Von der SPD lernen, heißt siegen lernen? Ja! Allerdings müssen wir dafür ganze 140 Jahre zurückblicken. In der Frühphase des Antisemitismus stürzte sich die damals junge und noch revolutionäre Sozialdemokratie offensiv in den Kampf gegen Rassismus. Von Volkhard Mosler
Stuttgart im Februar 1873: In einem Einkaufsladen ohrfeigt ein Offizier einen jüdischen Geschäftsmann. Dieser ruft die Polizei, die den Offizier aus dem Laden schmeißt. Daraufhin entwickeln sich tagelange antisemitische Ausschreitungen in der Innenstadt, bei denen jüdische Geschäfte zerstört und geplündert werden.
Antisemitismus in Deutschland
Die Stuttgarter Krawalle sind der Vorbote einer sich langsam formierenden und dann gegen Ende des Jahrzehnts rasch ansteigenden ersten Welle des modernen Antisemitismus in Deutschland. Der Aufstieg des Antisemitismus fällt zusammen mit der Gründerkrise von 1873 und ihr Einmünden in eine über zwanzigjährige lange Depression der Wirtschaft. Doch die Krise führte politisch mit ihren enormen sozialen Verwerfungen auch zum Anwachsen und zur Radikalisierung der 1875 aus zwei Strömungen vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der späteren SPD. Nach dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetzes im Herbst 1890 änderte die Partei ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Das Wachstum der Linken
Die SAP erhielt bei der ersten Reichstagswahl im Jahr 1871 3,2 Prozent der Stimmen, 1874 kam sie auf neun Prozent und 1877 trotz einsetzender Verfolgung auf 9,7 Prozent. Reichskanzler Bismarck und der Kaiser sahen in der neuen Partei eine potenziell tödliche Gefahr für die Monarchie und das Kapital. Es war daher kein Zufall, als 1878 der Hofprediger des Kaisers, Adolf Stoecker, eine neue Christlich-Soziale Arbeiterpartei (CSAP) gründete. Stoecker genoss die stillschweigende Zustimmung und Förderung höchster Kreise.
Die neue Partei trat zunächst mit einem sozialen Reformprogramm auf, das Proletariat sollte wieder vertrauen in Kirche und Staat gewinnen. Nach einem Attentat auf den Kaiser ließ Bismarck die SAP verbieten und schrieb Neuwahlen aus. Die Partei durfte noch bei Wahlen kandidieren, jegliche Organisationstätigkeit war ihr aber verboten. Trotz einer Hetzkampagne gegen den »roten Terror« ohnegleichen verlor die SAP nur geringfügig (von 9 auf 7,6 Prozent), die CSAP konnte in ihre Hochburgen in Berlin nicht einbrechen, Stoeckers Versuch, die SAP zu spalten, war gescheitert. Daraufhin änderte er seine Taktik, den Namen (Christlichsoziale Partei) und das Programm der Partei.
Stoecker und der politische Antisemitismus
Mit einer offen antisemitischen Rede (»Unsere Forderungen an das Judentum«) gelang es Stoecker, große Massen anzuziehen. Paul Massing schreibt in seinem Buch »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« über die damalige Zeit: »Von 1879 bis in die Mitte der achtziger Jahre hielt die so genannte Berliner Bewegung (von Stoecker, Anm. d. Red.) (…) die Hauptstadt in Aufruhr. Ihr Gedankengut war ein Gemisch aus christlichsozialen, konservativen, orthodox-protestantischen, antisemitischen, sozialreformerischen und staatssozialistischen Elementen.« Den größten Teil ihrer Anhängerschaft stellten Handwerker, Büroangestellte, Studenten, untere Beamtem, kleine Geschäftsleute und andere Mittelständler.
An seinen regelmäßigen Massenversammlungen nahmen in den frühen 1880er Jahren durchschnittlich 2000 bis 3000 Menschen teil. Themen waren die »Judenfrage«, »Unfallversicherung« oder »Das Handwerk gestern und heute«.
