Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser gedenken der Nakba. In Deutschland ist die ethnische Säuberung Palästinas von 1948 dagegen weitgehend unbekannt. Von Ramsis Kilani und Yaak Pabst
»Glaubst du, wir hätten verstanden, wie uns geschah? Die Flieger bombardierten uns um 5 Uhr. Viele Menschen starben im Bombenhagel. Ich habe vieles gesehen. Als wir Tarshiha verließen, hatten die Männer Angst. Sie fürchteten, getötet zu werden. Ich betrat eines der Häuser. Ich sah Leichen am Boden, Hunde nagten an ihnen. Ich sah die Leiche eines Babys, die Hunde fraßen es. Meine Tante folgte mir: Musst du dir das anschauen? Raus mit dir! Der Anblick kehrt in meinen Albträumen wieder.« Mit diesen Worten beschreibt die Palästinenserin Rusta Dakwar Rarzouzi ihre Flucht 1948 aus Tarshiha. Das Dorf wird am Abend des 28. Oktober 1948 von drei israelischen Flugzeugen bombardiert.
»Nakba«: Die Katastrophe
Rarzouzis Schicksal ist kein Einzelfall: Vor 75 Jahren wurden 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben. Zionistische Milizen verübten Massaker, es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Palästinensische Besitztümer wurden enteignet, 531 Dörfer und elf Städteteile zwangsgeräumt und zum großen Teil zerstört. Die Ereignisse hinterließen eine entwurzelte, in ihren Grundfesten erschütterte palästinensische Gesellschaft.
Die Palästinenserinnen und Palästinenser nennen es »an-Nakba« – die Katastrophe. Das Trauma begleitet Überlebende wie Rusta Dakwar Rarzouzi ein Leben lang. Anders als viele ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner aus ihrem Dorf Tarshiha, das heute Ma’alot-Tarshiha heißt, konnte sie zurückkehren. Andere, die versuchten zurückzukehren, wurden vom israelischen Militär ausgeraubt und zwangsumgesiedelt. Auch wenn die israelische Armee ihren Plan aus dem Jahr 1949, Tarshiha und andere Gemeinden zur vollständig »araberfreien Zone« zu machen, nicht in die Tat umsetzte, bleibt Millionen palästinensischen Geflüchteten bis heute das Rückkehrrecht verwehrt.
Was geschah vor der Nakba?
Mit der Nakba erreichte das den Palästinenserinnen und Palästinensern angetane Unrecht neue Dimensionen, aber es begann schon früher. Dennoch sind Darstellungen, die den Konflikt zwischen Juden und Palästinensern im Nahen Osten als unüberbrückbar und »ewig während« beschreiben, falsch. Zwar gab es im Verlauf eines über 1300-jährigen Zusammenlebens Spannungen in den Beziehungen zwischen Arabern und Juden, doch die Verfolgung der europäischen Juden im Namen des Christentums seit dem Spätmittelalter hat kein vergleichbares Gegenstück in der arabischen Welt. Vor den zionistischen Einwanderungswellen, den sogenannten Alijas, waren die Jüdinnen und Juden Palästinas eng mit der Restbevölkerung verbunden.
Erst mit Beginn der zionistischen Besiedlung Ende des 19. Jahrhunderts gab es scharfe Konflikte mit der ansässigen arabischen Bevölkerung. Denn das zionistische Siedlungsprojekt schloss von vornherein ein integriertes Zusammenleben von jüdischen Siedlern und Palästinensern aus. Stattdessen zielte es auf die Verdrängung der arabischstämmigen Bevölkerung, um einen jüdischen Nationalstaat zu etablieren.
Ein Land ohne Volk?
Dem zionistischen Mythos nach ging es darum, »ein Land ohne Volk einem Volk ohne Land« zu übergeben. In Wirklichkeit war Palästina aber eine der am dichtesten besiedelten Regionen der gesamten Mittelmeerregion. Die palästinensischen Araberinnen und Araber lebten dort seit Jahrtausenden. Die Orangenhaine um Jaffa wurden schon seit Generationen von Palästinensern bewirtschaftet. Schon 1880 wurden jährlich über 30 Millionen Orangen von Palästina nach Europa exportiert.
