Viktor Orban hat Netanjahu nicht zum Staatsbesuch empfangen, weil er ein Freund des Judentums ist. Er unterscheidet zwischen guten und schlechten Juden, meint Sebastian Baer. Antisemitismus und Unterstützung Israels schließen sich auf der Rechten nicht aus.
Auf Einladung von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat Israels Premier Anfang April vier Tage lang Ungarn besucht. Für Netanjahu war dies sein erster Staatsbesuch in Europa, seit der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen in Gaza gegen ihn erlassen hat.
Anstatt Netanjahu zu verhaften, ließ Orban den Rückzug Ungarns aus dem Internationalen Strafgerichtshof verkünden. Schon die Ausstellung des Haftbefehls hatte Orban scharf kritisiert, was ihm ein Lob von Netanjahu für seine »moralische Klarheit« einbrachte.
Das ist derselbe Orban, dessen Regierung seit Jahren mit ihrer Kampagne gegen George Soros antisemitische Verschwörungserzählungen schürt. George Soros ist ein in den USA lebender ungarischer Milliardär, der aus einer jüdischen Familie stammt. Die ungarische Regierung verunglimpft ihn als Strippenzieher einer globalen Elite, die an der Zerstörung der Nationalstaaten arbeite – eine klassische antisemitische Erzählung. Nicht nur in Ungarn, auch in Deutschland gilt Soros unter Antisemiten als der neue Rothschild.
Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich, wenn die rechte, antisemitische ungarische Regierung den Juden Netanjahu empfängt und hofiert. Auf den zweiten Blick erkennt man ein perfides Spiel: guter Jude, böser Jude. Die Grundlage für dieses Spiel ist das besondere Verhältnis, das der westliche Imperialismus in der Nachkriegszeit mit dem zionistischen Teil des Judentums eingegangen ist.
Churchill über gute und schlechte Juden
Die Saat für dieses Verhältnis legte das Britische Empire zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Es unterstützte die zionistische Bewegung schon früh, lange vor dem Holocaust. Aber das tat es nicht aus Liebe zum Judentum, unter britischen Adeligen war der Antisemitismus weit verbreitet.
Der britische Politiker Winston Churchill, der ein überzeugter Unterstützer des Zionismus war, legte 1920 unter der Überschrift »Zionismus gegen Bolschewismus« in einem Zeitungsartikel seine Ansichten dar. Darin unterschied er zwischen guten und bösen Juden. Die Bösen, das waren die internationalistischen revolutionären Juden. Die Guten, das waren die national gesinnten Juden.
Zu dieser Zeit führte die doppelte Unterdrückung der jüdischen Arbeiter:innen als Ausgebeutete und als unterdrückte Minderheit dazu, dass sich viele Jüdinnen und Juden dem revolutionären Sozialismus zuwandten. Das fand auch unter den Führer:innen der sozialistischen Bewegung seinen Ausdruck, von denen viele Juden waren. Churchill ließ es sich in seinem Artikel nicht nehmen, diese Vertreter der »diabolischen« Seite des Judentums aufzuzählen: Rosa Luxemburg (Deutschland), Trotzki (Russland), Bela Kun (Ungarn) und Emma Goldman (USA).
Gute Juden hingegen seien nationalistische Juden. In Westeuropa waren das seiner Ansicht nach Juden, die ihre Nation vorbehaltlos unterstützten, also zuvorderst Briten und dann erst Juden seien. In Osteuropa erkannte Churchill im Zionismus die gute Seite des Judentums. Der Zionismus sah die Lösung der jüdischen Frage nicht in einem gemeinsamen Kampf der Arbeiter:innen gegen ihre Unterdrücker und den Antisemitismus, sondern in der Schaffung eines eigenen jüdischen Staates in der Fremde. In seinem Artikel legte Churchill die mögliche Bedeutung dieser nationalistischen jüdischen Strömung für den Imperialismus dar:
»Natürlich ist Palästina viel zu klein, um mehr als einen Bruchteil der jüdischen Rasse zu beherbergen, noch will die Mehrheit der nationalistischen Juden dorthin auswandern. Aber wenn, was durchaus geschehen kann, noch zu unseren Lebzeiten an den Ufern des Jordan ein jüdischer Staat unter dem Schutz der britischen Krone entstehen sollte, der drei oder vier Millionen Juden umfassen könnte, dann wäre ein Ereignis in der Weltgeschichte eingetreten, das unter jedem Gesichtspunkt von Vorteil wäre und vor allem mit den wahren Interessen des britischen Weltreichs in Einklang stünde.«
Israel und der westliche Imperialismus
Das Interesse des Britischen Empires, das Churchill anspricht, bestand darin, den Nahen Osten zu beherrschen. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Großbritannien deshalb an der Sinaifront gegen das Osmanische Reich und seine Verbündeten Deutschland und Österreich-Ungarn. Von den Zionisten erhoffte es sich militärische Unterstützung, im Gegenzug unterstützte es mit der Balfour-Deklaration 1917 die zionistische Bewegung.