Antisemitismus und das Establishment
Unterstützung erhielt er vom Establishment. Der bekannteste Historiker seiner Zeit, Heinrich von Treitschke, hatte 1879 in einem Artikel geschrieben: »Die Juden sind unser Unglück« und damit eine zwei Jahre andauernde »Antisemitismus-Debatte« in Deutschland ausgelöst. Zwischen 1873 und 1890 erschienen über 500 Bücher, Broschüren und Artikel, die sich ausschließlich der »Judenfrage« widmeten. Und so wie es im Kampf gegen Merkels »verfehlte Flüchtlingspolitik« keine »bessere« Waffe gibt als die islamfeindliche AfD, so gab es damals keine bessere Waffe gegen den »jüdischen Liberalismus« als Stoeckers Christlich-Sozialen, die sich in die Rechtspartei DKP (Deutsche Konservative Partei) eingegliedert hatten – mangels parlamentarischer Erfolgsaussichten als selbständige Organisation. Bald kam es dann auch zu anderen, uns heute nicht unbekannte »Nebenwirkungen«. In verschiedenen Städten wurden Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte geplündert – das waren Auswüchse von Stoeckers Agitation, von denen dieser sich freilich »distanzierte«. In der Silvesternacht 1880 kam es in Berlin erstmals seit Stuttgart 1873 wieder zu judenfeindlichen Krawallen. Vorausgegangen war eine antisemitische Massenveranstaltung in der Berliner Innenstadt.
Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein schrieb: »Organisierte Banden zogen (…) vor die besuchteren Cafés, brüllten (…) taktmäßig immer wieder ›Juden raus!‹ (…) und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüstheiten mehr. Aber natürlich unter der Phrase der Verteidigung des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische Ausbeutung.«
Antisemitismus im Wahlkampf
Der Wahlkampf von 1881 stellte alle vorangegangenen in den Schatten. Stoecker ließ am Vorabend der Wahl ein Flugblatt verteilen, in dem er vor dem sozialdemokratischen »Umsturz« warnte und dagegen »soziale Reformen auf christlicher Grundlage« forderte und gegen die »Ansammlung des mobilen Kapitals in wenigen, meist jüdischen Händen« wetterte. Das Flugblatt endete mit dem Satz: »Ich will keine Kultur ohne Deutschtum und Christentum, deshalb bekämpfe ich die jüdische Übermacht.« Bismarck hielt zwar offiziell weiter Distanz zu Stoeckers Antisemiten. In einem privaten Brief an seinen Sohn schrieb er allerdings »Stoeckers Wahl ist dringend zu wünschen« und in einem Zeitungsinterview sagte er: »Die Juden tun was sie können, um mich zum Antisemiten zu machen.«
Bismarck war kein überzeugter Antisemit, aber er nutzte den Antisemitismus für seine Zwecke des Machterhalts. Gestützt auf Stoeckers antisemitische Agitation stieg der Stimmanteil der DKP bei den Reichstagswahlen 1881 auf 23,7 Prozent (1874: 14,1 Prozent), die SAP fiel unter Bedingung des Parteiverbots auf 6,1 Prozent. Später ging Bismarck wieder auf Distanz zu Stoecker.
Treitschke, Stoecker und Richard Wagner waren Männer der gehobenen Gesellschaft, sie erst machten den Antisemitismus gesellschaftsfähig, der in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre eine radikalere, nämliche völkisch-rassistische Gestalt annahm und für die Ausweisung aller Juden aus Deutschland eintrat. Einen Masseneinfluss gewann der völkische Antisemitismus allerdings erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Hitlers.