Um das Ziel der zionistischen Bewegung, einen ausschließlich jüdischen Staat in ganz Palästina aufzubauen, zu verwirklichen, mussten die Palästinenserinnen und Palästinenser dazu gebracht werden, das Land zu verlassen. Der jüdische Sozialist John Rose schreibt in seinem Buch »Mythen des Zionismus«: »Der Zionismus begriff schon in seinen Anfangstagen, dass sein Erfolg ganz und gar von der Förderung durch Großmächte abhing.«
Eine gewaltsame Kolonisierung
Die britische Regierung gab 1917 mit der »Balfour Deklaration« ihre Unterstützung für die »Schaffung eines nationalen Heimes für die jüdische Bevölkerung in Palästina« bekannt. Dies war ein wichtiger Wendepunkt, von dem an die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser systematisch ignoriert wurden. In den 1920er Jahren waren die Folgen der zionistischen Einwanderung für die palästinensische Bevölkerung nicht mehr zu übersehen. So wuchs beispielsweise das direkt neben der arabischen Hafenstadt Jaffa neu gegründete jüdische Tel Aviv von 3600 Menschen im Jahr 1921 auf 40.000 im Jahr 1925.
Die jüdische Besiedlung Palästinas nahm die Form einer gewaltsamen Kolonisierung an. Organisationen des Zionismus kauften arabischen und osmanischen Großgrundbesitzern so viel Land wie möglich ab und zwangen die darauf lebenden kleinen Pächter, Bauern, Arbeiterinnen und Nomaden dazu, es zu verlassen. Durch den Landkauf an die zionistischen Organisationen verloren Tausende von palästinensischen Familien, die das Land bis dahin bewirtschaftet hatten, ihren Lebensunterhalt. Als besonderes Organ der Enteignung diente der Jüdische Nationalfonds (JNF). In den frühen 1920er Jahren gelang es der Organisation beispielsweise, die fruchtbare Jesreel-Ebene zwischen den Bergen Galiläa und Samarias für fast eine Million ägyptischer Pfund zu erstehen. Die Bedingung des JNF war die Entfernung der 8000 arabischen Pächterinnen und Pächter, die in 21 umliegenden Dörfern wohnten und deren Vorfahren das Ackerland seit Jahrhunderten bearbeiteten. Wegen des Widerstands der Menschen, die ihre Lehmhütten verbarrikadierten und sich vor Traktoren warfen, rief die zionistische Bewegung die britische Kolonialmacht zur Hilfe. Mit deren Hilfe gelang es ihr, die Bäuerinnen und Bauern aus ihrer Heimat zu vertreiben.
Die Teilung Palästinas und die Nakba
Großbritannien – das Palästina seit Ende des Ersten Weltkriegs besetzt hielt – unterstützte die Zionistinnen und Zionisten, die dabei halfen, die Palästinenser unter Kontrolle zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das britische Empire zusammenzubrechen. Die Kolonialmacht sah sich nicht mehr in der Lage, die militanten Kräfte, denen es dabei geholfen hatte, in dem Land Wurzeln zu fassen, in Zaum zu halten, und begann mit dem Abzug.
Im Jahr 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Teil. 56 Prozent der Fläche wurden dem zukünftigen Israel zugesprochen, obwohl Jüdinnen und Juden nur knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und nicht mehr als zehn Prozent des Landes bewohnten. Am 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion den Staat Israel aus und verkündete dessen Unabhängigkeit.
Die Nakba und die ethnischen Säuberungen
Der Sieg der zionistischen Kolonialbewegung war kein unerwarteter Triumph. Schon seit Jahren traf sich die zionistische Führung in »Transferkomitees«, um die ethnische Säuberung zu planen, die sie für einen jüdischen Staat auf größtenteils nichtjüdisch besiedeltem Gebiet durchführen wollte. Dafür baute sie Milizen auf, die schließlich mit Sprengungen, Beschuss und systematischem Terror palästinensischen Nachbarn vertrieben. Auch Massaker an der Zivilbevölkerung halfen der zionistischen Bewegung, die palästinensischen Gemeinden zur Flucht zu zwingen – das Massaker von Deir Yassin ist zum Symbol dafür geworden. In Israel werden die Ereignisse um 1948, die mit der Ausrufung des israelischen Staates verbunden waren, gefeiert. Den überwiegenden Teil der Palästinenserinnen und Palästinenser haben diese Ereignisse dagegen zu einem Volk von Flüchtlingen gemacht.
