In der feministischen Diskussion über Prostitution ist heute oft von »Abschaffung der Prostitution« oder auch »Abolitionismus« die Rede. Während heutige »Abolitionistinnen« für ein Sexkaufverbot eintreten, stand die Gründerin der abolitionistischen Bewegung, die englische Frauenrechtlerin Josephine Butler, für eine völlig andere Politik. Ein Rückblick von Rosemarie Nünning und Diana Swingler
Der »Abolitionismus« geht zurück auf die Internationale Abolitionistische Föderation, die im Jahr 1875 von der britischen Feministin Josephine Butler ins Leben gerufen wurde. Der Begriff Abolitionismus (Abschaffung) knüpfte bewusst an die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in den USA an. Damals wurde in Großbritannien die Geltung des Seuchengesetzes, das im Jahr 1864 zunächst nur für Hafenstädte eingeführt worden war, auf die gesamte Zivilbevölkerung ausgeweitet.
Eine der ersten erfolgreichen Kampagne für Frauenrechte
Als Antwort darauf entstand eine der ersten erfolgreichen Kampagne für Frauenrechte in der Geschichte Großbritanniens. Von dieser können wir heute noch einiges lernen , wenn es um den Kampf der Frauen für das Recht auf Kontrolle ihres Körpers geht.
Mit dem Seuchengesetz (Contagious Deseases Acts, CDAs), sollten sexuell übertragbare Krankheiten, insbesondere die Syphilis, unter Kontrolle gebracht werden, weil sie zu einem hohen Krankenstand bei Armee und Marine führten. Die damit verbundenen Maßnahmen richteten sich aber nie gegen die Soldaten, sondern gegen die Frauen, mit denen sie möglicherweise Sex haben könnten, und die medizinischen Zwangsuntersuchungen unterzogen wurden.
Die Doppelmoral der Bourgeoisie
Als besonders deutliches Beispiel für die Doppelmoral der Bourgeoisie galt es als selbstverständlich, dass Männer im Staatsdienst, die von zu Hause entfernt arbeiten mussten, die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen dürften, während für Prostituierte gehaltene Frauen als minderwertig galten und diskriminiert wurden.
Prostitution war weit verbreitet
Die Anzahl der Prostituierten variierte von Ort zu Ort je nach Arbeitsmöglichkeiten für Frauen, die Geld verdienen mussten, um zu überleben. In Städten, in denen überwiegend nur die sehr schlecht entlohnten Tätigkeiten als Dienstmädchen oder Verkäuferin zur Verfügung standen, war sie entsprechend höher. Nach einer damaligen Schätzung des Fachjournals für Medizin, The Lancet, arbeitete eine von 16 Frauen in London auf die ein oder andere Weise als Prostituierte. Der Anteil war niedriger in Industriestädten, wo Frauen in großer Zahl in Fabriken beschäftigt wurden.
Der Abolitionismus und die Repression gegen Frauen
Die Gesundheitsämter setzten Zivilpolizisten darauf an, Prostituierte aufzuspüren, sie zu registrieren und zwangsweise zweiwöchentlichen gynäkologischen Untersuchungen zuzuführen. Wurde eine sexuell übertragbare Krankheit festgestellt (wobei es häufig Fehldiagnosen gab), wurde die Frau für neun Monate in ein Krankenhaus mit einem harten Gefängnisregime gesperrt. Im Jahr 1869 wurde dies auf ein ganzes Jahr ausgedehnt. Frauen wurden regelrecht über Nacht weggesperrt, ohne Rücksicht auf ihre Kinder oder andere von ihnen abhängige Familienangehörige. Jede registrierte Frau musste einen Schein von der letzten Untersuchung vorweisen, als Bestätigung dafür, dass sie »sauber« war. Hatte eine Frau der gynäkologischen Untersuchung zugestimmt, galt das als Eingeständnis der Prostitution. Sie wurde registriert und musste sich der vierzehntäglichen Untersuchung unterziehen. Eine Verweigerung der Zustimmung führte nicht selten zu Gefängnishaft.
Abolitionismus: Die Bewegung erhält Zulauf
Unter diesen Bedingungen war es kein Zufall, dass auch eine große Anzahl von Arbeiterinnen an der Kampagne für die Aufhebung des Gesetzes teilnahm. Sie strömten in die Versammlungen und berichteten von den Polizeischikanen. Jede Frau lief Gefahr, aufgegriffen zu werden, wenn sie in den ärmeren Gegenden der Stadt unterwegs war und »zu bunte Kleidung« trug, oder weil jemand sie denunziert hatte. Mit Beginn der Kampagne wurden die Aktivistinnen ebenfalls zur Zielscheibe der Polizei. Das wiederholte sich ein paar Jahrzehnte später, als die Suffragetten, die für das Frauenwahlrecht kämpften, ins Gefängnis geworfen und misshandelt wurden.
Medizinische Zwangsuntersuchungen
Die gynäkologische Untersuchung selbst war schon schiere Misshandlung. Sie wurde an den sich sträubenden, ohnehin als minderwertig betrachteten Frauen häufig mit nicht sterilisierten Instrumenten durchgeführt. Laut Zeugnis einer Frau auf einer Veranstaltung war sie in eine Körperhaltung gezwungen worden, die »ekelhaft und schmerzhaft war […], dann benutzten sie dieses monströse Instrument, oft mehrfach. Als wärest du Vieh, völlig gefühllos.« Auch schwangere Frauen wurden von der Prozedur nicht ausgenommen und in einigen Fällen kam es wegen der Untersuchung zu Fehlgeburten. Frauen berichteten auch von Belästigungen der Polizei und Amtsärzte. Viele Frauen setzten alles daran, dieser Tortur zu entgehen, manche begingen sogar Selbstmord.