Aber die zionistische Gemeinde in Palästina war zu klein, um die »wahren Interessen« des Britischen Empires durchzusetzen. Die Machtergreifung Hitlers, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust änderten das. Waren dem zionistischen Ruf bis dahin nur rund 200.000 Juden gefolgt, wanderten von 1930 bis 1951 600.000 Jüdinnen und Juden ein. Mit der Gründung des Staates Israels 1948 und der Vertreibung der Palästinenser trat in Churchills Worten das »Ereignis in der Weltgeschichte ein«, das »mit den wahren Interessen des britischen Weltreichs in Einklang« stand. Aus Sicht des britischen Imperialismus diente Israel als Wächterstaat, der in der Region die westlichen imperialistischen Interessen wahrte.
Seine erste Bewährungsprobe bestand Israel in der Suezkrise. Der ägyptische Präsident Nasser verstaatlichte 1956 den Suezkanal. Unterstützt von Großbritannien und Frankreich griff Israel Ägypten daraufhin an.
Nach der Suezkrise traten die USA in die Fußstapfen Großbritanniens und wurden zum größten Förderer Israels. Seinen Wert bewies Israel im Sechstagekrieg 1967. Seitdem ist Israel eine wichtige Säule des US-Imperialismus. In der Vergangenheit bekämpfte es den panarabischen Nationalismus, der die westliche Vorherrschaft im Nahen Osten bedrohte. In der jüngeren Vergangenheit bekämpfte es mit dem Iran verbündete Kräfte, wie die Hisbollah im Libanon, um den Einfluss des Iran in der Region zurückzudrängen, der eine von den USA unabhängige Rolle als Regionalmacht zu spielen versucht.
Deshalb bewaffnen die USA Israel bis an die Zähne. Der Imperialismus der Nachkriegszeit beruht weniger auf direkter militärischer Präsenz, so wie noch im Britischen Empire. Er beruht auf der Unterstützung wohlgesinnter Staaten. Im Nahen Osten sind das heute die ägyptische Militärdiktatur und Israel, wobei Israel über die Jahrzehnte die größere Militärhilfe von den USA erhielt.
Alle europäischen Staaten erkannten im Verlauf der Nachkriegszeit diese wichtige Rolle Israels an. So auch Deutschland, das Mitte der 1950er Jahre begann, Waffen an Israel zu liefern, und heute der zweitgrößte Waffenlieferant der israelischen Armee ist.
Von der Begeisterung für Hitler zur Unterstützung des nationalen Judentums
Damit einher ging in vielen europäischen Staaten eine Änderung des Verhältnisses der Herrschenden zu den jüdischen Gemeinden in ihren Ländern. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Antisemitismus in den europäischen herrschenden Klassen weit verbreitet. So gab es im britischen Adel eine regelrechte Begeisterung für Hitler. Der britische König Eduard VIII. bewunderte Hitler und sprach sich dafür aus, Juden an die Wand zu stellen.
Die deutschen Nazis konnten sich im Zweiten Weltkrieg auf die Kollaboration der Staatsapparate in den besetzten Ländern stützen. In Frankreich unterstützte das Vichy-Regime die Deportation französischer Juden in die Gaskammern, ungarische Behörden verschleppten 1944 einen Großteil der Jüdinnen und Juden innerhalb von vier Monaten in die Todeslager der Nazis.
