Die Wahlen in der Türkei brachten keine Entscheidung. Wir sprachen mit Burak Demir aus Istanbul über den Wahlausgang und die Frage, wie Erdogan noch geschlagen werden könnte
Burak Demir (DSIP) ist aus Istanbul. Er ist aktiv in der Kampagne Hepimiz Göçmeniz (Wir sind alle Geflüchtete), er arbeitet für Greenpeace Mediterranean.
Burak spricht auf dem »MARXISMUSS«-Kongress über »Die Türkei nach dem Erdbeben und den Wahlen« und »Kurdistan: Wie kann der Kampf für Freiheit erfolgreich sein?«
Wie bewertest du das Wahlergebnis der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei?
Das Ergebnis der Wahlen ist wirklich schrecklich. Wir haben das nicht so erwartet, aber es ist davon auszugehen, dass Erdogan im Begriff ist zu gewinnen.
Das Erdogan-Bündnis hat auch die Mehrheit im Parlament. Keine Umfrage hat das vorhergesehen. Die YSP, die kurdische Partei, ist von 13 Prozent auf acht Prozent abgesackt. Sie werden im Parlament sehr schwach sein. Die MHP, die faschistische Partei, die im Bündnis mit Erdogan ist, hat mehr als zehn Prozent – ebenfalls die rechte IYI Partei, die im Bündnis mit Kilicdaroglu ist, hat mehr als zehn Prozent.
Insgesamt sieht es sehr finster aus.
In den Bewegungen und Organisationen auf der Linken haben alle überlegt, wie sie Druck auf eine neue Regierung machen, der Schock ist groß, dass uns weitere Erdogan-Jahre bevorstehen.
Gibt es nicht einen unglaublichen Frust über Erdogen – gerade nach dem Erdbeben?
Die wirtschaftliche Situation ist katastrophal. Nach dem Erdbeben hat die Regierung den betroffenen Menschen kaum geholfen. Die Lage ist vielerorts verzweifelt. Die Coronapandemie, das Erdbeben, die Inflation. Vielen Menschen geht es sehr schlecht – es ist kaum zu verstehen, dass immer noch 50 Prozent Erdogan ihre Stimme geben.
Wir würdest du das Ergebnis erklären?
Es gibt eine große Polarisierung in der türkischen Gesellschaft. In meinem Umfeld sind nicht viele Erdogan-Anhänger, aber darin drückt sich diese Spaltung der Gesellschaft aus.
Um die Stärke Erdogans zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückschauen. Er repräsentiert die vielen religiösen Menschen, die sich vom kemalistischen Staat nicht repräsentiert fühlten und zum Teil von ihm unterdrückt wurden.
Für sie ist Erdogan eine Vaterfigur, die ihn gerettet hat. Frauen konnten früher nicht mit Kopftuch studieren, für sie hat sich viel geändert. Obwohl er das Land in den letzten Jahren schlecht regiert hat, hat er die Unterstützung.
Wir müssen diese Polarisierung verstehen und warum viele Leute die kemalistische CHP fürchten.
In einigen Städten hat es Proteste gegen die Regierung gegeben, allerdings sind diese Proteste nicht stark. Momentan kämpfen die Menschen in den Erdbebengebieten noch um ganz grundlegende Dinge – wie z.B. Zelte. Viele sind obdachlos und in die großen Städte gezogen.
Wir haben in der Bevölkerung eine große Solidarität erlebt, aber diese Solidarität hat keine Organisation hervorgebracht.
Mit der Wahl sind andere Themen in den Vordergrund gerückt. Das Erdbeben haben viele vergessen. Es spielt im Alltag keine Rolle mehr.
Wie kann es eine Perspektive von links geben?
Es gab in den letzten Jahren zahlreiche Proteste in der Türkei. Die Frauenbewegung, die LGBTQIA-Bewegung waren auf der Straße, verschiedene Gruppen von Arbeiterinnen und Arbeitern haben gestreikt. Diese Proteste werden zukünftig noch wichtiger werden.
Vielen Dank für das Gespräch, Burak!
Interview: Christine Buchholz
Titelbild: Micheal Lucan
Lizenz: CC-BY-SA 3.0 de
Schlagwörter: Türkei