Rechte wie linke Wirtschaftwissenschaftler preisen Keynes als Antwort auf die Krise. Doch seine Theorien lassen radikalere Schlüsse zu: Die Wirtschaft muss vom Kapitalismus befreit werden, meint Chris Harman.
"Alle sind jetzt dem großen Ökonomen tief verpflichtet", war kürzlich das Thema eines Artikels in der Financial Times über John Maynard Keynes. Und so scheint es tatsächlich zu sein. Auch der konservative Wolfgang Schäuble bekannte im Handelsblatt: "In der Krise muss die CDU keynesianisch denken". Ähnliches sagen derzeit auch der US-Finanzminister Hank Paulson und der Vorsitzende der US-Notenbank, Ben Bernanke. Das ist das eine Ende des politsichen Spektrums. Am anderen Ende stehen prominente Linke. Keynes, so meinen sie, habe in den 30er Jahren gezeigt, wie Krisen überwunden werden können, und seine Methode könne heute wieder funktionieren. Diese Behauptung hält einer genaueren Betrachtung nicht wirklich stand: Denn Keynes zeigte nicht, wie man in den 30er Jahren die Krise überwindet.
Der Markt regelt sich nicht selbst
Stattdessen polemisierte er gnadenlos gegen alle, die behaupteten, Krisen könnten gelöst werden, indem der Lebensstandard der Arbeiter angegriffen werde. Keynes` Argumente gegen die Annahme, der Markt werde seine Probleme schon selbst lösen, sind heute noch relevant. Die etablierten Ökonomen seiner Zeit verließen sich auf das sogenannte "Say'sche Gesetz". Demzufolge können allgemeine Überproduktionskrisen im Kapitalismus nicht eintreten: Die Märkte würden tendenziell zu einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht tendieren – jedes zusätzliche Angebot entfache zugleich Nachfrage. Keynes widersprach dieser Theorie. Er machte ähnliche Feststellungen, wie Karl Marx 60 Jahre vor ihm. Alle Güter in einem Marktsystem können nur verkauft werden, wenn die Arbeiter ihre gesamten Einkommen und die Kapitalisten ihre sämtlichen Profite ausgeben. Die Arbeiter können es normalerweise nicht vermeiden, ihre gesamten Löhne auszugeben. Aber die Kapitalisten können sich dafür entscheiden, ihre Profite auf ein Bankkonto oder unter ihre Matratze zu legen, statt sie zu investieren oder für ihren privaten Konsum auszugeben. In diesem Fall entsteht eine Lücke zwischen dem, was insgesamt produziert wurde, und dem, was verkauft werden kann.
Dem Argument, dass mehr Güter verkauft werden und die Arbeitslosigkeit gesenkt werden könne, wenn die Arbeiter Lohnverluste hinnähmen, setzte Keynes entgegen, dass das nur dazu führen werde, dass die Arbeiter noch weniger kaufen können. Das würde wieder weitere Lohnsenkungen nötig machen und noch geringere Verkäufe zur Folge haben. Keynes wandte sich also gegen die Theorie der "Klassiker", daß nur die Lohnkosten genügend sinken müßten, um den Aufschwung herbeizuführen. Aber er verstand seine Argumentation nicht als antikapitalistisch: Ihm ging es darum, die Kapitalisten zu Veränderungen zu überreden: Das System sollte wieder zum Laufen gebracht werden.
