Die Berichterstattung über die Gewalt des 7. Oktober 2023 blendet nicht nur deren Ursachen aus, sondern folgt dem gleichen Muster eines entmenschlichenden Diskurses, mit dem der Gewalt der Unterdrückten seit jeher begegnet wird. Von Maximilian Krippner
Vor einigen Tagen jährte sich der Angriff der Hamas auf Israel. Seit den ersten Meldungen dieses gewaltsamen Ausbruchsversuchs aus dem Gazastreifen dominieren die Beschreibungen der Gewalt den Diskurs und werten diesen auf Basis der Gewalttaten. Es scheint ganz klar zu sein. Es wurde ein Massaker begangen. Zivilist:innen wurden brutal getötet und entführt. Wie kann man es nur wagen, irgendwie nachvollziehen zu wollen, weshalb diese Gewalt gewählt wurde?
Die aus dem Gazastreifen ausgebrochenen Kämpfer werden als Tiere dargestellt, als Monster, die dem Blutrausch verfallen sind. All das zeigt sich auch in veröffentlichten Videos und Bildern. Wie kann hier auch nur der kleinste Funke der Erklärung der Gewalt angeführt werden? Wäre das nicht sogleich eine Legitimation derselben?
Um hier eine Antwort zu finden, muss man jedoch die komplexe Beziehung einer unterdrückten Gruppe, hier die palästinensische Bevölkerung, und den Unterdrückern, hier dem israelischen Staat, genauer betrachten.
Vertreibung, Mord und Folter
Seit mehr als 75 Jahren erfährt die palästinensische Bevölkerung eine systematische Unterdrückung – eine Unterdrückung, die sich durch Vertreibung, Mord und Entmenschlichung der Bevölkerung ausdrückt. Seit mehr als 75 Jahren müssen sich die Palästinenser:innen tagtäglich mit dem Schicksal auseinandersetzen, sich nicht so verwirklichen und entfalten zu können, wie sie es sich wünschen. Das bezieht sich auf die kollektive kulturelle Identität, wie auch auf die Individualität eines jeden Einzelnen.
Jede palästinensische Person trägt eine eigene Geschichte familiären Leids, geprägt durch Vertreibung, Mord, Folter oder anderer physischer und psychischer Gewalt in sich. Diese Leidensgeschichten wurden durch den siedlerkolonialen Zionismus gesät, über etliche Jahrzehnte herangezogen und in weiterer Unterdrückung kultiviert.
Hunderttausende Palästinenser:innen wurden seit 1948 getötet. Millionen wurden traumatisiert und leben im Bewusstsein, dass sie von diesem, nur wenige Kilometer entfernten Staat, nicht als Menschen gleicher Würde betrachtet werden. Sie müssen sich stets bewusst sein, dass ihre Familien, ihre Freunde oder sie selbst jederzeit einen komplett willkürlichen Tod erleiden könnten. All das nur, weil ihre bloße Existenz den Unterdrückern ein Dorn im Auge ist. Dabei wollen sie selbst doch nur frei sein. Dabei wollen sie nichts weiter als ihren Acker bewirtschaften, ihre Geschäfte führen, ihre Restaurants betreiben, ihre Familien in Frieden großziehen. Sie wollen das über Jahrzehnte zur tonnenschweren Last angewachsene Joch der Unterdrückung abwerfen und eben jene Freiheiten genießen, die ihnen kollektiv verwehrt bleiben.
Doch wie soll dies geschehen, wenn die Grenzen, hinter denen ihre ehemaligen Häuser liegen, per Schusswaffe gesichert sind? Wie soll dies geschehen, wenn sie oder ihre Vorfahren beim Versuch, aus dem Gefängnis ihres Landes auszubrechen, von den Gewehren der Unterdrücker:innen niedergestreckt wurden? Wie so oft wird das kleinste Aufbegehren gegen den Status ihrer Unterdrückung mittels Gewalt niedergeschlagen. Mit genau der Gewalt, welche sie auch erst in diesen Status geprügelt hat. Wie können sie sich als ganze und vollwertige Menschen sehen, wenn ihnen grundlegende Freiheit seit der Sekunde ihrer Geburt durch Gewalt verwehrt wird?
