hochrangige Beamte und Mitglieder der Regierung zitiert, die den Coup als »gut organisiert« beschreiben und darlegen, dass ein Staatsstreich nur knapp verhindert wurde.
Wie wurde der Putsch gestoppt?
Der Staatsstreich wurde durch den Widerstand der Bevölkerung gestoppt. Zehntausende Menschen stellte sich den Putschisten entgegen. Während der Proteste gegen den Putsch kam es auch zu Angriffen von Faschisten und Dschihadisten auf Büros der prokurdischen Linkspartei HDP. Außerdem wurden alevitische und kurdische Viertel attackiert. Die Angriffe konnten jedoch zurückgeschlagen werden. Von Teilen der Linken, auch in Deutschland, werden die Proteste gegen den Putsch deswegen abgelehnt. Manche sprechen sogar von einem »faschistischen Mob« der auf den Straßen »wütete«. Doch unter den Protestierenden waren nicht nur Anhängerinnen und Anhänger von Erdoğans AKP. Tausende andere, die Erdoğans autoritäres Regime hassen, wussten ein Militärputsch würde mindestens ebenso brutale Repression bedeuten.
Obwohl Erdoğan derzeit Krieg gegen das kurdische Volk führt, verurteilten kurdische Gruppen, einschließlich der HDP den Putsch. Die HDP rief auch zum Widerstand gegen den Putsch auf. »Die einzige Lösung ist demokratische Politik«, hieß es in einer Erklärung der beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. »Wir sind, unter allen Umständen und aus Prinzip, gegen jede Form eines Putschs.« Laut FAZ antworteten bei einer Umfrage des sozialen Netzwerks »Streetbees« auf die Frage »Wünschen Sie sich, dass Präsident Erdoğan weiterhin an der Regierung bleibt?« 58 Prozent der an der Umfrage Teilnehmenden mit »Nein«. Gleichzeitig lehnte die überwältigende Mehrheit derselben Gruppe, mit 82 Prozent, den Putsch ab.
War Fethullah Gülen der Drahtzieher des Militärputsches?
Der türkische Präsident Erdoğan hat den angeblichen Drahtzieher des Militärputsches schnell ausgemacht: Sein Ex-Verbündeter Fethullah Gülen, der in den USA lebt. Für Erdoğan war er nach dem Wahlsieg seiner islamisch-konservativen AKP ein wichtiger Mitstreiter. Der gemeinsame Feind: Das Militär.
Nach dem Machtantritt der AKP im Jahr 2002 stiegen Unterstützerinnen und Unterstützer der Gülen-Bewegung in staatlichen Institutionen auf und wurden zu Verbündeten von Erdoğan in der Auseinandersetzung mit kemalistischen Kräften. Zum offenen Bruch zwischen Gülen und Erdoğan kam es 2013. Erdoğan wollte den wachsenden Einfluss Gülens eindämmen – vor allem, als Gülen-treue Staatsanwälte die Regierung der Korruption beschuldigten, schlug der Präsident mit voller Härte zurück. Tausende Richter, Staatsanwälte und Polizisten wurden gefeuert oder strafversetzt, die Korruptionsermittlungen gegen Erdoğan wurden eingestellt. Erdoğan erklärte die Gülen-Bewegung zur »Terrororganisation«. Mehrere Gülen nahestehende Medienunternehmen, darunter die größte türkische Tageszeitung »Zaman«, und eine Bank wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Gülen selbst wies die jüngsten Vorwürfe der Beteiligung am Putsch umgehend zurück. Die Türkei übersandte der USA zwar vier Dossiers die als Beweise gegen Gülen dienen sollen, öffentlich zugängliche Beweise für eine Verbindung zwischen dem Geistlichen und den Putschisten gibt es bisher jedoch nicht.
Wer waren die Putschisten?
Viel wahrscheinlicher ist es, dass der Coup von einzelnen hochrangigen Offizieren ausging, nicht aber vom Generalstab. Nicht involviert war beispielsweise Generalstabschef Hulusi Akar, der gemäß der Darstellung der Regierung von den Meuterern zeitweise als Geisel genommen wurde. Hohe Generäle der türkischen Armee sind offenbar vom türkischen Geheimdienst MIT bereits vor dessen Beginn über den Putschversuch von Teilen des Militärs am vergangenen Freitag informiert worden. Das berichtete die englischsprachige Hürriyet Daily News am Dienstag unter Berufung auf eine Erklärung des Generalstabs in Ankara.
