Auf dem Jahrmarkt können wir frei entscheiden, ob wir eine Geisterbahn besuchen. In der Geisterbahn »Kapitalismus« sind wir Zwangsbesucher. Ein Gespenst, das uns dort regelmäßig das Grausen beibringt, ist die Staatsverschuldung. Doch was steckt eigentlich dahinter? Thomas Walter beantwortet die Fragen
Die Coronakrise lässt noch einmal kräftig die Staatsverschuldung steigen. Die EU verkauft jetzt eigene Staatsanleihen, um ihre Corona-Hilfsprogramme zu finanzieren. Für konservative Ökonomen ein weiterer Dammbruch in Richtung europäischer »Schuldengemeinschaft«. Doch es scheint, als ob die konservativen Hunde bellen, während die Karawane der eigentlichen Akteure weiterzieht. Die Regierungen verschulden sich und die Finanzkapitalisten leihen das Geld.
Dass trotzdem anhaltend gegen die Staatsschulden gewettert wird, beruht auf kapitalistischen Interessen. Der Trick ist, zunächst einmal eine Besteuerung der Reichen und höhere Beiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung zum Tabu zu erklären. Ersteres wäre »leistungsfeindlich«, letzteres würde die »Wettbewerbsfähigkeit« schwächen. Wenn jetzt die Staatsverschuldung verteufelt und ihr Abbau gefordert wird, bleibt nur noch, die Staatsausgaben zu kürzen. Gemeint sind die Sozialausgaben und die Gehälter im Öffentlichen Dienst. Die Kritiker setzen darauf, dass viele Menschen tatsächlich Angst vor eigener Überschuldung haben und diese Angst auf den Staat übertragen. Mit dieser Angst soll Unterstützung für »Sparpolitik« gewonnen werden.
Unter anderem stören sich bürgerliche Kritiker daran, dass bei der gesetzlichen Rentenversicherung, die zum Staat zählt, einige vergangene Kürzungen zurückgenommen wurden. So ist inzwischen wieder eine Rente ab Alter von 63 Jahren unter bestimmten Bedingungen möglich. Einige Fachkräfte machen davon Gebrauch. Die Mütterrente ist ein weiterer Stein des Anstoßes. Zwar hat die gesetzliche Rentenversicherung gar keine Schulden, aber die »Vulgärökonomen« (Marx) bauen einfach ein weiteres Schreckgespenst auf. Wo keine Schulden sind, konstruieren sie im Dienste der einschlägigen Lobbies eine »implizite Staatsverschuldung« der Rentenversicherung.
Gespenst »Targetsalden«
Gegen den Sozialstaat anderer europäischer Staaten, für die sich das deutsche Kapital als Zuchtmeister ebenfalls zuständig fühlt, wird das Schreckgespenst »Targetsalden« aufgebaut. Diese Salden sind eine Verrechnungsgröße zwischen den nationalen Zweigstellen der Europäischen Zentralbank. Findige Ökonomen wie Hans Werner Sinn machen daraus »Schulden« von Ländern wie Italien oder Spanien gegenüber Deutschland. Um diese »Schulden« abzubauen, sollen diese Länder gezwungen werden, bei ihren Sozialausgaben zu kürzen zum Nutzen deutscher Konzerne, die dort Betriebe haben. Dies erklärt auch, warum jetzt beim Wiederaufbaufonds der EU deutsche Ökonomen gegen Maßnahmen sind, die die Südländer entlasten könnten. Sie fürchten, dass dies in diesen Ländern den Druck zum »Sparen« nimmt.
Hohe Staatsschulden
Nun gibt es tatsächlich einen Trend bei den Staatsschulden und zwar nach oben. Für fast alle Länder gilt: Nie waren die Staatsschulden im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) so hoch wie heute. Das BIP wird häufig als Vergleichsmaßstab werwendet. Es gibt an, wieviel Wert innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtsschaft hergestellt wird (Wertschöpfung). Dieser Wert wird als Einkommen verteilt, Lohneinkommen für die »Arbeitnehmer« (Arbeiterinnen und Arbeiter) und Gewinneinkommen für die Kapitalisten. Aus diesen Einkommen sind die Steuern an den Staat zu bezahlen und die Sozialbeiträge an die Sozialversicherung. Gleichzeitig gibt das BIP an, für was diese Einkommen verwendet wurden, also zum Kauf von Konsumgütern – das machen hauptsächlich die Arbeitnehmer – oder zum Kauf von Investitionsgütern – das machen hauptsächlich die Kapitalisten.