Die Politik von Keynes
Keynes schrieb, seine Theorie sei "in ihren Konsequenzen verhältnismäßig konservativ". Auch sein Biograf Lord Skidelsky meint, Keynes' Vorschläge seien vorallem auf die Psychologie der Geschäftswelt zugeschnitten. Er bilanzierte: "In der Praxis war er sehr vorsichtig." Keynes' Ansatzpunkt bei seinem Bemühen, die Krise zu überwinden war, dass der Staat einschreite, um die Investitions- und Konsumausgaben zu erhöhen. Zwei Arten von Maßnahmen waren nach Keynes konkret notwendig. Erstens müsse die Regierung die Zinsen senken. Das würde die Wohlhabenderen ermuntern, ihre Einkommen auszugeben, statt sie zu sparen. So können sie einen Markt für die Produkte anderer darstellen und diese zu Investitionen anregen. Aber Keynes gab zu, "etwas skeptisch im Hinblick auf eine ausschließlich monetäre Politik" zu sein. Zweitens könnten Regierungen direkt selbst Ausgaben tätigen, die mit Krediten zu finanzieren seien. Solche schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme ("deficit spending") würden sich schließlich selbst tragen, da mit dem Wachstum der Wirtschaft auch die Steuereinnahmen steigen würden. Als es aber darum ging, diese Strategien in die Praxis umzusetzen, fürchtete Keynes immer, die Kapitalisten zu verstimmen, weil ja ihre Psychologie darüber entscheide, ob sie investierten. Deshalb waren seine Vorschläge bei weitem zu milde, um die Weltwirtschaftskrise zu beenden.
Anfang der 30er Jahre, als die Arbeitslosigkeit um 100 Prozent stieg, unterstützte er die Forderung des liberalen Abgeordneten und ehemaligen Ministerpräsidenten Lloyd George nach einem öffentlichen Beschäftigungsprogramm, das den Anstieg auf 89 Prozent gesenkt hätte. Er riet Präsident Roosevelt von "wirtschaftlichen und sozialen Reformen" ab, weil sie womöglich die wirtschaftliche Erholung durch eine Störung des „Vertrauens der Geschäftswelt komplizieren" könnten. Es wird geschätzt, dass die britische Regierung ihre Ausgaben um 56 Prozent hätte erhöhen müssen, um die drei Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, die nötig waren, um auf dem Höhepunkt der Krise wieder zu Vollbeschäftigung zu kommen. Solch eine Erhöhung war mit Keynes' schrittweisen Methoden nicht zu erreichen, da sie direkt zu einer Kapitalflucht ins Ausland, einem Anstieg der Importe, einem Zahlungsbilanzdefizit und einer drastischen Steigerung der Zinsraten geführt hätte.
Das zweite Gesicht
An einigen Stellen in seinem wichtigsten Buch, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, kam Keynes der Erkenntnis schon nahe, dass solche Zurückhaltung nicht ausreichen könnte. Er deutete an, dass etwas Grundlegendes im System zu einem Abfall der Investitionen führe. Er sprach von einem Abfall des "Grenznutzens der Investitionen". Diese Vorstellung nähert sich Marx' tendenziellem Fall der Profitrate an. Er beinhaltet, dass mit dem Kapitalismus etwas grundsätzlich nicht stimmt und das nicht dadurch behoben werden kann, dass man die Zinsraten anpasst oder die staatlichen Ausgaben erhöht. Diese Einsicht brachte Keynes zu seiner radikalsten Erklärung: „Dass eine recht umfängliche Vergesellschaftung der Investitionen sich als einzige Methode erweisen wird, um annähernde Vollbeschäftigung zu erreichen."
Keynes selbst blieb diesen Einsichten nicht treu, und das taten auch die meisten seiner Anhänger nicht. Stattdessen passten sie wie Keynes ihre Forderungen dem an, was sie glaubten, was der Kapitalismus akzeptieren werde. Die heutigen frisch konvertierten Keynesianer in den Regierungen der USA und anderer Industriestaaten versuchen genau wie Keynes vor ihnen, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. Das bedeutet, dass sie uns alle zahlen lassen wollen, damit wir die Kapitalisten glücklich machen. Die linken Keynesianer stehen vor der Wahl: Sie können sich diesem Ansatz anschließen und sich einfach darum bemühen, den Kapitalismus am Laufen zu halten. Oder sie können sich Keynes' radikalere Einsichten zu Herzen nehmen und sich der Schlussfogerung von Marx anschließen: Die Wirtschaft muss vom Kapitalismus befreit werden.
Aus dem Englischen: David Meienreis, Rosemarie Nünning