Während der Atommüllberg täglich weiter wächst, ist nach wie vor unklar, wer für die Folgekosten aufkommt. Hubertus Zdebel erklärt, warum bislang noch jede Bundesregierung den Konflikt mit den Atomkonzernen gescheut hat.
Am 11. März 2011 beginnt in den vier Reaktoren des Atomkraftwerks in Fukushima ein mehrfacher Super-GAU. Nach dem Versagen der Kühlung in mehreren Reaktorblöcken kommt es zur Kernschmelze. Explosionen zerreißen die Sicherheitsbehälter, die radioaktive Strahlung gelangt nach draußen. Mehr als 200.000 Menschen müssen vor der radioaktiven Wolke fliehen. Heute sind noch immer große Gebiete verstrahlt und gesperrt, immer wieder dringt Radioaktivität an die Umwelt und ins Meer. Noch mindestens vierzig Jahre werden die Aufräumarbeiten dauern.
In Deutschland reagierte die Regierung damals mit einer Kehrtwende in der Energiepolitik. Gerade erst war trotz massiver Proteste eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Reaktoren beschlossen worden. Nun wurden acht Meiler sofort und endgültig abgeschaltet. Die anderen neun sollen schrittweise bis Ende 2022 folgen. Doch der Kampf für den Atomausstieg und um die Frage, wer für die Kosten aufkommt, ist noch lange nicht vorbei.
Der Atommüllberg wächst Tag für Tag weiter
Bislang ist kein einziges Gramm der Hunterttausenden Tonnen radioaktiven Abfalls, der noch für eine Million Jahre sicher verwahrt werden muss, schadlos entsorgt. Alle Versuche, einen sicheren Ort für die Lagerung des Atommülls zu finden, sind gescheitert. Die als Endlager vorgesehene Atommüllkippe »Asse II« ist einsturzgefährdet. Die Standorte »Schacht Konrad« und der Salzstock Gorleben sind ebenfalls völlig ungeeignet. DIE LINKE fordert, diese schwer konflikt- und mängelbelasteten Projekte endlich aufzugeben. Bundesregierung und Atomwirtschaft versuchen hingegen, den Eindruck zu erwecken, sie hätten alles im Griff, um den weiteren Betrieb der Atomkraftwerke zu legitimieren. So wächst der Atommüllberg Tag für Tag weiter.
Schon heute ist klar, dass die Lagerung des radioaktiven Materials sowie der Rückbau der Atomkraftwerke viele Milliarden Euro kosten werden. Gesetzlich sind zwar die Atomkonzerne verpflichtet, die von ihnen verursachten Kosten zu übernehmen. Zu diesem Zweck haben sie mit erheblichen Steuervorteilen offiziell Rückstellungen in Höhe von etwa 38 Milliarden Euro vorgenommen. Ob die Gelder aber tatsächlich verfügbar sind, ist unklar. Denn die Konzerne nutzten diese Rückstellungen für ihre gescheiterten Investitionen nach der Liberalisierung der Strommärkte. Vattenfall kaufte mit den Rückstellungen der damaligen Hamburgischen Electricitäts-Werke die Berliner BEWAG und die ostdeutsche Braunkohle. Eon und RWE finanzierten aus dieser Kasse ihre Beutezüge in Ost- und Südeuropa.
Die Atomkonzerne wollen sich aus dem Staub machen
Jetzt, wo sie wegen dieser Fehlspekulationen enorme Schuldenberge aufgebaut haben, wollen sich die Atomkonzerne aus dem Staub machen. Zudem belaufen sich die Kostenschätzungen für die langfristige Atommülllagerung mittlerweile auf siebzig Milliarden Euro und übersteigen damit die Höhe der Rückstellungen bei weitem. Es ist also zu befürchten, dass am Ende die Allgemeinheit die immensen Kosten des atomaren Wahnsinns tragen muss.