Quelle: ameco-Datenbank der EU-Kommission
In Griechenland und USA sind die Staatsschulden inzwischen größer als das BIP. In Japan sind sie sogar mehr als doppelt so hoch.
Doch während Ökonomen und Politiker über diese Entwicklung jammern, scheinen diejenigen, um deren Geld es geht, weniger besorgt zu sein. Pikanterweise leiht sich der Staat das Geld von Kapitalisten, die eigentlich mit Geld umgehen können müssten. Inzwischen gibt es aber genügend Konzerne, die zwar Profite machen, aber für diese keine profitablen Anlagemöglichkeiten mehr finden. Wegen des Anlagenotstandes sind die Kapitalisten inzwischen sogar bereit, zu negativen Zinssätzen dem Staat Geld zu leihen. Sie zahlen dem Staat etwas, damit er auf ihr Geld aufpasst.
Der Staat leiht sich aber auch von anderen Staatsinstitutionen, die statistisch nicht dem Staat zugerechnet werden. Regierungen verschulden sich unmittelbar bei ihren Zentralbanken, wie in den USA, oder die Zentralbanken kaufen den Banken Staatsanleihen ab und werden so ebenfalls zu Gläubigern der Regierungen, wie in der Eurozone. In Deutschland stiegen die Staatsschulden von 2005 1500 Milliarden Euro auf 2020 2300 Milliarden Euro. Dieser Zuwachs von 800 Milliarden Euro wurde, wie die FAZ berichtete, mit 500 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank finanziert. Die restlichen 300 Milliarden Euro kamen von Geldgebern aus dem Ausland. In Japan leihen nicht nur die Zentralbank, sondern auch staatliche Rentenfonds ihr Geld der Regierung.
Die Staatsschulden werden brutto ausgewiesen, damit das Schuldengespenst möglichst groß erscheint. Geldvermögen, das der Staat selbst hat, wird nicht gegengerechnet. In Deutschland hat der Staat nicht nur Kreditforderungen gegen Unternehmen, sondern er besitzt auch Aktien bei Commerzbank, Telekom und Lufthansa, alle Aktien der Deutschen Bahn und neuerdings auch bei dem Impfstoffhersteller Curevac. Die staatliche Förderbank KfW, die mit Krediten Unternehmen hilft, zählt in der Statistik zum Banken- und nicht zum Staatssektor.
Staatsschulden treuer Begleiter des Kapitals
Staatsschulden sind schon immer ein getreuer Begleiter des Kapitals. In den 1950er und 60er Jahren waren in der Wirtschaftspolitik noch die Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes dominant. Im Zuge einer antizyklischen Finanzpolitik sollte in den Krisen der Staat seine Ausgaben ausweiten und dies mit Schulden finanzieren, um die Krise abzumildern. Im folgenden Aufschwung würde der Staat vermehrt Steuern kassieren, seine Schulden wieder abbezahlen und damit auch einer »Überhitzung« der Konjunktur entgegenwirken. Dies funktionierte auf die Dauer nicht, weil schon damals die Abschwünge stärker ausfielen als die Aufschwünge. Die Profitraten wurden immer niedriger. Nach jedem Konjunkturzyklus blieb der Staat auf einem Teil seiner Schulden sitzen. Der Schuldenstand wurde immer größer. Zudem verpufften die schuldenfinanzierten Nachfrageprogramme schließlich in höheren Preisen, statt wie erhofft zu mehr Beschäftigung zu führen.
Schulden auch im Neoliberalismus
Um diese Entwicklung zu stoppen, setzten die bürgerlichen Eliten weltweit eine neoliberale Rosskur durch. Anfang der 1980er Jahre würgte der damalige Chef der US-Zentralbank Paul Volcker die Wirtschaft ab, indem er Geld nur noch zu hohen Zinsen ausgab. Das Ergebnis dieses sogenannten »Volcker-Schocks« waren hohe Arbeitslosigkeit, geschwächte Gewerkschaften und das Verschwinden der Inflation. Was blieb, waren weiter steigende Staatsschulden.
Die Rezession Anfang der 1990er Jahre und vor allem die Finanzkrise Ende der 2000er Jahre, als die Staaten ihre Banken retteten, brachten noch einmal einen kräftigen Verschuldungsschub, vor allem in Großbritannien und den USA. Dort war das Geschäftsmodell besonders stark auf die Banken ausgerichtet worden und deshalb musste der Staat stärker retten.
