Verschwörungstheorien blühen. Die meisten stellen ein Sammelsurium von weltfremden, oft rassistischen Hirngespinsten dar. Aber allen ist gemeinsam: Sie greifen zu kurz. Von David Meienreis
»Verschwörungstheorien blühen an Orten und zu Zeiten von Angst und Unsicherheit«, schreibt der Autor des »Lexikons der Verschwörungstheorien«, Robert Anton Wilson. Wenn sie Regierungen, Wissenschaftler und Medien attackieren, sind Verschwörungstheorien Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber der Verlässlichkeit unserer Gesellschaftsordnung. Dass derlei Verdächtigungen in den vergangenen Jahren immer häufiger auftauchen und Millionen von Menschen in ihren Bann ziehen, zeigt, wie weit verbreitet Verunsicherung über die Zukunft ist. Dafür gibt es auch reichlich Anlässe: Die internationale Ordnung wird zusehends brüchiger, krisen- und kriegsanfälliger.
Stoff der Verschwörungstheorien
Ökonomen sehen den Kapitalismus seit Jahren in einer »säkularen Stagnation«, also einem dauerhaften Zustand ohne Wachstum. Außerdem reißt die Kette gewaltiger Skandale nicht ab: Die Cum-Ex-Geschäfte stellten den größten Steuerraub in der Geschichte dar und werden trotzdem wohl keine juristischen Folgen haben. Die Panama-Papers haben offengelegt, wie Prominente weltweit an illegalen Finanzgeschäften verdienen. Der vermasselte Atomausstieg, die Milliardenpleite mit der Lkw-Maut, die Berater-Affäre im Verteidigungsministerium, Jeffrey Epsteins´ Prostitutionsring und sein plötzlicher Tod im Gefängnis, Trump im Weißen Haus und nun die Explosion der Preise für medizinische Gerätschaften und massenhafter Betrug bei der Verteilung von Corona-Hilfsgeldern an Unternehmen.
Es läuft einiges schief, und hinter allem stehen Verschwörungen im Sinne von Zusammenschlüssen einflussreicher Menschen, die gegen Recht und Gesetz verstoßen, um sich zu bereichern. Man könnte das auch organisierte Kriminalität unter Beteiligung politischer Verantwortungsträger nennen. Die gibt es. Und sie bilden den Stoff, aus dem Verschwörungstheorien entstehen. Einige Verschwörungstheorien verweisen auf echte Verbrechen und können mindestens plausible Argumente vorbringen. Doch es gibt zwei wesentliche Probleme mit ihnen: Erstens lenken sie von den eigentlichen Problemursachen ab und richten den Unmut der Menschen auf falsche Ziele. Zweitens geben sie den Menschen, die unter dem Kapitalismus leiden, keine Werkzeuge und keine Strategie an die Hand, wie sie die Welt verändern können.
Die Bill Gates-Verschwörung
Eine populäre Verschwörungstheorie zu Corona besagt, dass der Microsoft-Gründer Bill Gates hinter der aktuellen Panik stecke. Gates ziehe im Hintergrund die Fäden, um weltweit Regierungen, Medien und Gesundheitsämter zu täuschen, damit die Pharmakonzerne, an denen er Beteiligungen hält, Milliarden mit einem neuen Impfstoff verdienen können. Was ist dran an dieser Verschwörungstheorie?
Bill Gates verfügt über ein geschätztes Vermögen von 160 Milliarden US-Dollar. Er ist damit einer der reichsten Männer der Welt. Zusammen mit seinem Freund, dem Großinvestor Warren Buffett, leitet er die weltweit aktive Gates-Stiftung und investiert in Unternehmen wie Coca Cola, Kraft und in zahlreiche Pharmaunternehmen. Er hat öffentlich verkündet, dass seine Investitionen in die Gesundheitsbranche zu seinen profitabelsten gehören. Da die Regierungen auf Initiative der USA 1993 beschlossen, ihre Pflichtbeiträge an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einzufrieren, ist diese auf private Spenden angewiesen und Gates kommt für rund 14 Prozent des Jahresbudgets ihres Budgets auf. Das verschafft ihm erheblichen Einfluss auf die Ausrichtung der WHO. Nichtregierungsorganisationen wie Medico International kritisieren zu Recht seit vielen Jahren den Einfluss der Gates-Stiftung und anderer privater Unternehmen wie des Ferrero-Konzerns.