Die Verdrängung geht weiter
Trotz ihrer Lage hält die palästinensische Bevölkerung weiter an ihren Rechten fest. Angesichts des weiter voranschreitenden Landraubs wird sie nicht müde, verschiedenste Konzepte der Gegenwehr zu entwickeln. Seitdem Israel während seines Angriffskrieges im Jahr 1967 auch das Westjordanland und den Gazastreifen erobert und unter seine Kontrolle gebracht hat, schreitet die palästinensische Katastrophe zusehends voran. Der israelische Staat bleibt der vorstaatlichen Linie von Enteignung und Verdrängung treu.
Dabei bedient er sich in der Westbank einer Siedlungspolitik, die er durch ein perfides Checkpointsystem und die Kollaboration mit einer lokalen »Autonomiebehörde« aufrechterhält. Das Gebiet durchzieht eine Mauer, die um ein vielfaches höher und länger ist, als es die Berliner Mauer je war. Obwohl Israel sie zu 88 Prozent auf dem als palästinensischen Staat angedachten Territorium erbaut hat, spricht die rechtsradikale Netanjahu-Regierung von »Sicherheitsvorkehrungen« und »Friedensgesprächen«. Für israelische Historiker wie Ilan Pappe war dieser sogenannte »Friedensprozess« für Israel immer nur ein »Trick zur Festigung der Besatzung« (Siehe auch: »Die ethnische Säuberung Palästinas« von Ilan Pappe).
Den Gazastreifen hält Israel derweil militärisch umstellt und belagert. Der Küstenstreifen wird von Israel seit Jahren wie eine mittelalterliche Burg ausgeblutet und er besteht nur noch als verbarrikadiertes »Freiluftgefängnis«. Das Leid der Bevölkerung ist so groß, dass Tausende an die Grenze wandern und Menschenrechte fordern. Als Antwort tötet und verletzt die israelische Armee die Protestierenden mit scharfer Munition.
Die Erinnerung wach halten
Es gibt aber etwas, das die Kugeln nicht so einfach auslöschen können. Und das ist die Erinnerung von sieben Millionen Flüchtlingen, die nicht von ihrem Recht auf Rückkehr ablassen wollen. Israel hat die Überreste der palästinensischen Gemeinden vermint oder in Erholungsparks und Wälder umgewandelt. Doch Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht.
Meron Benvenisti war einst überzeugter Zionist und Bürgermeister Jerusalems. In der israelischen Tageszeitung »Ha’aretz« schreibt er im Jahre 2003: »Ich bin jetzt 70 Jahre alt und habe das Recht, ein Resümee zu ziehen. So wie die südafrikanischen Herrscher zu einem bestimmten Zeitpunkt wussten, dass sie keine andere Wahl mehr hatten, als ihr Regime abzuschaffen, so muss auch das israelische Establishment begreifen, dass es seine hegemonialen Vorstellungen nicht 3,5 Millionen Palästinensern im Westjordanland und dem Gazastreifen und 1,2 Millionen Palästinensern, die Bürger Israels sind, überstülpen kann. Unsere Aufgabe ist es, eine Situation individueller und kollektiver Gleichheit unter einem gemeinsamen Regime für das ganze Land herzustellen. Darum glaube ich, die Zeit ist gekommen zu erklären: Die zionistische Revolution ist am Ende. Wir sollten beginnen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen.«
Wie Rusta Dakwar Rarzouzi die Leichenberge im Schlaf vor Augen sieht, so leben auch die restlichen Palästinenserinnen und Palästinenser seit 75 Jahren einen Albtraum, den sie Nakba nennen. Doch die Hoffnung bleibt bestehen, dass auch dieser einmal ein Ende findet.
»Es ist die einfache, aber entsetzliche Geschichte der ethnischen Säuberung Palästinas, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die Welt vergessen machen wollte«, schreibt der polnisch-israelische Historiker Simha Flapan. »Es ist unsere Pflicht, es aus der Vergessenheit zu holen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance haben und der Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel Fuß fassen sollen.«
Bild: UNRWA
Schlagwörter: Geschichte, Israel, marx21, Nakba, Palästina, Zionismus