Unter den großen Volkswirtschaften hatten jetzt Japan und die USA die größten Staatsschulden. Auch in Deutschland wuchs die Wirtschaft auf Pump. Hier war es nicht so sehr der Staat, als vielmehr das Ausland, das mit seinen Schulden die Nachfrage für das deutsche Kapital finanzierte. International wurde Deutschland als Trittbrettfahrer angegriffen. Indem andere Staaten mit Schulden die Krise zu bekämpfen suchten, kurbelten sie auch die deutschen Exporte an. Die deutsche Regierung nutzte dies sogar zum Schuldenabbau. Die in ganz Deutschland verteilten »Schuldenuhren« waren jetzt kein Thema mehr, sie liefen ja rückwärts.
Natürlich versuchten auch schon früher konservative Ökonomen, das Staatsschuldengespenst heraufzubeschwören. Nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage müssten Kredite immer teurer werden, je mehr der Staat sie nachfragt. Also würden die Zinsen auf Kredite steigen zu Lasten der Privatwirtschaft. Tatsächlich fanden aber die Kapitalisten immer weniger profitable Anlagemöglichkeiten und boten immer mehr Geld wie Sauerbier als Kredit an. Die Zinsen stiegen nicht, sie sanken.
Niedrige Zinsen
Deshalb mussten die Regierungen gemessen am BIP immer weniger Zinsen zahlen. Diese sogenannte Zinslastquote (staatliche Zinszahlungen in Prozent des BIP) beträgt in den USA und Italien etwa 4 Prozent. Schwach belastet sind Deutschland und die Niederlande mit weniger als einem Prozent. Nimmt man das Steueraufkommen als Bezugsgröße, dann müssen, wie Professor Bernd Rürup im Handelsblatt schreibt, 2020 davon etwa 3 Prozent für Zinszahlungen aufgewendet werden. 1991 waren es noch 12 Prozent gewesen. Bert Flossbach, Manager des Vermögensverwaltungsfonds Flossbach von Storch, spitzt im Handelsblatt zu: »Mit Nullzinsen ist praktisch jedes Defizit und jeder Schuldenberg problemlos finanzierbar.«
Quelle: ameco-Datenbank der EU-Kommission
Die Zinsen sanken aber nicht nur für die Staaten, sondern auch für die Unternehmen. Auch diese konnten sich also stärker verschulden.
Quelle: OECD und eigene Berechnungen
Staatsvermögen – die andere Seite
Gerne wird bei der Diskussion übersehen, dass nicht nur bei Unternehmen, sondern auch beim Staat den Schulden Vermögen gegenüber steht. So begleitet der Staat die Kapitalakkumulation der privaten Unternehmen, indem er die Infrastruktur bereitstellt. Der Staat besitzt als Realvermögen Straßen, Schulen, städtische Bauhöfe, Kläranlagen und andere öffentliche Einrichtungen.
Dazu kommt das Geldvermögen des Staates. Das sind Gelder, die er selbst an notleidende Unternehmen verliehen hat, besonders jetzt wieder in der Coronakrise, und Aktien. Das Realvermögen beträgt in Deutschland zur Zeit etwa 60 Prozent, das Geldvermögen 40 Prozent des staatlichen Gesamtvermögens. Dieses staatliche Gesamtvermögen ist größer als die Staatsschulden. Ihm stehen Staatsschulden etwa in Höhe von 70 Prozent des Staatsvermögens gegenüber. Es verbleibt ein Überschuss von 30 Prozent als sogenanntes Reinvermögen (auch als Nettovermögen oder Eigenkapital bezeichnet). Diesem stehen keine staatlichen finanziellen Verpflichtungen gegenüber.
Die Sorge, zukünftige Generationen würden durch Staatsschulden belastet, erweist sich so als Demagogie. Wir brettern heute über Autobahnen, weil wir von unserer Elterngeneration mit höheren Staatsschulden »belastet« wurden, oder anders herum, wir stehen auf der Autobahn im Stau, weil unsere Elterngeneration uns nicht ausreichend mit höheren Staatsschulden »belastet« hat. »Die Vorstellung, wir stünden im Begriff, unseren Kindern und Enkelkindern beschämend hohe Schulden zu hinterlassen, und sollten Asche auf unser Haupt streuen und Abbitte tun, entbehrt also jeder Logik«, folgert der französische linke Ökonom Thomas Piketty. Und Marx stellt fest, dass jedes Kapital eine Belastung zukünftiger Generationen ist, denn diese müssen für dieses Kapital zukünftig den Profit erwirtschaften.