Um genau das zu erreichen, bemühen sich die großen Energiekonzerne durch Umstrukturierungen ihrer Verantwortung zu entziehen. Ausgründungen der Atomenergiesparten in Tochtergesellschaften sollen nach dem Prinzip einer »Bad Bank« sicherstellen, dass im Fall einer Insolvenz der Staat mit Steuergeldern aushelfen müsste. Vattenfall hat bereits dafür gesorgt, dass der schwedische Mutterkonzern nicht mehr für das deutsche Atomgeschäft haftbar ist. Auch der deutsche Energiekonzern Eon plante zu Beginn des Jahres, sein zunehmend unprofitables Atom- und Kohlegeschäft in eine eigene Gesellschaft abzuspalten, und verkaufte dies auch noch dreist als Neuausrichtung auf erneuerbare Energien.
Die Regierung scheut den Konflikt mit der Atomindustrie
Um die Unternehmen nicht vollkommen aus der Verantwortung zu entlassen, kündigte die Bundesregierung daraufhin eine gesetzliche Neuregelung der Haftungssicherung an. Diese wurde jedoch, vor allem aufgrund von Druck aus den Unionsparteien, nach wie vor nicht verabschiedet. Außerdem verhindert die Regelung nicht, dass die Reaktoren Teil des Mutterkonzerns bleiben, aber große Vermögenswerte aus dem Unternehmen ausgegliedert werden, die dann nicht mehr zur Haftung herangezogen werden können – so wie es der neue Plan von Eon vorsieht.
Der einzige Weg, um sicherzustellen, dass die Konzerne, die mit der Atomkraft jahrelang Milliardenprofite gemacht haben, auch für die Rechnung aufkommen, wäre die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Atommüllfonds. Das fordert DIE LINKE seit Jahren, doch bislang hat noch jede Regierung den Konflikt mit den Atomunternehmen gescheut. Selbst jetzt, da immer fraglicher wird, ob die Rückstellungen der Konzerne überhaupt noch verfügbar sind und wie diese die wachsenden Kosten in Zukunft bezahlen können, ist die Bundesregierung immer noch mit Prüfungen beschäftigt, anstatt endlich zu handeln.
Ein weiteres Milliardengeschenk an die Konzerne
Gleichzeitig plant die Große Koalition noch in diesem Jahr ein weiteres großzügiges Steuergeschenk für die Atomindustrie: Ende 2016 soll die Brennelementesteuer, nur sechs Jahre nach ihrer Einführung, wieder abgeschafft werden. Damit würde die Bundesregierung den Konzernen pro Reaktor und Jahr durchschnittlich 144 Millionen Euro schenken. Bei den laut Atomgesetz verbleibenden Laufzeiten der acht derzeit noch aktiven Atommeiler sind dies insgesamt etwa fünf Milliarden Euro. Dadurch würden die alten Reaktoren wieder satte Gewinne abwerfen.
Bei ihrer Einführung im Jahr 2010 sollte die Brennelementesteuer dazu dienen, einen Ausgleich für die zeitgleich beschlossene Laufzeitverlängerung der damals noch siebzehn deutschen Reaktoren zu schaffen. Von einer »Steuer« zu sprechen, sei dabei eigentlich »irreführend«, erläuterte damals selbst die CDU: »Es handelt sich im Wesentlichen (…) um einen Subventionsabbau.« Ziel sei es, »die direkte Bevorzugung der Kernenergiewirtschaft« zu beenden. An diesen Gründen hat sich bis heute nichts geändert. Dennoch steht die Brennelementesteuer vor dem Aus.
Kernenergie ist die teuerste Stromsorte
Die massive Subventionierung der Atomenergie hat eine lange Geschichte: Eine Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft errechnete für den Zeitraum 1950 bis 2010 Atomsubventionen in Höhe von mindestens zweihundert Milliarden Euro. Darin ist die im Vergleich zu den Risiken lächerlich geringe Haftpflichtversicherung der Atomkraftwerke, die den Betreibern extrem teure Versicherungsprämien erspart, noch nicht einmal berücksichtigt.
Nur durch die milliardenschweren staatlichen Zuschüsse war es überhaupt möglich, Atomkraftwerke mit hohen Gewinnen zu betreiben. Denn volkswirtschaftlich ist die Kernenergie die teuerste Stromsorte. Nur weil Entwicklungs- und Forschungsarbeiten, der Unterhalt der Atommülllager und vieles mehr aus Steuergeldern bezahlt werden, rechnen sich die nuklearen Reaktoren für die großen Stromkonzerne.
