Die Türkei unter Erdoğan polarisiert. Während die deutsche Mehrheitsgesellschaft immer kritischer auf das Land am Bosporus blickt, gehen viele türkische Migranten in Deutschland für Erdoğan auf die Straße. Ali Cem Deniz beleuchtet in seinem Buch »Yeni Türkiye – Die Neue Türkei. Von Atatürk bis Erdoğan« die Geschichte und Gesellschaft des türkischen Staates jenseits von Klischees. Von Heinz Willemsen
Unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan hat die AKP eine in der türkischen Geschichte beispiellose Folge an Wahlsiegen errungen. Keine andere Partei konnte so lange an der Regierung bleiben. Kaum ein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war so einflussreich und so umstritten wie Erdoğan. Das kemalistische Bürgertum und das Militär, das jahrzehntelang die Politik in der Türkei bestimmt hatte, sieht sich heute in der Defensive. Die Popularität von Erdoğan können sie sich nur damit erklären, dass ungebildete Massen aus den ländlichen Regionen auf populistische Islamisten hereingefallen sind. Und viele deutsche Linke folgen ihnen in diesem Erklärungsversuch.
Ali Cem Deniz zeigt in seinen Buch über die neue Türkei, dass diese Klischees den Blick auf die gewaltige Transformation der türkischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verstellen und so darf man anfügen, die Linke in ihrem Widerstand gegen die autoritäre Umgestaltung unter Erdoğan entwaffnen.
Islam und Kurden: Die Feindbilder des Kemalismus
Die moderne Türkei ist aus der Oppositionsbewegung in den oberen Rängen der Gesellschaft und des Staates im Osmanischen Reich entstanden. Die jungen Eliten, die ihren Stützpunkt vor allem im Militär hatten, sahen die Schwäche des Reiches in den auffälligsten Unterschieden zum Westen, in der Religion und der multiethnischen Gesellschaft. Der Islam und die Kurden wurden deshalb zu den Feindbildern der kemalistischen Klasse. Als Abkömmlinge der Oberklassen gaben sie sich offen elitär. Die ungebildeten Massen mußten mit positivistischen und nationalistischen Ideen erzogen werden. Der Kemalismus, das wird nach Lektüre des Buches » Yeni Türkiye« deutlich, ist nicht nur eine Klassenbewegung der Ober- und Mittelschichten. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg gegen die Kurden hat seinen Ursprung im Bemühen der Kemalisten einen ethnisch homogenen Nationalstaat zu gründen.
Das erklärt auch warum die HDP sich ohne jedes wenn und aber gegen den Militärputsch im Juni 2016 gestellt hat, anders als viele deutsche Linke. Auch ist der Völkermord an den Armeniern, nicht wie deutsche Debatten im letzten Jahr nahelegen, ein Ausfluss des Islam. Es waren Angehörige des »Komitees für Einheit und Fortschritt«, die Vorläufer der Kemalisten, die ihn organisierten. Viele Leser werden sich erstaunt die Augen reiben, wenn sie lesen, dass ausgerechnet Erdoğan der erste türkische Politiker war, der Trauer um die Toten von 1915 bekundete, auch wenn er den Begriff Genozid nicht verwendet.
»Weiße« und »schwarze« Türken
Die Geschichte der Türkei von ihrer Gründung 1923 bis zur Jahrtausendwende ist vor allem eine Geschichte des Kampfes des kemalistisch-laizistischen Bürgertums gegen die überwältigende Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Der Gegensatz zwischen den »weißen« Türken, den kemalistischen Mittel- und Oberschichten und den »schwarzen« Türken, der überwältigenden Mehrheit der islamischen Landbevölkerung Anatoliens und den Kurden im Südosten bestimmt die Politik der Türkei nach dem zweiten Weltkrieg. Mit mehreren Militärputschen versuchte das Bürgertum seine Macht zu sichern. Doch die ökonomische Entwicklung förderte die Emanzipation des Islam und der Kurden. Millionen türkischer Bauern in Anatolien und Arbeiter und Unterschichten in Istanbul sahen Erdoğan´s Wahlsieg 2002 als Befreiung an. Auch viele Kurden versprachen sich von der AKP-Regierung ein Ende der Repression.
Angesichts der autoritären Wende seit dem gescheiterten Militärputsch warnt Ali Cem Deniz vor der Falle des Kulturkampfs – Lazismus gegen Islam – gegen Erdoğan. Wer die politische Geschichte der Türkei verstehen will, sollte zu seinem Buch über die neue Türkei greifen, auch wenn die ökonomische Geschichte des Landes in dem Buch zu kurz kommt.
Das Buch: Ali Cem Deniz | Yeni Türkiye – Die Neue Türkei. Von Atatürk bis Erdoğan | Promedia Verlag | Wien 2016 | 216 Seiten | 17,90 Euro
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Schlagwörter: AKP, Atatürk, Buchrezension, Diktatur, Erdoğan, HDP, Islam, Kemalismus, Kurden, Laizismus, Militärdiktatur, Militärputsch, Recep Tayyip Erdoğan, Türkei