Gates »ertappt«?
Doch es gibt Probleme mit der Gates-Verschwörung. Das erste ist der selektive Umgang mit Informationsquellen. Die Verschwörungstheorie beruht darauf, dass er »ertappt« worden sei, wie er seit Jahren öffentliche Vorträge über die Gefahren neuer Virenausbrüche hält – und gleichzeitig an Pharmakonzernen beteiligt ist. Doch es lässt sich nicht belegen, wie Gates mit Hilfe der WHO praktisch sämtliche Regierungen der Welt beim Thema Covid hinters Licht geführt haben soll. Zudem ist bis heute weder eine allgemeine Impfpflicht vorgesehen, noch absehbar, dass eines der Unternehmen, an denen Gates beteiligt ist, einen Impfstoff finden und vermarkten wird.
Anhängerinnen und Anhängern von Verschwörungstheorien gilt dies nur als Beleg für die Raffinesse seiner Verschwörung. Einerseits wird offiziellen Quellen und erst recht Gates selbst zutiefst misstraut. Andererseits gelten aber ausgerechnet seine Angaben, die er vor laufenden Kameras macht und die auf der Webseite seiner Stiftung nachzulesen sind, als Beweise seiner »finsteren« Machenschaften.
Oberstes Ziel ist Profit
Das wesentliche Problem an dem Einfluss der Privatunternehmen wird von den Verschwörungstheorien gar nicht angesprochen. Es besteht darin, dass die WHO-Strategien auf die Bekämpfung, nicht auf die Verhinderung von Krankheiten ausgerichtet werden. Der mit Abstand wichtigste Grund für Erkrankungen ist Armut, einschließlich des mangelnden Zugangs zu sauberem Wasser, gesunder Nahrung und sanitären Einrichtungen. Gates und die Pharmaindustrie verdienen Milliarden daran, dass die WHO Diabetes und Bluthochdruck bekämpft, statt für gesunde Nahrung und Lebensverhältnisse zu sorgen. Diese grundsätzliche Ausrichtung der WHO sorgt für viel höhere Profite als die Entwicklung eines weiteren Impfstoffs – zusätzlich zu den Dutzenden anderen, die jedes Jahr vermarktet werden.
Das zweite Problem ist die Personalisierung, die auch Gruppen oder Institutionen treffen kann. Gates ist nicht der einzige Milliardär und agiert international außerdem neben mächtigen Staatsoberhäuptern, Despoten, Mafiabossen und Präsidenten auf Lebenszeit, die sich von ihm keine Vorschriften machen oder Märchen erzählen lassen. Das Problem mit der Pharmaindustrie ist nicht Bill Gates, sondern dass ihr oberstes Ziel ist, Profite zu machen, und nicht, Menschen von Krankheiten zu heilen oder sie gar davor zu bewahren. Verschwörungstheorien beißen sich an Repräsentanten eines Systems fest, sie kritisieren nicht die ganze Gesellschaftsordnung.
Konkurrenz auf dem Weltmarkt
Drittens sind Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien fast immer recht einfallslos, was die Motive der Verschwörer angeht. Immer will irgendjemand Macht und Geld und die Weltherrschaft. Daraus spricht einerseits die Angst, jemand wolle ihnen etwas wegnehmen und sie entrechten. Gleichzeitig trifft diese Vermutung zumindest insofern die Wahrheit, als dass es Unternehmen im Kapitalismus tatsächlich grenzenlos um die Vermehrung von Geld geht. Aus Geld muss zum Selbstzweck mehr Geld gemacht werden, und wenn dafür Kriege geführt werden oder der ganze Planet unbewohnbar gemacht wird. »Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten«, wie Marx schrieb.