Deutschland will Atommacht auf Abruf sein
Der Grund für die staatliche Förderung der Kernenergie war, dass Deutschland dadurch international als Atommacht auf Abruf mitspielen konnte. Zivile Nuklearprogramme eröffnen die Möglichkeit, Atomkraft auch militärisch zu nutzen. Diese Option trug in der Frühphase der Geschichte der Bundesrepublik maßgeblich zur Entscheidung für Atomkraftwerke bei. Zwar gab Kanzler Konrad Adenauer schon 1954 bekannt, dass die Bundesrepublik auf eine eigene Atombewaffnung verzichten würde. Doch in größeren Teilen der deutschen Eliten galt als ausgemacht, dass die militärischen Nuklearkapazitäten wesentlich sind, um weltpolitisch eine Rolle zu spielen. Diese militärische Option war der Grund für den weiteren Ausbau des deutschen Atomprogramms.
Der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß, in den Jahren 1955/56 Minister für Atomfragen und danach Verteidigungsminister, machte kaum einen Hehl daraus, daß es darum ging, die neuaufgestellte Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten. Er sagte: »Wenn wir unseren zehn- bis fünfzehnjährigen Rückstand nicht sehr rasch aufholen, werden wir wahrscheinlich darauf verzichten müssen, in Zukunft zu den führenden Nationen gezählt zu werden.«
Die Urananreicherung ist Deutschlands Griff zur Atombombe
Im Juli 1956 stellte Strauß einen Gesetzentwurf zur »Erzeugung und Nutzung der Kernenergie« vor. Im Jahr 1960 beschloss die Regierung schließlich das erste deutsche Atomgesetz. Inoffiziell war damit der Startschuss zu einem »Stand-by-Programm« gefallen: einem »zivilen« Atomentwicklungsprojekt, bei dem aber eben auch waffenfähiges Material abfällt und das mit Milliarden gefördert wurde. Ein solches Programm kann in kürzester Zeit auf die Produktion nuklearer Rüstung umgestellt werden.
Seit Mitte der 1980er Jahre ist die Urananreicherungsanlage in Gronau in Betrieb, an der die Energieriesen RWE und Eon beteiligt sind. Diese Anlage ist Deutschlands Griff zur Atombombe. Seitdem ist die Bundesrepublik theoretisch nicht mehr auf die »zivile« Nutzung der Atomkraft angewiesen, um Nuklearwaffen herzustellen, denn die Technik ist grundsätzlich auch in der Lage, das spaltbare Uran235 derart hoch anzureichern, dass es sich für die Herstellung von Atomwaffen eignet. Wie brisant die Urananreicherungstechnik ist, erklärte Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2007 gegenüber dem »Handelsblatt«: »Die Urananreicherung ist ein klassischer Weg, um nuklearen Brennstoff herzustellen. Diese aufwändige Technologie ist aber auch der Schlüssel zu Atomwaffen.«
Rot-Grün hat die Macht der Energieriesen nicht angetastet
Der über Jahrzehnte gewachsene »deutsche Atomfilz« aus Politik und Konzernen sorgte dafür, dass die Milliardensubventionen an die Atomkonzerne weitergingen. Auch die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder, die mit der Novellierung des Atomgesetzes 2002 den stufenweisen Ausstieg aus der Kernenergie beschloss, ist Teil dieses Filzes. Sie hat die Macht der Energieriesen nicht angetastet. Nicht nur, dass der von den Grünen so gefeierte »Atomkonsens« den Konzernen den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken für über zehn Jahre sicherte und ihnen ermöglichte, noch einmal so viel Atomstrom zu erzeugen wie seit 1968. Das Gesetz ließ auch genügend Hintertürchen offen, um die Laufzeiten im Nachhinein wieder zu erhöhen und die Konzerne aus der Verantwortung für die Folgekosten zu nehmen.
Damit trägt die damalige rot-grüne Koalition eine direkte Mitverantwortung für das heutige Desaster. Sowohl der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer als auch der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) arbeiteten nach ihrem Ausscheiden aus der Politik für den RWE-Konzern. Mit dessen ehemaligem Chef Jürgen Grossmann traf sich schon Gerhard Schröder gerne im Kanzleramt zu Skatrunden.