Heute hingegen unterstützen viele europäische Staaten ihre nationalen jüdischen Gemeinden. Am auffälligsten ist dieser Wandel natürlich in Deutschland mit seiner Nazi-Vergangenheit. Aber er vollzog sich auch in Ungarn. Als es die europäische Ratspräsidentschaft innehatte, machte Viktor Orbans Ungarn die Förderung jüdischen Lebens in der EU laut »Jüdische Allgemeine« zu einem Schwerpunktthema. Es lebe sich in Ungarn als Jude sicherer als in vielen anderen europäischen Ländern, so die Zeitung weiter.
Aber in Ungarn ist diese Unterstützung ambivalent. Wenn Viktor Orban Netanjahu hofiert und George Soros verunglimpft, sendet er eine Botschaft an Ungarns Juden: Euch droht so lange nichts, solange ihr gute Juden seid und wisst, wo euer Platz ist. Aber wenn ihr zu den bösen Juden überlauft, dann kann sich das ändern. Für diese bösen Juden steht sinnbildlich George Soros, der für Orban und Netanjahu gleichermaßen ein gutes Feindbild abgibt. Denn er setzt sich nicht nur in Ungarn für Menschenrechte ein, sondern verteidigt auch die Rechte der Palästinenser:innen.
Zionistische Politiker spielen dieses Spiel mit. Auch sie unterscheiden zwischen »bösen« und »guten« Juden. Als der jüdische Historiker Omer Bartov in einem Interview des Spiegel zum 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung Israels Krieg gegen die Bevölkerung in Gaza scharf kritisierte, mischte sich der israelische Botschafter ein. Omar sei ein »von Selbsthass zerfressener« Israeli, er gehöre zu einem altbekannten Chor »antisemitischer Juden«. Jüdinnen und Juden, die Israel kritisieren, die »bösen« Juden, erklärt der Zionismus also gleich zu Gegner:innen des Judentums, indem er sie als »Selbsthasser« oder Antisemiten beschimpft. Der Zionismus spielt in der jüdischen Gemeinschaft eine spaltende Rolle.
Israel und der Kampf gegen Antisemitismus
Das hat Konsequenzen für den Kampf gegen den Antisemitismus. Die Unterstützung Israels mit dem Kampf gegen Antisemitismus gleichzusetzen, ist aus zwei Gründen problematisch.
Erstens: Ob ein Politiker Israel unterstützt oder nicht, sagt nichts darüber aus, ob er Antisemit ist oder nicht. Es gibt antisemitische Unterstützer Israels wie Viktor Orban, und es gibt Unterstützer Israels, wie Friedrich Merz oder Annalena Baerbock, die keine Antisemiten sind. Israel zu unterstützen heißt eben nur das: Israel zu unterstützen.
Zweitens: Es ist ein Fehler, sich mit Kräften gemein zu machen, die Palästinenser:innen und israelkritische Jüdinnen und Juden als Antisemiten verunglimpfen. Als Yuval Abraham, der israelische Co-Regisseur von »No Other Land«, in seiner Rede auf der Berlinale im Februar dieses Jahres die Unterdrückung der Palästinenser als Apartheid brandmarkte, attackierten ihn deutsche Politiker:innen als Antisemiten, so der konservative Berliner Bürgermeister Kai Wegner. Linke Politiker wie Claudia Roth von den Grünen wandten sich nicht gegen diese Schmähungen von rechts, sondern beklagten die angebliche Einseitigkeit des Films. Abraham erhielt daraufhin Morddrohungen und ein rechter Mob bedrohte seine Familie in Israel. Er reagierte dennoch selbstbewusst: »Der entsetzliche Missbrauch dieses Wortes durch Deutsche, nicht nur um palästinensische Kritiker zum Schweigen zu bringen, sondern auch um Israelis wie mich zum Schweigen zu bringen, entleert das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung und gefährdet damit Juden in aller Welt.«
Yuval Abraham steht in einer langen und großen Tradition von Jüdinnen und Juden, die aus ihrer eigenen Unterdrückung lernten, jegliche Unterdrückung zu bekämpfen. Die Frage ist, ob sich auch die Linke in diese Tradition stellt. Schließlich ist es die Tradition von Rosa Luxemburg.
Foto: President.gov.ua / Wikimedia Commons / CC BY 4.0
Schlagwörter: Antisemitismus, Israel, Zionismus