Widerstand gegen Antisemitismus
Dass es Stoeckers Bewegung auf den damals allerdings noch sehr großen und sozial gewichtigen Mittelstand oder Kleinbürgertum beschränkt blieb, ist allein der Tatsache geschuldet, dass seine Bewegung mit der Sozialistischen Arbeiterpartei auf einen unüberwindlichen politischen Konkurrenten traf. In einem Bericht über die erste Reichstagwahl unter dem Sozialistengesetz stellte die Partei fest: »Der Skandal des Antisemitismusunfuges war erst nach dem Sozialistengesetz möglich; dass er nicht die Ausdehnung einer allgemeinen Judenhetze annahm, ist einzig das Verdienst der Sozialdemokratie, welche die Arbeiterklasse vor diesem schmachvollen, den niedrigsten Motiven entsprungenen Treiben warnte.«
Die SAP sah in der Stoecker-Bewegung von Beginn an eine ernste Gefahr. Eine der ersten Maßnahmen gegen den »christlich-sozialen« Antisemitismus war ein Aufruf an die Arbeiter, aus der evangelischen Landeskirche auszutreten, in deren Reihen Stoecker an prominenter Stelle wirkte.
Die Stellung der Arbeiter zur Judenfrage
Nach den antisemitischen Krawallen vom Silvester 1880 beriefen die Sozialdemokraten eine Massenversammlung ein, »um die Stellung der Arbeiter zur Judenfrage« zu klären. Zugelassen waren nur Personen, die sich als Lohnempfänger ausweisen konnten. Der Erfolg der Versammlung übertraf alle Erwartungen. In einer Resolution sprach sich die Versammlung »gegen eine Schmälerung der den Juden verfassungsmäßig garantierten staatsbürgerlichen Gleichstellung« aus, zumal die Lohnabhängigen »unter dem Druck von Ausnahmegesetzen gegenwärtig selber« litten. Ähnlich erfolgreiche Versammlungen fanden in einer Reihe von anderen Städten statt. Die Arbeiter gingen zum Gegenangriff über. Oft erschienen sie massenweise auf antisemitischen Versammlungen, übernahmen die Versammlungsleitung und verwandelten die Kundgebung in eine Demonstration für die geächtete Sozialdemokratische Partei. Auch in den Gewerkschaften versuchten die Antisemiten Einfluss zu gewinnen und fanden mit ihren Forderungen nach Mindestlohn, Arbeiterschutzgesetzgebung, Normalarbeitstag und »Verbot einer halsabschneiderischen Konkurrenz« viel Beifall. Paul Massing bilanziert: »Aber von Judenfresserei wollten die Gewerkschaften nichts wissen.«
Erfolg mit einem jüdischen Kandidaten
Im Jahr 1884 stellte die SAP bei der Berliner Stadtverordnetenwahl den jüdischen Kandidaten Paul Singer gleichzeitig in zwei Wahlbezirken auf – obwohl er ein sehr erfolgreicher Kleiderfabrikant war. Vergleichbar wäre dies heute mit der Kandidatur einer muslimischen Kopftuchträgerin zur Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag. Er wurde im ersten Wahlgang mit einer absoluten Mehrheit gewählt. Im folgenden Jahr wurde er Reichstagsmitglied, 1885 Fraktionsvorsitzender und 1886 unter dem Sozialistengesetz aus Berlin ausgewiesen. »Aber je mehr er den Zorn der Regierung und der Antisemiten auf sich zog, desto mehr verehrten ihn die sozialistischen Arbeiter«. Bei seiner Ausweisung aus Berlin kam es zu einer illegalen Demonstration gegen Bismarck und den preußischen Innenminister. Um 1885 hatte die Berliner Bewegung unter Stoeckers Führung ihren Auftrieb verloren. Der Sozialdemokratie aber gelang es ihren Stimmenanteil in Berlin fast zu verdoppeln, im Reich erzielten sie 1887 – immer noch unter Bedingungen der Illegalität – zum ersten Mal über zehn Prozent der Stimmen.
