Die Streiks bei dem Online-Riesen Amazon laufen in Deutschland mittlerweile seit fünf Jahren. Über den Erfolg und Misserfolg dieser Arbeitskämpfe wird ebenso leidenschaftlich gestritten, wie über die Sinnhaftigkeit der Streikstrategie, die ver.di bei Amazon anwendet. Doch die Streiks wirken. Von Nils Böhlke
Amazon ist das wichtigste Unternehmen des Internet-Handels und mittlerweile in zahlreichen Teilbranchen Marktführer. Der Besitzer, Jeff Bezos, ist seit Kurzem der reichste Mensch der Erde. Sein geschätztes Privatvermögen beträgt etwa 150 Milliarden US-Dollar. Dem stehen weltweit mehr als eine halbe Millionen Beschäftigte gegenüber, von denen nicht Wenige Einkommen am Existenzminimum beziehen.
Begonnen hat das Unternehmen als reiner Buchhandel und expandiert seit seinem Bestehen sukzessive in andere Teilbranchen des Handels. Im Jahr 2018 übernimmt Amazon beispielsweise die Marktführerschaft unter den Baumärkten in Deutschland und will zunehmend auch in die Belieferung von frischen Lebensmitteln einsteigen. Gleichzeitig hat sich das Unternehmen nicht nur Lizenzrechte für Radioübertragungen der Fußball-Bundesligaspiele, sondern auch für Liveübertragungen gekauft.
Arbeitsbedingungen bei Amazon
Dieser Erfolg wird auf dem Rücken der Beschäftigten erzielt. Die Arbeitsbedingungen im Konzern sind miserabel und die Bezahlung liegt unterhalb des Tarifvertrages für den Einzel- und Versandhandel. Entgegen anderslautender Berichte bezahlt Amazon auch nicht nach dem schlechteren Logistiktarifvertrag. Vielmehr lehnt Amazon Verhandlungen mit Gewerkschaften und damit auch Tarifverträge grundsätzlich ab – und das weltweit. Die Orientierung an der Logistikbranche wird auch nur dort hochgehalten, wo schlechter bezahlt wird. In den USA sind die Tariflöhne im Handel niedriger als in der Logistikbranche, weshalb Amazon dort von sich behauptet, dass sie sich an den Löhnen im Handel orientierten.
Aus zwei Gründen hat ver.di-Chef Frank Bsirske die Arbeitskämpfe bei Amazon zu einer „grundsätzlichen Auseinandersetzung“ für die Gewerkschaft erklärt: einerseits damit die Haltung, nicht mit Gewerkschaften verhandeln zu wollen, keine Schule macht und andererseits weil der gnadenlose Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel, der durch Tarifflucht vorangetrieben wird, auch die tarifgebundenen Unternehmen unter Druck setzt. Damit wird schlussendlich auch der Flächentarifvertrag infrage gestellt. Entgegen der ideologischen Grundhaltung eines Marktführers, nicht mit Gewerkschaften zu sprechen, muss sich eine auf Sozialpartnerschaft ausgerichtete Gewerkschaft mit Vehemenz stellen, wenn sie nicht ihre eigene Existenz infrage stellen will.
Streiken bei Amazon: aber wie?
Wesentlicher Hebel für erfolgreiche gewerkschaftliche Arbeit war die direkte Ansprache der Kolleginnen und Kollegen. Beispielsweise in Rheinberg fuhr die zuständige Sekretärin über Monate regelmäßig mit den Beschäftigten zusammen im öffentlichen Bus zum Lager, um sie von einer Mitgliedschaft bei ver.di zu überzeugen. Dies zeigte Früchte. Heute sind es die Vertrauensleutestrukturen in Unternehmen, die die Basis für erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit legen.
Dagegen haben Gewerkschaftssekretäre bei Amazon keine Zugangsrechte und können nicht in den Lagerhallen für den gemeinsamen Kampf werben. Deshalb braucht es aber auch eine gemeinsame Koordinierung der Arbeit durch die Vertrauensleute auf Bundesebene bei regelmäßigen Treffen. Dabei wird auch die Streikstrategie und das weitere Vorgehen geplant. Erst dadurch kann diese Tarifbewegung den langen Atem beweisen, der in dieser Auseinandersetzung notwendig ist.