Staat rettet Kapital
Die Sorge um höhere Staatsverschuldung ist immer dann verhalten, wenn es darum geht, kapitalistischen Unternehmen zu helfen. In Krisenzeiten wollen die Kapitalisten ihren Kollegen nichts leihen, weil das Risiko zu hoch ist. In dieser Situation wird der Staat zur Bank. Er leiht sich das Geld von den einen und verleiht es den anderen. Auf der einen Seite steigt die Staatsverschuldung, auf der anderen erhöhen sich die Kreditforderungen des Staates, erhöht sich also sein Geldvermögen. Reicht dieses Geld immer noch nicht gegen die Krise, dann vergibt die Zentralbank, die ja Geld »drucken« kann, Kredite. Die Zentralbank ist die allerletzte Geldquelle. Die Risiken der Kreditvergabe an Risikounternehmen sind damit aber nicht verschwunden. Können die notleidenden Unternehmen ihre Kredite schließlich nicht zurückzahlen, muss der Staat diese Kredite abschreiben. Dann erhebt sich lautes Geschrei, dass der Staat überschuldet sei und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bitteschön ihren Beitrag zur Krisenbewältigung leisten müssten.
Kapital in der Langfristkrise
Hinter der bürgerlichen Angst vor Staatsschulden steckt aber noch mehr als nur ein Angriff auf den Sozialstaat. Die bürgerliche Ökonomie geht von einem funktionierenden Kapitalismus aus. Dieser wächst laufend, so die bürgerliche Normalvorstellung, aber seine inneren Strukturen bleiben stabil. Wichtige Strukturgrößen, wie die Profitrate, der »natürliche« Zinssatz, das Verhältnis Kapitaleinsatz zu Wertschöpfung, Schuldenquoten, alle diese Größen werden in bürgerlichen Modellen der Ökonomie als langfristig konstant angenommen.
Schon Marx bemerkte, dass bürgerliche Ökonomen wie David Ricardo »beunruhigt« wurden, wenn sie feststellten, dass die Profitrate nicht stabil ist, sondern fällt. Wolfgang Schäuble (CDU) hat als Finanzminister von den niedrigen oder gar negativen Zinsen profitiert. Ideologisch war ihm diese Entwicklung aber unheimlich. Er beschuldigte die Europäische Zentralbank, obwohl die sogenannte »säkulare Stagnation« oder »Japanisierung« eine weltweite Erscheinung des Kapitalismus ist. Damit ist gemeint, dass die Weltwirtschaft, ähnlich wie seit Jahrzehnten Japan, inzwischen säkular (dauerhaft) stagniert. Dies geht einher mit rekordniedrigen Zinssätzen, Gelddrucken der Zentralbanken und immer höherer Verschuldung bei Staat und Unternehmen.
Bürgerliche Ökonomen ratlos
Nachdem die Voraussage der Ökonomen, wegen der Staatsschulden würden die Zinsen steigen, sich als falsch entpuppte, wurde das Gespenst höherer Inflation an die Wand gemalt. Wieder trat das Gegenteil ein. Thilo Sarrazin, ehemaliger Bundesbankvorstand, meinte noch 2012: »Wenn wir innerhalb der nächsten zehn Jahre keine starke Inflation bekommen, gebe ich mein Bonner Diplom als Volkswirt zurück….« (Er hat also noch zwei Jahre.) Jürgen Stark, ehemals Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank, meinte im selben Jahr: »Ich rechne für Deutschland für die kommenden Jahre mit bis zu vier Prozent Inflation.« Jürgen Starbatty, Wirtschaftsprofessor und Gründungsmitglied der AfD, inzwischen wieder draußen, meinte 2010: »Ich glaube, dass die Inflationsrate stark steigen wird: über fünf Prozent. Alle Erfahrungen zeigen, dass Länder, die hoch verschuldet sind, zur Inflation neigen.« Die Inflation gibt es tatsächlich wegen der staatlichen Eingriffe, aber sie wird durch den eigentlich in der Krise zu erwartenden Fall der Preise ausgeglichen. Im Ergebnis sind die Preise einigermaßen stabil.