Die größten Proteste seit den 1980er Jahren
Doch selbst der faule Deal des »Atomkonsens« hielt nicht lange. Schon 2007 kündigten die Konzerne die Vereinbarungen faktisch auf. CDU und FDP, die ab 2009 im Bund regierten, übernahmen deren Forderung nach einer Laufzeitverlängerung für die Atommeiler. Die Proteste der Antiatombewegung waren heftig. Während im September 2009 rund 50.000 Menschen in Berlin demonstrierten, waren im April 2010 bei der 120 Kilometer langen Menschenkette zwischen den norddeutschen Meilern Brunsbüttel und Krümmel schon 120.000 auf der Straße. Der Widerstand gegen eine Verlängerung des Atomprogramms radikalisierte sich. Im Wendland demonstrierten so viele Menschen wie seit den 1980er Jahren nicht mehr. Tausende beteiligten sich am »Schottern« auf der Castor-Strecke. Dennoch beschloss die Bundesregierung nach langen Auseinandersetzungen im Herbst 2010 Laufzeitverlängerungen von acht bis vierzehn Jahren für die Atommeiler.
Doch der Widerstand hielt an. Am 12. März 2011, einen Tag nach der Katastrophe von Fukushima und wenige Tage vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg, nahmen erneut 60.000 Menschen an einer Menschenkette teil, diesmal zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim und der Landeshauptstadt Stuttgart.
100.000 umzingeln das Regierungsviertel
Die schwarz-gelbe Bundesregierung kassierte die Quittung für ihre Atompolitik. In Baden-Württemberg wurden die Grünen zur stärksten Kraft, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gab es eine grün geführte Landesregierung. Überall in Deutschland demonstrierten Menschen. Die Antiatombewegung organisierte am Tschernobyl-Jahrestag im April 2011 – nur wenige Wochen nach dem Super-GAU in Japan – zeitgleich zwanzig Großdemonstrationen mit mehreren Hunderttausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Nur rund sechs Monate nach dem Beschluss zur Laufzeitverlängerung, der für die zu diesem Zeitpunkt schon kriselnden Atomkonzerne Milliardeneinnahmen bedeutete, erklärte Bundeskanzlerin Merkel zunächst ein Moratorium für den Betrieb der Reaktoren. Im Juni, als über 100.000 Menschen mit einer Großdemonstration das Berliner Regierungsviertel umzingelten, beschlossen Union, FDP, SPD und Grüne, die Laufzeitverlängerung zurückzunehmen, acht Atomkraftwerke sofort stillzulegen und schrittweise bis Ende 2022 die verbleibenden neun Meiler zu schließen. DIE LINKE und die Antiatombewegung kritisierten dies als unzureichend. Denn in jedem der deutschen Atomkraftwerke ist jederzeit ein Super-GAU möglich.
Atomausstieg: Wer zahlt die atomare Zeche?
Sowohl die Katastrophen von Fukushima und von Tschernobyl, dessen Super-GAU sich im April zum dreißigsten Mal jährt, als auch die bis heute ungelöste Frage der Lagerung der hochradioaktiven Strahlenabfälle zeigen nicht nur den Wahnsinn der Atomenergie. Sie zeigen auch, wie mächtig die Stromkonzerne immer noch sind, und wie sehr sie von den politischen Machteliten unterstützt werden. Es braucht weiterhin einen langen Atem, um diese Macht zu brechen. Den Konzernen muss der Weg abgeschnitten werden, sich aus der Verantwortung für die Kosten ihres atomaren Erbes zu stehlen. Die Entsorgungsrückstellungen der Energiekonzerne müssen in einen öffentlich-rechtlichen Fonds mit Nachschusspflicht überführt werden, in den die Unternehmen einzahlen und auch künftig bei Kostensteigerungen nachzahlen, um das Geld vor Spekulationen zu schützen und für Atommüllfolgekosten zu sichern. Die atomare Zeche müssen diejenigen zahlen, die jahrzehntelang die wirtschaftlichen Vorteile eingefahren haben.
Zur Person:
Hubertus Zdebel ist Abgeordneter und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Umweltausschuss des Bundestags.
Foto: seven_resist
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