Die heroische Zeit der Sozialdemokratischen Partei, die Jahre des Sozialistengesetztes, war die Zeit ihres aktivsten Kampfes gegen den politischen Antisemitismus. Und es sei »das Verdienst der orthodoxen Marxisten (gewesen), dass die Partei jedes Bündnis mit sozialreformerischen Strömungen ablehnte, die gewöhnlich zum Antisemitismus tendierten oder ganz auf ihm fußten«, schreibt Massing.
Lehren für den Kampf gegen Rassismus heute
Welche Lehren kann die Linke daraus für heute ziehen? Wir erleben erneut einen Aufschwung rassistischer Ideen und Manifestationen. Und es drängen sich Parallelen zu damals auf. Der Historiker und ehemalige Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz schreibt über den antimuslimischen Rassismus: »Die Parallelen zu Antisemitismus und Judenfeindschaft sind unverkennbar: Mit Stereotypen und Konstrukten, die als Instrumentarium des Antisemitismus geläufig sind, wird Stimmung gegen Muslime erzeugt. Dazu gehören Verschwörungsfantasien ebenso wie vermeintliche Grundsätze und Gebote der Religion, die mit mehr Eifer als Sachkenntnis behauptet werden. Die Wut der neuen Muslimfeinde gleicht dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden. Die Verabredung einer Mehrheit gegen das Kollektiv der Minderheit, das ausgegrenzt wird (einst und immer noch ›die Juden‹, jetzt zusätzlich ›die Muslime‹), ist gefährlich, wie das Paradigma der Judenfeindschaft durch seine Umsetzung im Völkermord lehrt.«
Der Aufschwung des antimuslimischen Rassismus fällt wie der damalige Antisemitismus in eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation und Krise. Wie damals finden sich honorige Leute der »guten Gesellschaft«, die den Rassismus hoffähig machen. Der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin kam 2010 mit seiner Hetzschrift gegen Muslime (»Deutschland schafft sich ab«) kurz nach Ausbruch der größten Wirtschaftskrise (2008) seit den dreißiger Jahren auf den Markt. Auch er stellte bewusst den Zusammenhang zur »sozialen Frage« her. »Deutschland« werde »immer dümmer und ärmer« infolge der muslimischen Zuwanderung, zitierte »Bild« damals Sarrazin.
Theorie und Praxis
Die Linke kann aus den Erfahrungen der damaligen Sozialdemokratie lernen. Die SPD klärte die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, dass nicht die Juden an der Krise und der Verelendung schuld waren, sondern der Kapitalismus. Und sie hat keinen Zweifel in Theorie und Praxis gelassen, dass sie die einzige Partei war, die den Krisen und der sozialen Verelendung des Kapitalismus und ihrem politischen System unerbittlich und entschlossen entgegentritt. Der Antisemit Stoecker hatte als Reichstagsabgeordneter der Konservativen zahlreiche Gesetzesinitiativen zum Arbeiterschutze (Unfallschutz), zum Mindestlohn und anderen sozialen Themen eingebracht. Die Sozialdemokraten haben in all den Jahren keinem einzigen dieser Anträge zugestimmt, obwohl viele ihre Anhänger und Wähler sich in diesen Anträgen mit ihren Nöten wiederfanden. DIE LINKE steht heute in zahlreichen Kommunal- und Landesparlamenten vor der Herausforderung, sich ebenso klar von den heutigen Rassistinnen und Rassisten abzugrenzen. Der Sündenbock trägt heute einen neuen Namen. Doch es ist die Aufgabe der LINKEN, es der damals noch marxistischen Sozialdemokratie gleichzutun: Sie muss die Menschen über Rassismus aufklären und sich offensiv in den Kampf dagegen stürzen (Lese hier einen Artikel zur Frage: »Kopftuch und Klassenkampf – Wie DIE LINKE Neukölln den Kiez aufmischt«).
Schlagwörter: Antisemitismus, DIE LINKE, Geschichte, Judentum, Kaiserreich, Krise, Linke, marx21, Sozialdemokratie, SPD