Verschwörungstheorien gehen in der Regel davon aus, dass es um etwas anderes in der Welt gar nicht gehen kann. Auf dieser Annahme beruhte schon die Verschwörungstheorie über die vermeintlich »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« aus Rothschilds und Kommunisten. Heute greift angeblich »der Islam« nach der Weltherrschaft. In der realen Welt wollen grundsätzlich alle Unternehmen expandieren, weil sie sonst untergehen. Aber kein Unternehmen, kein Staat und keine geheime Clique wird ernsthaft die Weltherrschaft an sich reißen können wollen. Aktuell sind selbst die USA dabei, sich aus der Rolle der einzigen verbliebenen Weltmacht zu verabschieden, weil auch sie dazu zu schwach sind.
»Zerstörung der Vernunft«
Diese Probleme von Verschwörungstheorien machen sie anschlussfähig an neu-rechte und alt-faschistische Ansichten. Die Strenge, Maßlosigkeit und Brutalität des historischen Faschismus lässt leicht übersehen, dass der Faschismus nie eine große, zusammenhängende Gesellschaftstheorie hervorgebracht hat. Die abstruse und wissenschaftlich oft widerlegte Rassenlehre, die Staats- und Völkermythen sowie der damit verbundene Antisemitismus können noch am ehesten als Versuche verstanden werden, so eine Theorie zu entwickeln. Der Faschismus stützt sich auf ein Sammelsurium abstruser und halbwahrer Binsenweisheiten und Vorurteile, wie sie in Hitlers Buch »Mein Kampf« zusammengestellt sind. Große Verbreitung fanden solche Theoriegebilde in der tiefen gesellschaftlichen Krise der 1920er Jahre.
Am Vorabend der Katastrophe der faschistischen Machtübernahme in Deutschland erschraken Theoretiker wie Georg Lukács über die »Zerstörung der Vernunft« und den »schrillen« Irrationalismus, über »Unwissenheit und Konfusion« (Adorno), die aus konservativen Kreisen und der Mittelschicht heraus um sich griffen: Schädelvermessung und Charakterologie, Heldenanbetung, Faszismus, »Theosophie, Numerologie, Naturheilkunde (…) und zahllose andere Sekten«. Die gelehrigen, aber letztlich platten bürgerlichen Gesellschaftstheorien seiner Zeit verglich Lukacs mit der Kritik, »die der alten Vorstellung gegenüber, dass die Welt auf einem Elefanten stehe, die ›kritische‹ Frage aufwarf: Worauf steht der Elefant? Nachdem aber die Antwort, dass der Elefant auf einer Schildkröte stehe, gefunden war, hat sich die ›Kritik‹ beruhigt.«
»Aberglauben und Wahnsinn«
An die Macht gelangt, förderten die Nazis die Naturwissenschaften zumindest in kriegsrelevanten Bereichen. Aber das Geistesleben des Dritten Reiches war nach umfangreichen Verboten, Vertreibungen und Bücherverbrennungen von Pseudowissenschaften wie der »Rassentheorie«, von Okkultismus, Subjektivismus, »Gottglauben«, Fanatismus und Kitsch geprägt. Hitler, Himmler und andere Nazi-Granden ließen sich regelmäßig das Horoskop legen und hingen Hanns Hörbigers Welteistheorie an, die den Untergang von Atlantis und die biblische Sintflut erklären sollte. Die Hohlwelttheorie, der zufolge wir auf der Innenseite einer hohlen Kugel leben, wurde hingegen schließlich abgelehnt, weil sie eine »ausländische Vorläuferschaft« hatte. Das vorherrschende Denken war zwar penibel und akkurat, wenn es etwa um die Entwicklung des Raketenantriebs ging. Im Hinblick auf größere Zusammenhänge und tiefere Zwecke aber verfiel es in »Mythologie«, in »Aberglauben und Wahnsinn«, wie Adorno und Horkheimer schrieben.