Die Gewalt der Unterdrückten
Frantz Fanon, einer der größten Vordenker der Entkolonialisierung, schrieb in seinem Werk »Die Verdammten dieser Erde« unter anderem folgendes zu dieser Beziehung von Gewalt:
»Gewalt ist für den Kolonisierten das Mittel, durch das er seine Menschlichkeit wiederentdeckt.«
»Die Gewalt, durch die das Kolonialregime eingepflanzt wurde, wird nur durch noch größere Gewalt wieder entfernt.«
»Die Intuition der kolonisierten Massen begreift also plötzlich, dass ihre Befreiung durch Gewalt geschehen muss und nur durch Gewalt geschehen kann.«
Die Erkenntnisse Fanons lassen sich auf etliche Kämpfe Unterdrückter gegen ihre Unterdrücker übertragen – auch jenseits von klassisch kolonialen Unterdrückungsverhältnissen. Als Fanon diese Worte verfasste herrschte der brutale Algerienkrieg, durch dessen Ausgang sich die algerische Bevölkerung vom Joch der französischen Kolonialherrschaft nur unter enormen Opfern befreien konnte.
Um die Berichterstattung über den 7. Oktober 2023 zu verstehen, sollte man beispielsweise auch die Kämpfe der indischen Sepoy von 1857 gegen ihre britischen Kolonialherren heranziehen. Die Sepoy waren indische Soldaten, welche den Interessen der Kolonialmacht dienen mussten. Die Kolonialherren missachteten in typisch menschenfeindlich kolonialistischer Manier die einheimische Bevölkerung, beuteten sie aus und begannen ihre kulturelle Identität zu zerstören, um den Kolonialisierten ihren Willen aufzudrücken.
Als dann die angebliche Verwendung von Schweineschmalz und Rinderfett in den Patronen, welche die muslimischen und hinduistischen Sepoy nutzen mussten, bekannt wurde, war dies der sinnbildliche Zündfunke, welcher hier den antikolonialen Kampf entfachen ließ. Im Jahr 1857 begehrten die Sepoy gegen ihre Kolonialherren auf. Geprägt von der Gewalt und Entmenschlichung der Kolonialherren war der Kampf der Sepoy ebenso erbittert und brutal. Er gipfelte unter anderem im grausamen Massaker von Kanpur, in welchem auch hunderte Frauen und Kinder der Kolonialherren von den Sepoy, beziehungsweise auf deren Anordnung, brutal ermordet wurden.
Entmenschlichung und Dämonisierung
Die Nachrichten des Aufstands und des Massakers fanden natürlich ihren Weg in die westliche Berichterstattung. Und ähnlich wie beim 7. Oktober 2023 wurde der Fokus allein auf die ausgeübte Gewalt und die Gräueltaten gelegt, die Umstände, welche die Wut und eben auch diese Gewalt über Jahre hinweg aufgebaut hatten, wurden nicht betrachtet.
Man berichtete lieber von den barbarischen, tierischen und unmenschlichen Indern und nicht darüber, was sie in diese extreme und abzulehnende Gewaltausübung getrieben hat. Und exakt die gleichen Muster finden wir in der deutschen Berichterstattung über den 7. Oktober wieder. Die Gewalt war entsetzlich, die Gewalt war oft ungezügelt, Zivilist:innen wurden ermordet, was natürlich absolut abzulehnen ist. Doch man wagte sich in der plötzlichen Ohnmacht nicht, die Frage nach der Ursache zu stellen, und dies zieht sich noch bis heute durch.
Karl Marx schrieb:
»In der Geschichte der Menschheit gibt es so etwas wie Vergeltung; und es ist eine Regel historischer Vergeltung, daß ihre Waffen nicht von den Bedrückten, sondern von den Bedrückern selbst geschmiedet werden.«
Nehmen wir nun diese Worte von Marx und ergänzen sie mit denen Fanons, so lässt sich ableiten, dass die Gewalt, welche das Ende einer Unterdrückung beschließen soll, eben von den Unterdrückern selbst geschaffen wurde. Sie wurde den Unterdrückten in die Wiege gelegt und über den Zeitraum der Unterdrückung herangezogen, nur um sich dann gegen ihre eigenen Schöpfer zu wenden. Das mindert den Schrecken und das damit verbundene Leid insbesondere der Zivilbevölkerung natürlich nicht ab. Dieser Ansatz soll nur eine Erklärung bieten, weshalb Konflikte dieser Art historisch gesehen regelmäßig in Gewalt gipfeln.