Die Anführer des Putsches repräsentieren eine Fraktion des Militärs und des Staatsapparats. Unter der AKP-Regierung entfernte sich die Türkei von den kemalistischen Prinzipien und auch auf dem Kampffeld musste die Armee Rückschläge einstecken. Ungeachtet ihrer militärischen Überlegenheit gelang es der Armee innerhalb des vergangenen Jahres nicht, die PKK entscheidend zu schwächen. Der türkische Journalist Ahmet Sik sieht die Triebkraft der Putschisten auch darin, den Säuberungen des Erdoğan-Regimes zuvorzukommen. Erdoğan plante bei der diesjährigen Sitzung des Hohen Militärrats missliebige Angehörige innerhalb der Streitkräfte zu entfernen. Unter Vorsitz des Staatspräsidenten werden bei diesem Treffen Ende August die Beförderungen und Pensionierungen beschlossen. Offenbar wollten einige Militärs, die sich am Putschversuch beteiligt haben, verhindern, dass sie Ende August aus dem Dienst ausscheiden müssen. So seien die Planer des Putsches unter Druck geraten und sie mussten mit einem »Plan B« ihren Putsch vorziehen, schreibt Sik.
Welche Rolle spielt das Militär in der Türkei?
In einer im staatlichen Fernsehsender TRT verlesenen Erklärung der Putschisten hieß es, dass Militär wolle »die verfassungsmäßige Ordnung, Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten wiederherstellen«. Doch das Militär steht für das Gegenteil. Es ist nicht der erste Versuch des Militärs in der Türkei eine gewählte Regierung aus dem Weg zu räumen. In der jüngeren türkischen Geschichte gab es gleich mehrere Militärputsche und Putschversuche, so in den Jahren 1960, 1971, 1980 und 1997. Das Militär spielte sich jedes mal als angeblicher Garant des »Friedens« und der »Demokratie« auf, doch für die Menschen in der Türkei bedeutete die Machtübernahme der Armee Unterdrückung, Folter und Mord. Ein erfolgreicher Coup hätte massive Repression nach sich gezogen. Deswegen ist es zu begrüßen, dass Menschen in der Türkei sich den Putschisten in den Weg stellten.
Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn die türkischen Streitkräfte genossen in der Bevölkerung lange Zeit große Zustimmung und Akzeptanz. Das hohe Ansehen des Militärs hat seinen Ursprung in der Geschichte des türkischen Staates, welcher 1923 aus dem Sieg der türkischen Befreiungsarmee gegen die alliierten Mächte hervorging, die nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg das Land besetzt hielten. Der Führer des Widerstands gegen die Besatzung war der General Mustafa Kemal, später Atatürk (deutsch: Vater der Türken) genannt. Er blieb bis zu seinem Tod 1938 Präsident der neu geschaffenen Republik Türkei. Mit strenger Hand baute er einen Staat auf, der auf Nationalismus, einer starken Stellung des Militärs und strikter Trennung von Religion und Staat beruhte. Auch seine Nachfolger an der Spitze des Staates waren über Jahrzehnte hinweg Offiziere. Bis heute betrachtet sich das türkische Militär als Hüter des kemalistischen Erbes. Dieses Selbstverständnis drückt sich auch in der Hymne der türkischen Kriegsakademie aus, in der es heißt: »Wir haben diese Republik mit Blut und Weisheit geschaffen«, und weiter: »Selbst wenn die Hölle überkocht, bleiben wir die unsterblichen Wächter.« Dementsprechend griff das Militär wann immer es seine Machtstellung gefährdet sah unmittelbar in die Politik ein.