Leo Trotzki schrieb 1933 über den in Deutschland verbreiteten Mystizismus: »Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. (…) Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! (…) Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.« Heute erkennt die radikale Rechte, wie anschlussfähig die Verschwörungstheorien auf den »Hygienedemos« an ihre Sicht der Welt sind. Ein Autor der Identitären Bewegung schreibt, bei Verschwörungstheorien handele es sich um »eine gesunde, materiell belegbare Einschätzung über den Zustand der Welt«. Daher »tendieren diese notwendig nach rechts und ins bodenständige [sic!], national-patriotische Lager.«
Personalisierung und Moralismus
Liberale Stimmen wenden gegen Verschwörungstheorien ein, dass es falsch sei, hinter allen negativen Entwicklungen Verschwörungen zu vermuten oder »die Eliten« für alles Übel in der Welt verantwortlich zu machen. Sie argumentieren personalisierend und moralistisch gegen Personalisierung und Moralismus. Beispielsweise argumentieren sie, dass Jeff Bezos, der mit seinem Unternehmen Amazon in den Wochen des Corona-Lockdown zum ersten Billionär der Menschheitsgeschichte geworden ist, kein böser Mensch sei und keine geheimen Pläne verfolge.
Das mag stimmen, und sein Vorhaben, den Einzelhandelsmarkt zu erobern, ist auch nicht geheim, sondern wird von allen seinen Konkurrenten geteilt. Es ändert aber nichts daran, dass Amazon in der Corona-Krise seine Konkurrenten in den Bankrott treibt und seinen Angestellten Hungerlöhne zahlt. Darüber regen Menschen sich auf und das tun sie zu Recht.
Linke Kritik an Verschwörungtheorien
Eine linke Kritik an Verschwörungstheorien muss an diesen realen Problemen ansetzen und konkrete Lösungsvorschläge machen. Ernsthafte Kritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Recht auf Privateigentum allgemein und nicht nur für bestimmte »dunkle Mächte« einschränken will. Eingefleischte Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien ebenso wie die Nazis richten sich hingegen nur »immer gegen eine bestimmte Art« von Unternehmern und »gegen eine bestimmte Gestalt des Kapitalismus« (Herbert Marcuse).
Den Anhängerinnen und Anhängern von Verschwörungstheorien und ihrer Suche nach Sündenböcken ist jedenfalls entschieden entgegenzutreten, wenn es um deren Erklärung der Missstände geht. Privatbesitz an Produktionsmitteln und das organisierte Chaos der allseitigen Konkurrenz reichen, um aus sich heraus ständig Konflikte, Armut, Skandale, Korruption, Irreführung der Öffentlichkeit, Mord und Totschlag und geheime Absprachen hervorzubringen. Aber einzelne Milliardäre oder Regierungen sind nicht allmächtig. Sie alle können von unten politisch unter Druck gesetzt oder vertrieben werden.
Die meisten Verschwörungstheorien stellen berechtigte Fragen. Einige wenige liefern plausible Antworten. Viele sind ein Sammelsurium weltfremder, oft rassistischer, mitunter gefährlicher Hirngespinste. Aber alle zusammen greifen sie zu kurz. Selbst die schlimmsten Fantasien der Verschwörungstheoretiker kommen nicht an den globalen Alltag des Kapitalismus heran, an das alltägliche, völlig legale Elend und die Gewalt, Überwachung und Unterdrückung, mit der Milliarden Menschen leben müssen. Das eigentliche Problem ist nicht, dass einige geheime Verschwörer sich illegal Macht und Reichtum aneignen, sondern dass eine winzige Minderheit ganz legal die Welt als ihr Privateigentum behandelt. Wer Verschwörungstheorien ein Ende setzen will, muss die Welt demokratisieren. In der marxistischen Tradition sagt man dazu: den Sozialismus erkämpfen.
Schlagwörter: Ideologie, Verschwörung