Profitrate niedrig
Hinter dem Schuldengespenst stecken ganz andere Gefahren. Es gibt sowohl für die niedrigeren Zinsen, als auch für die wachsenden Schulden tiefere Ursachen. Nach Marx müssen die Unternehmen die Profite nutzen, um Kapital zu akkumulieren. Die Unternehmen werden größer und stellen mehr Leute ein. In erster Linie werden aber nicht zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, sondern die Kapitalausstattung wird erhöht. Damit soll die Arbeitsproduktivität steigen. Die Arbeitskräfte können mehr produzieren. Der Kapitalist verschafft sich einen Konkurrenzvorteil oder, wenn die Konkurrenten dasselbe tun, verteidigt er wenigstens seinen Marktanteil. Die Profite beruhen jedoch auf der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen. Deren Anzahl bleibt aber hinter dem Wert der Produktionsanlagen zurück. Die von den Arbeitern geschaffene Wertschöpfung, vereinfacht die Summe aus Löhnen und Profiten, hält mit dem in den Produktionsanlagen gebundenen Kapital nicht mit.
Nach einer Studie, die 2015 in den gewerkschaftsnahen WSI-Mitteilungen veröffentlicht wurde, sank die Profitrate dementsprechend von 15 Prozent 1950 auf 6 Prozent Anfang der 80er Jahre. Seitdem ist laut Statistik eine Seitwärtsbewegung festzustellen mit Einbrüchen in der Finanzkrise und wohl demnächst in der jetzigen Krise. Es handelt sich hier um die durchschnittliche Profitrate. Angesichts der Tatsache, dass die Kapitalisten bereit sind, ihr Geld zu Nullzinsen oder gar negativen Zinsen zu verleihen, dürfte die Profitrate auf neue Investitionen viel niedriger sein.
Rechenbeispiel zur Berechnung der Profitrate
Mehr zur Veranschaulichung, weniger als theoretische Erklärung, ein Zahlenbeispiel für die deutsche Volkswirtschaft ohne das »Grundstücks- und Wohnungswesen«. Der dortige sehr hohe Kapitalbestand in Form von Wohnungen würde das Ergebnis verzerren.
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, eigene Berechnungen
Mit 1991 beginnt die neue gesamtdeutsche Statistik nach der Wiedervereinigung. Im Verhältnis zum Kapitalstock (Wert aller Maschinen und Fabrikgebäude) verminderte sich seitdem die Wertschöpfung (Löhne und Profite) zwischen 1991 und 2018 von rund 29 Prozent auf 28 Prozent. Wertschöpfung minus Abschreibungen (Abnutzung des Kapitalstocks) minus Arbeitseinkommen ergeben die Kapitaleinkommen. Deren Verhältnis zum Kapitalstock, die Profitrate, sank von rund 6 Prozent auf 5 Prozent. Das sind keine dramatischen Veränderungen, aber sie veranschaulichen, was Marx gemeint hat. Der eigentliche Profitratenfall fand bereits früher statt.
Mit der Profitrate ist eine Obergrenze für die Zinsen gegeben. Nimmt erstere ab, nehmen auch die Zinsen schließlich ab. Schuldenmachen wird billiger. Außerdem finanzieren die Unternehmen den Aufbau des Kapitalstocks nicht nur aus eigenen Einnahmen, sondern auch über Fremdkapital, also über Kredite. Wächst gesamtwirtschaftlich der Kapitalstock rascher als das BIP, nimmt auch die Verschuldung entsprechend stärker zu. Nicht die Schuldengespenster, sondern der Rückgang der Profitrate ist die eigentliche Gefahr für den Kapitalismus. Diese Gefahr kann nur durch Überwindung des Kapitalismus gebannt werden.
Die Post-Keynesianer
Von den konservativen Panikmachern sind die links-bürgerlichen Ökonomen zu unterscheiden. Sie sind sozusagen die Ghost-Buster in der neoliberalen Geisterbahn. Diese Ökonomen beziehen sich weniger auf Marx, als auf den britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Dieser unterschied sich von seinen Kollegen darin, dass er den Selbstheilungskräften der Märkte nicht traute und zur Krisenbekämpfung staatliche Eingriffe für notwendig hielt. Stellenweise ging er sogar weiter: Er glaubte an eine »Euthanasie der Rentiers«, also daran, dass über Zinsen langfristig nichts mehr zu verdienen sei. Bei negativen Zinsen auf Anleihen klingt das heutzutage prophetisch. Kapitalismuskritisch war auch seine Forderung nach einer »einigermaßen umfassenden Sozialisierung der Investitionen«. Leider führte er dies nicht weiter aus.