Doch seit Erdoğan und seine AKP in der Türkei an die Regierung kamen, musste die Armeeführung mehrere herbe Niederlagen einstecken. Nachdem Erdoğan 2003 Ministerpräsident der Türkei wurde, begann er die Macht der Offiziere zurückzudrängen. Bereits damals kursierten Gerüchte es könne zu einem erneuten Putsch kommen, doch Erdoğan gelang es seine Entmachtung zu verhindern. Im Jahr 2008 wurden erstmals in der türkischen Geschichte Offiziere verhaftet, denen vorgeworfen wurde einen Staatsstreich zu planen. Bereits zwei Jahre später tauchten erneut Putschpläne auf, die eine Verhaftungswelle nach sich zogen. Mit einem Schlag schaltete die Justiz große Teile der Führungselite der Armee aus. Seit 2013 suchten Erdoğan und die AKP zunehmend die Versöhnung mit den verbliebenen kemalistischen Teilen des Militärs. Offenbar ist es darüber zur Spaltung innerhalb des Militärs gekommen, wie man mit der AKP umgehen soll. Ein Teil fühlte sich ermutigt weiter zu gehen und mit Erdoğan ganz Schluss zu machen. Nun versucht Erdoğan das Momentum zu nutzen und die Massenenergie in einen Gegenputsch um zu kanalisieren, um auch seine letzten Widersacher in den Reihen des Staatsapparates auszuschalten.
Ist die Türkei auf dem Weg in eine Präsidialdiktatur?
Der Putschversuch zeigt die tiefen Risse in der herrschenden Klasse der Türkei und nach wie vor drohen neue Gewalttaten und Unterdrückungsmaßnahmen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierung reagieren auf den Putschversuch mit einem diktatorischen Gegenschlag. Das Regime will die Gelegenheit nutzen, um die Herrschaft der AKP langfristig zu sichern. Nur Stunden nach der Niederschlagung der Rebellion machte Erdoğan seine Drohung einer »Säuberungswelle« wahr. Gestern verhängte er schließlich einen dreimonatigen Ausnahmezustand. Jetzt herrscht er per Dekret.
Die »Säuberungen« richten sich längst nicht nur gegen die Armee, sondern auch gegen die Justiz und Beschäftigte im Bildungssystem. Seit dem Putsch am Freitag sind nach Angaben von Regierungschef Binali Yildirim 7543 Verdächtige festgenommen worden, darunter 6038 Soldaten und 100 Polizisten, 755 Richter und Staatsanwälte sowie 650 weitere Zivilisten. Nach Angaben des Senders NTV sitzen 34 Generäle in Untersuchungshaft. Unter den verhafteten Militärs befindet sich auch hochrangige Armeeoffiziere, die am Kampf gegen die kurdische Bevölkerung beteiligt waren. Nach Angaben der türkischen Regierung sind zudem mehr als 13.000 Staatsangestellte suspendiert worden, darunter 7899 Polizisten und 2745 Justizbeamte – fast ein Fünftel der schätzungsweise rund 15.000 Richter in der Türkei – sowie 30 Gouverneure und fünf Mitglieder des Hohen Rates der Richter und der Staatsanwaltschaft. Das Bildungsministerium suspendierte laut einem Bericht des Fernsehsenders NTV mehr als 15.000 Mitarbeiter vom Dienst. Die Hochschulverwaltung forderte 1.577 Dekane und die Rektoren aller Universitäten zum Rücktritt auf. Die Nachrichtenagentur DHA meldete im Apparat des Ministerpräsidenten seien mehr als 250 Menschen von ihren Aufgaben entbunden worden. Insgesamt stieg die Zahl der Suspendierungen aus dem öffentlichen Dienst nur wenige Tage nach der Niederschlagung des Putschversuches auf etwa 29.000 Beschäftigte. Unterdessen entzog die Telekommunikationsbehörde RTÜK insgesamt 24 Radio- und Fernsehsendern die Lizenz.