Kollektivschuld und Vergeltung
Bezüglich der Massaker der Sepoy und der Hamas lässt sich – trotz aller Unterschiede der Taten wie auch des Unterdrückungsverhältnisses insgesamt – noch eine weitere Parallele ziehen. Die Taten der Sepoy in Kanpur gegen ihre Kolonialherren wurden als Argument verwendet, um die folgende Vergeltung in ihrer eigenen Brutalität nur noch weiter zu übertreffen und zu legitimieren. Über die indische Bevölkerung, die in Verbindung mit den Aufständischen gebracht wurde, brach die Hölle herein. Als Vergeltungsmaßnahmen wurden gesamte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, den Menschen wurde ihre letzte Würde genommen, bevor man sie vor Kanonen fesselte, um diese dann mit den davor gebundenen Leibern abzufeuern.
Jede einzelne dieser grausamen Taten wurde mit dem Massaker von Kanpur begründet, egal ob die Opfer dieser Vergeltungsmaßnahmen daran beteiligt waren oder nicht. Man kann also feststellen, dass die Briten das Massaker selbst erst durch die Unterdrückung herangezüchtet hatten, und sich selbst dadurch dann auch noch die Legitimation für weitere Kolonialverbrechen gegeben haben.
Ebenso verhält es sich mit dem derzeit stattfindenden Genozid an den Palästinenser:innen. Die Gewalt, die sich am 7. Oktober 2023 brutal entlud, war eine Saat der jahrzehntelangen Unterdrückung und Entmenschlichung durch den israelischen Staat. Und eben diese selbst begründete Gewalt wird nun von Israel als Vorwand genutzt, um hunderttausendfachen Tod und Leid über die Palästinenser:innen zu bringen.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Gesamtheit der kolonialisierten indischen Bevölkerung keineswegs mit den Sepoy gleichgesetzt werden darf. Ebensowenig wie die Gesamtheit der Palästinenser:innen mit den am 7. Oktober beteiligten Mitgliedern der Hamas gleichgesetzt werden darf. Dies ist ein fundamentaler Fehler, der in dieser Debatte unzählige Male gemacht wurde und wird.
Solidarität mit allen Unterdrückten
Die Schuldfrage wird ad absurdum geführt, wenn man berichtet, als ob der 7. Oktober aus einem Vakuum heraus entstanden ist. Das ist er nämlich nicht. Er war ein Schlag des Ausdrucks eines Befreiungswillens einer gewissen Gruppe. Ein brutaler und gewaltsamer Schlag, der auch die israelische Zivilbevölkerung traf, aber kein willkürlicher Schlag aus einem politischen Vakuum heraus.
Es ist wichtig die Frage nach den Ursachen zu stellen und diese benennen zu dürfen. Dieser Aspekt darf in der Ohnmacht der Gewalt nicht außen vor gelassen werden. Ohne die konkrete Frage nach den Ursachen ist es unmöglich, eine Lehre zu ziehen und an Lösungen zu arbeiten.
Daher gilt es die Unterdrückung konsequent an jeder Stelle zu benennen und Maßnahmen zu ergreifen, um diese zu beenden. Wenn der Diskurs bei der reinen Nennung von Gründen bereits abgebrochen wird und diejenigen, welche die Ursachen analysieren wollen, stumpf als »Hamas-Fans«, »Antisemiten«, oder ähnliches bezeichnet werden, öffnet dies der Gewalt und dem Leid weiterhin Tür und Tor.
Im Sinne eines dialektischen Anspruchs ist eine solche Analyse und die Benennung der Gründe unumgänglich. Aus diesem Anspruch und auch dem Anspruch der internationalen Solidarität heraus ist es wichtig, sich an die Seite der Unterdrückten zu stellen, unterdrückende Strukturen zu benennen und mittels internationaler Anerkennung und Unterstützung zu versuchen, aus dieser Gewaltspirale auszubrechen. »Proletarier:innen aller Länder, vereinigt Euch!« ist keine abgedroschene alte Phrase. Dies beinhaltet ebenso die Solidarität mit allen Unterdrückten dieser Welt.
Foto: Spokesperson unit of ZAKA photographer / wikimedia.org / CC BY-SA 4.0
Schlagwörter: Gaza, Israel, Krieg, Palästina