Es ist absehbar, dass der Tarifvertrag bei Amazon kurzfristig nicht zu erreichen sein wird. Deshalb braucht dieser Tarifkampf eine langfristige Strategie mit vielen Zwischenschritten. In keinem der Lager in Deutschland nimmt bislang eine Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen an den Streiks teil und auch nur in der Hälfte der Lager wird tatsächlich gestreikt. Solange dies der Fall ist, wird ein längerer Vollstreik kaum Wirkung erzielen. Einerseits können Waren aus unterschiedlichen Lagern im In- und Ausland geordert werden, wenn sie durch einen Streik aus einzelnen Lagern nicht geordert werden können und andererseits besteht die Möglichkeit durch den Einsatz von Aushilfskräften als Streikbrecher die Wirkung des Streiks zu minimieren.
Verschiedene Streikformen für bessere Arbeitsbedingungen
Deshalb setzt die Gewerkschaft derzeit auf eine Nadelstichtaktik. Möglichst kurzfristig soll bei hohen Auslastungen in einzelnen Lagern gestreikt werden. An bestimmten Tagen wie beispielsweise bei der Herausgabe des Computerspiels FIFA wird auch bundesweit an allen Streikstandorten gemeinsam gestreikt.
Zudem werden unterschiedliche Streikformen ausprobiert. So wird mittlerweile in mehreren Lagern aus dem laufenden Betrieb heraus gestreikt. Das bedeutet, dass zu einer verabredeten Uhrzeit die Vertrauensleute durch die Lager laufen und mit Trillerpfeifen dazu aufrufen, sofort alles stehen und liegen zu lassen und die Arbeit niederzulegen. Wenn dies mehrfach erfolgreich angewendet worden ist, finden ebenfalls sogenannte Rein-Raus-Streiks statt. Die Kolleginnen und Kollegen verlassen dabei aus dem laufenden Betrieb heraus das Lager, kehren aber nach wenigen Stunden ins Lager zurück, wenn sich das Management gerade darauf eingestellt hat, dass Waren von anderen Lagern geordert werden oder Beschäftigte, die eigentlich frei hätten, für Zuschläge zum Streikbruch gerufen worden sind. Die Rückkehr der streikenden Kolleginnen und Kollegen sorgt dann für ein erneutes Chaos im Lager. Wenn dieses dann wieder einigermaßen aufgelöst wurde, treten die Kolleginnen und Kollegen erneut in den Streik.
An einigen Tagen, an denen in den vergangenen Jahren traditionell gestreikt wurde – wie beispielsweise in der Weihnachtszeit – wird teilweise bewusst nicht gestreikt, weil der Arbeitgeber in Erwartung eines Streiks bereits frühzeitig massiv Aushilfen als Streikbrecher eingestellt hat. Wenn dann doch nicht gestreikt wird, gibt es nicht genügend Arbeit für alle Anwesenden und die Löhne müssen selbstverständlich dennoch gezahlt werden.
Die Streiks wirken
All diese Streikformen haben dazu beigetragen, dass das Selbstbewusstsein und die Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen gestiegen ist. Insgesamt engagieren sich deswegen mehr Beschäftigte in den Lagern und werden auch Mitglied.
Sie konnten aber noch nicht dazu führen, dass tatsächlich ein Tarifvertrag durchgesetzt werden konnte. Dies führt dazu, dass es immer wieder Diskussionen gibt, ob ver.di bei Amazon eigentlich erfolglos streikt und letztlich eine verlorene Auseinandersetzung nur hilflos weitergeführt wird. Dabei sind durchaus zahlreiche Erfolge festzustellen. So sind die Löhne und Gehälter in den Jahren seit dem Beginn der Streiks sukzessiv angestiegen und liegen heute in den Grundgehältern nur noch knapp hinter dem Tarifvertrag des Einzel- und Versandhandels. Wirklich signifikant niedrigere Löhne und Gehälter gibt es nur noch aufgrund der fehlenden Zuschläge und der verminderten Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich in vielerlei Hinsicht verbessert. Pausenzeiten werden so gestaltet, dass es sich auch tatsächlich um Pausen handelt und extreme Formen der Überwachung konnten eingestellt werden.
Dass es trotzdem noch ein langer Weg ist, steht außer Frage. Deshalb werden die Streiks zunehmend international geführt: So haben in diesem Jahr erstmals auch spanische Beschäftigte an den Streiks beteiligt und auch gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland gestreikt. Ähnliche gemeinsame Streiktage gab es auch bereits mit den polnischen Gewerkschaften. Dieser Weg muss verstetigt werden und der Aufbau in den Lagern muss weiter so erfolgreich sein wie im vergangenen Jahr. Dabei darf nie vergessen werden, welch harte Arbeit bei den engagierten Kolleginnen und Kollegen erforderlich ist, um diesen Kampf erfolgreich weiterzuführen.
Foto: marcoverch
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