Heutige »Post-Keynesianer« sind meist nicht so radikal. Sie teilen mit den Konservativen den Irrtum, dass der Kapitalismus auch in Zukunft funktionieren könnte. Es bedarf nur – hier unterscheiden sie sich von den Konservativen – der richtigen Staatseingriffe. Ihnen müsste zu denken geben, dass zwar viele ihrer Vorschläge Eingang in die praktische Politik gefunden haben; aber gerade ihre sozialen Ziele wurden nicht erreicht. So sind inzwischen zwar die Zinsen niedrig, Geld wird gedruckt, die staatliche Verschuldung steigt; das geschah aber nur, um die Profite der Unternehmen zu stabilisieren und den Kapitalismus künstlich am Leben zu erhalten. Bezeichnenderweise setzen sich die Keynesianer immer dann nicht durch, wenn es um höhere Löhne oder Umverteilung von oben nach unten geht.
Reformen? – das ist zu wenig!
Den Post-Keynesianern ist bewusst, dass bei einem tendenziellen Fall der Profitrate, wie von Marx untersucht, ihre Rezepte über Kapitalismusreparatur nicht hinauskommen. Statt aber auf Überwindung des Kapitalismus hinzuarbeiten, lehnen jedenfalls viele akademische, teilweise auch gewerkschaftliche Vertreter dieser Richtung die Marxsche Theorie ab. Sie sind über jede Erholung der Profitrate erleichtert, weil sie dann wieder ihren Forderungskatalog vortragen können. Strategisch verlassen sie sich auf Mehrheiten im Parlament, vielleicht noch auf den Einfluss der Gewerkschaften. Weiter gehender Klassenkampf kommt in ihren Modellen nicht vor.
So zetern auf der einen Seite die Konservativen gegen die Staatsverschuldung, ohne an der kapitalistischen Praxis etwas zu ändern. Das Kapital finanziert diese Leute aber gerne, damit sie mit ihrer Propaganda Druck auf den Sozialstaat und gegen höhere Löhne machen. Auf der anderen Seite droht den Post-Keynesianern das Schicksal, dass sie zwar vielleicht hier und da einen Posten bekommen, ansonsten aber ihre Mahnungen ignoriert werden.
Angriff auf den Sozialstaat
Viele Wirtschaftskommentatoren, Politikerinnen und Politiker verbreiten derzeit gerne, dass jetzt in dieser schweren Stunde von Corona die Staatsverschuldung gerechtfertigt sei, dass aber der Staat unbedingt eine »Exit«-Lösung bräuchte. Er müsste von der Staatsverschuldung wieder runter. Gemeint ist: Der Staat darf sich jetzt verschulden, wenn er damit den Kapitalisten über die Krise hilft. Können diese aber nach der Krise ihre Kredite nicht zurückzahlen, dann muss der Staat anderswo das Geld auftreiben. Am Besten beim Sozialstaat, so die unausgesprochene Vision dieser mahnenden »Experten«. Arbeiter und Arbeiterinnen sollen dann die Zeche zahlen.
Die Linke muss sich gegen offene Angriffe auf den Sozialstaat verwahren, aber auch gegen die versteckten, die sich hinter einer Kritik an der »viel zu hohen Staatsverschuldung« verbergen. Mit der »schwäbischen Hausfrau« als angeblichem Vorbild soll den Menschen Angst eingejagt werden. Die Linke sollte andererseits aber nicht so naiv sein, dass mit Staatsschulden und Gelddrucken alle Übel des Kapitalismus beseitigt werden könnten. In den großen kapitalistischen Zentren USA, EU und Japan verschulden sich die Staaten und die Zentralbanken drucken Geld. Vielleicht konnte so ein Zusammenbruch der Weltwirtschaft, anders als 1929, bis jetzt vermieden werden. Aber die Dauerkrise wird tiefer. Die eigentliche Krisenursache ist das Kapital.
Quelle Titelbild Wikipedia, User:Wimox
Schlagwörter: krisentheorie, Profitrate, Schulden, Staatsschulden, Weltwirtschaftskrise