Klar ist: Unter den Suspendierten und Verhafteten sind nicht nur mutmaßliche Unterstützerinnen und Unterstützer des Putsches, sondern auch völlig unbeteiligte Kritikerinnen und Kritiker Erdoğans. Angesichts dieser Entwicklungen steht für viele Beobachter fest: Der tatsächliche Profiteur des gescheiterten Putsches ist Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein AKP-Regime. Tatsächlich bedeutet das Scheitern des Putsches zunächst einmal eine Stärkung Erdoğans. Er scheint fest entschlossen die Gelegenheit zu nutzen seine Machtstellung abzusichern und weiter auszubauen. Allerdings täuscht das Bild Erdoğan säße fester im Sattel denn je. Zwar beteuert die Regierung die Lage unter Kontrolle zu haben, doch das Land befindet sich nach wie vor in einem Zustand politischer Instabilität. Der gescheiterte Coup ist der jüngste Höhepunkt eines ohnehin schon turbulenten Jahres für die Türkei – neben zwei Parlamentswahlen, gab es in den vergangenen Monaten eine Serie schwerer Anschläge mit hunderten Toten, das Land ist tief hineingezogen in den Krieg in Syrien und die türkische Regierung heizte, durch die Aufkündigungen des Friedensprozesses mit der PKK, den Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung neu an. Und obwohl es momentan nicht so aussieht, könnte auch aus der türkischen Bevölkerung der Widerstand gegen den autoritären Kurs Erdoğans schon bald wieder aufflammen. Es ist keine drei Jahre her, dass ausgehend von den Protesten im Gezi-Park eine Massenbewegung das Land erfasste und die Regierung in einer tiefe Krise stürzte. Es ist also auch nach dem Scheitern des Putsches und der darauf folgenden drastischen Maßnahmen des AKP-Regimes keinesfalls ausgemacht, dass Erdoğans Versuch in der Türkei eine Präsidialdiktatur zu errichten, aufgehen wird.
Welche Rolle spielt die Türkei für die EU und die USA?
Teile der türkischen Regierung beschuldigten die US-Administration den Putsch initiiert zu haben. Der türkische Arbeitsminister Süleyman Soylu sagte dem TV-Sender Haberturk: »Hinter diesem Putsch stecken die USA.« Richtig ist, dass neokonservative Teile der US-Eliten in den vergangen Monaten offen über einen Putsch in der Türkei diskutiert haben. Sowohl die US-Regierung als auch die deutsche Bundesregierung warteten mehrere Stunden bevor sie den Staatsstreich verurteilten. Sie können gewartet haben, bis klar war, dass der Putschversuch wirklich scheiterte. Angela Merkel erklärte dann: »Es ist und bleibt das Recht des Volkes, in freien Wahlen zu bestimmen, wer es regiert. Panzer auf den Straßen und Luftangriffe gegen die eigene Bevölkerung sind Unrecht.« Doch solche klaren Worte wurden von westlichen Politikerinnen und Politikern nicht geäußert, als Erdoğan im Sommer vergangenen Jahres das Ergebnis der Parlamentswahlen kurzerhand zu einem »Fehler« erklärte, den es zu korrigieren gelte. Über Jahrzehnte hat der Westen mit Diktatoren aus dem Nahen Osten, Afrika, Lateinamerika und Asien zusammen gearbeitet oder Militärputsche sogar direkt unterstützt. Säße Erdoğan jetzt, wie der ehemalige ägyptische Präsident Mohammed Mursi, der ebenfalls demokratisch gewählt worden war, im Gefängnis, hätte der Westen keine Skrupel gegen einen Staatsstreich. Das Argument der Demokratie bringen Politikerinnen und Politiker nur dann auf, wenn es in ihr politisches Kalkül passt.
Doch auch wenn die Politik Erdoğans den Eliten in den USA und der EU teilweise ein Dorn im Auge ist und sie einem Erfolg des Putsches wohl kaum im Wege gestanden hätten, ist es unwahrscheinlich, dass der Putschversuch aus ihren Reihen maßgebliche Unterstützung fand. Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in der Türkei wäre die Gefahr eines landesweiten Bürgerkrieges, der das Land ins Chaos gestürzt hätte, zu groß. Und das hätte schwere Folgen, denn die Türkei ist für die EU und die USA ein wichtiger strategischer Partner. Mit seinen 78 Millionen Einwohner liegt das Land am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien und ist ein Schlüsselmitglied des imperialistischen Nato-Bündnisses. Innerhalb der Nato verfügt die Türkei über das zweitstärkste Militär nach den USA. Sie ist die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa. Das Land ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber es ist eng in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU integriert. Erich Vad, Brigadegeneral a.D. des Heeres der Bundeswehr, war von 2007 bis 2013 in der außen- und sicherheitspolitischen Abteilung im Bundeskanzleramt tätig. Gegenüber dem Magazin Cicero sagt er: »Die Türkei ist ein ganz wichtiger geopolitischer Akteur in der Region. Sie ist der strategische Brückenkopf des Westens im Kampf gegen den »Islamischen Staat« und zur Befriedung der Bürgerkriege in Syrien und im Irak. Die Türkei ist Nachbar dieser beiden großen Bürgerkriegsgebiete mit fast drei Millionen Flüchtlingen im Land. Zum Schutz der Nato-Südflanke ist die Türkei unerlässlich. Und obwohl es innerhalb der Nato natürlich Dissens gibt, etwa hinsichtlich der Kurden oder der anfänglichen Passivität der Türkei gegenüber dem »Islamischen Staat«, braucht die Nato eine handlungsfähige Türkei als sicherheitspolitischen Partner. Das Letzte, was wir wollen können, ist politische Instabilität in der Türkei.«
Woher kommt der Erfolg der AKP?
Einer der entscheidenden Gründe für den bisherigen Erfolg der AKP ist die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei. Sie bildet die Basis des Vertrauens in Erdoğans Politik und Rhetorik. Tatsächlich hat das Land während der AKP-Regierung seit 2002 ein stetiges und enormes Wirtschaftswachstum erlebt, von dem vor allem gebildete konservative Mittelschichten und Unternehmen aus Mittelanatolien profitierten. Das Bruttoinlandsprodukt der Türkei hat sich in dieser Zeit vervierfacht.
Die AKP ist eine junge Partei. Sie wurde erst 2001 gegründet. Trotzdem verfügt sie nach eigenen Angaben über 9.062.525 Mitglieder (Zum Vergleich: Die kemalistische und sozialdemokratische CHP hat 1.083.353 Mitglieder, die neofaschistische MHP 407.138 und die linke, prokurdische HDP 11.942 Mitglieder). Dass manche Oppositionelle behaupten, die AKP-Wähler seien der ungebildete Teil der Bevölkerung, sagt viel über die Arroganz dieser Oppositionellen aus und wenig über die Wähler der AKP. Denn zu den AKP-Wählern gehören wertkonservative Städter genauso wie die breite Mehrheit der Landbevölkerung. Unter der AKP zu gewissem Wohlstand gekommene gebildete Mittelschichten tendieren ebenfalls zu Erdoğan, genau wie lange Zeit auch beträchtliche Teile der kurdischen Bevölkerung.
Doch die wirtschaftliche Perspektive ist nach Jahren des Aufschwungs alles andere als rosig. So sorgte der gescheiterte Putsch für Turbulenzen an der Istanbuler Börse. Am Freitagabend hatte die türkische Lira nach Bekanntwerden des Putschversuchs gegenüber dem Dollar um bis zu sechs Prozent an Wert verloren. Dies war der stärkste Einbruch an einem Tag seit der Finanzkrise 2008. Die Schwäche der Währung könnte eine erhöhte Inflation zur Folge haben. Zudem ist die türkische Wirtschaft auf kurzfristige Kapitalflüsse aus dem Ausland angewiesen, die sich nun verteuern könnten. Hinzu kommt, dass der Tourismus, der einer der größten Wirtschaftszweige in der Türkei ist, deutliche Einbußen meldet. Wegen der angespannten Sicherheitslage weichen viele Touristen auf andere Ziele aus. Im Mai sind die Einnahmen gegenüber dem Vorjahresmonat um rund 23 Prozent zurückgegangen. Auch die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem. Sie liegt mit über zehn Prozent auf einem Fünf-Jahres-Hoch. Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, viele finden aber keine Jobs. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung in die Städte und industriellen Zentren ab. Sollte sich die wirtschaftliche Perspektive der Türkei weiter verschlechtern, könnte auch die Unzufriedenheit mit der neoliberalen Politik der AKP wachsen und zunehmenden Widerstand hervorrufen.
Ist die AKP eine »islamistische« Partei?
Die AKP ist eine konservativ-islamische Partei und steht für einen gemäßigten politischen Islam. Die Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft ist eines ihrer zentralen ideologischen und gesellschaftspolitischen Projekte. Dies ist auch ein weiterer Grund für die anhaltende Beliebtheit Erdoğans und der AKP, denn ihre Wählerinnen und Wähler sind zum überwiegenden Teil gläubige Muslima und Muslime. Nach 80 Jahren Kemalismus und dessen antireligiöser Politik stellt die neue Rolle, welche der Islam unter der AKP in der Türkei einnimmt, für sie auch ein Ende der Diskriminierung dar. Viele erinnern sich an die Repressalien gegen Muslime im öffentlichen Leben, die auf den schleichenden Sturz der Regierung Necmettin Erbakans durch das Militär im Jahr 1997 folgte. Die lange Geschichte der Ausgrenzung, Erniedrigung und Repression gegen Gläubige in der Türkei ist Bestandteil des kollektiven Bewusstseins großer Teile der Bevölkerung.
Doch obwohl Erdoğan und die AKP vor allem unter konservativen Türkinnen und Türken großen Zuspruch genießen, bedeutet das nicht, dass die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler nach einem islamischen Staat strebt. Der Tagesspiegel schreibt: »Laut Umfragen liegt die Unterstützung für die Einführung des Rechtssystems der Scharia bei zehn Prozent. Neun von zehn Türken finden, dass Frauen frei entscheiden sollten, ob sie das Kopftuch anlegen oder nicht.«
Wenn linke Kritiker Erdoğans ihr vorrangiges Augenmerk auf die Religion legen, machen sie damit einen großen Fehler. Opposition gegen die AKP auf Grundlage ihres »Islamismus« führt lediglich dazu, den Widerspruch zwischen ihrer neoliberalen Politik und ihrer Basis in der Arbeiterklasse zu kaschieren und so die gläubigen Bevölkerungsteile noch näher an die Partei zu binden. Der Widerspruch erscheint dann als einer zwischen Muslimen und Säkularen und die Klassenfrage gerät in den Hintergrund. Statt in erster Linie ihren »Islamismus« zu kritisieren und sich so gegenüber der gläubigen Bevölkerung zu isolieren, sollten Linke die AKP für ihre antidemokratische und prokapitalistische Politik angreifen und auf die gegensätzlichen Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten und der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit hinweisen.
Wie weiter für die Linke?
Die Linke in der Türkei steht vor großen Herausforderungen. Seit dem Umsturzversuch bestimmen vor allem Anhängerinnen und Anhänger Erdoğans das Bild auf den Straßen. Die türkische Linke ringt um eine Haltung. Während die prokurdische Linkspartei HDP den Putsch sofort verurteilte, warnen andere vor dem »islamistischen Mob« der nach dem niedergeschlagenen Putsch auf den Straßen wüten würde. Doch obwohl die Bewegung, die sich in Unterstützung Erdoğans und der AKP nach dem Putschversuch in der Türkei sowie in zahlreichen europäischen Städten formierte, in vielerlei Hinsicht problematisch ist, wäre es ein Fehler sich als Linke aus der Auseinandersetzung heraushalten zu wollen. Stattdessen müssen Linke selbst auf der Straße präsent sein und sich sowohl scharf gegenüber den Putschisten aus dem Militär abgrenzen, als auch den Widerstand gegen Erdoğans Gegenputsch unterstützen.
Dass die Linke, wenn sie auf die Straßen mobilisiert, Erfolg haben kann, haben erst kürzlich die Massenproteste der Gezi-Bewegung gezeigt. Auch viele Wählerinnen und Wähler der AKP haben Kritik am autoritären und repressiven Kurs von Erdoğan. Die Linke kann diese Menschen erreichen, wenn sie die alten Fehler überwindet. Denn auch wenn alles danach aussieht, dass sich das Land nach dem Scheitern des Putsches weiter in Richtung eines diktatorischen AKP-Regimes entwickelt, wird dies nicht ohne Gegenwehr vonstattengehen. Der erfolgreiche Widerstand der kurdischen Befreiungsbewegung, die bislang nur vereinzelten, aber stärker werdenden betrieblichen Kämpfe und sozialen Bewegungen bilden das Potenzial einer Gegenmacht von unten. Um dieses zu nutzen, braucht es ein breites gesellschaftliches Bündnis für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Demokratisierung.
Schlagwörter: AKP, Atatürk, Diktatur, Erdoğan, Gezi, HDP, Islam, Islamismus, Militär, Militärputsch, Präsidialdiktatur, Putsch, Türkei