Josephine Butler und die Kampagne gegen das Seuchengesetz
Es war Josephine Butler, die die Kampagne gegen das Seuchengesetz ins Leben rief. Sie stammte aus einer vornehmen Familie christlicher Reformer. Ihr Vater, Lord Grey, war Gegner der Sklaverei. Butler war sehr religiös, aber nonkonformistisch und empörte sich über das Schicksal der Prostituierten – Frauen, denen ihrer Ansicht nach die Möglichkeit verweigert wurde, zu einem anständigen Leben in Gottes Hand zurückzukehren. Von vielen ihrer liberalen Freundinnen und Freunde wurde sie geächtet, weil sie überhaupt in der Öffentlichkeit über solch ein Thema sprach. In der Presse wurde sie verhöhnt und von einem angesehenen Parlamentsmitglied als »schlimmer als eine gewöhnliche Prostituierte« geschmäht. Veranstaltungen, auf denen sie sprach, wurden sogar angegriffen.
Die Aufhebung des Gesetzes
Auf diesen Veranstaltungen sprach Josephine Butler über das Schicksal einfacher Frauen, die sich aus purer Not prostituierten. Sie sagte, das Seuchengesetz degradiere Frauen zu »einem Stück menschlichen Fleisch, das untersucht und dem ein Schild angeheftet wird, um dann von der Regierung auf den öffentlichen Markt geworfen zu werden«. Während der gesamten Kampagne betonte sie, dass nur durch Hebung des Lebensstandards der Frauen der Arbeiterklasse dieser Viehmarkt beendet werden könnte. Butler überzeugte einige Mitglieder ihrer eigenen Klasse davon, der Kampagne zur Aufhebung des Gesetzes beizutreten, aber insgesamt musste sie Unterstützung außerhalb der traditionellen liberalen Reformkomitees suchen. Sie sprach vor Soldaten und Arbeitern und zog Hunderte Arbeiterinnen bei ihren Veranstaltungen an, die sie in Großbritannien und Europa organisierte. Weil das Gesetz auf so breite Ablehnung stieß, wurde es im Jahr 1886 schließlich aufgehoben. Friedrich Engels schrieb damals an August Bebel: «Es war das einzig Gute, was diese social purity Leute [die Sittlichkeitsbewegung] getan haben, dagegen zu agitieren.«
Die Repression geht weiter
Bald darauf flammte allerdings nach Sensationsberichten in der bürgerlichen Presse eine von Butler organisierte Kampagne gegen die »Weiße Sklaverei« auf, womit das Verschieben von Mädchen in die Prostitution unter anderem nach Südamerika gemeint war. Das Strafrecht wurde um Paragrafen zur Eindämmung der Jugendprostitution ergänzt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde auch männliche Homosexualität unter Strafe gestellt. Auf Grundlage dieses Gesetz wurde der Schriftsteller Oscar Wilde später zu zweijähriger Zwangsarbeit verurteilt. Butler war ein Bündnis mit den reaktionärsten Kräften der »Sittlichkeitsbewegung« eingegangen.
Abolitionismus in Deutschland
Ende des 19. Jahrhunderts gründeten auch in Deutschland Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung Abolitionistinnen-Vereine. Angesichts der in den wachsenden Industriestädten sichtbar werdenden Armutsprostitution wurde Anfang des 18. Jahrhunderts in Berlin bereits die Überwachung der Prostitution durch die Sittenpolizei eingeführt, später auf ganz Preußen ausgeweitet und seit der Gründung des deutschen Nationalstaats im Jahr 1871 im Reichsstrafgesetzbuch verankert. Prostitution war demnach als Gewerbe erlaubt, aber polizeilicher Kontrolle unterworfen. Die Abolitionistinnen kritisierten die bürgerliche Doppelmoral, den Männern, aber nicht den Frauen vorehelichen Geschlechtsverkehr zu gestatten, indem Prostitution staatlich als Gewerbe anerkannt werde. Sie lehnten die Reglementierung strikt ab.
Sozialdemokratie gegen staatliche Regulierung und Repression
Auch die damalige Sozialdemokratie trat entschieden gegen staatliche Regulierung und Repression auf. Als im Jahr 1892 ein Gesetz vorgelegt wurde, nach dem Zuhälter bestraft, Prostituierte in »Toleranzhäusern« (Bordellen) kaserniert und »unzüchtige« Schriften und Darstellungen verboten werden sollten, griff August Bebel im Reichstag die polizeiliche Willkür an, die mit Verabschiedung des Gesetzes noch zunehmen würde:»Sie haben der Polizei eine Gewalt gegeben, die in vielen Fällen auf die ärgste Weise gemißbraucht wird. […] wenn es […] möglich ist, daß die Polizei jede Frau, die in einer späten Stunde auf der Straße allein geht und die, vielleicht mal durch einen neugierigen Blick auf einen Vorübergehenden, sich bemerklich macht, aufgreifen kann unter dem Verdacht, eine Prostituierte vor sich zu haben, sie nach der Polizei, in Haft schleppen und sie dort sofort einer ärztlichen Untersuchung unterwerfen lassen kann, dann ist das eine außerordentlich gefährliche Gewalt. [Es] werden von Seiten der Polizei erst recht Razzias angestellt werden, man wird erst recht suchen, Mädchen und Frauen ausfindig zu machen, die, als nicht der Reglementirung unterworfen, der Prostitution nachgehen, um sie der entsprechenden Strafe zu unterwerfen.«
Konservative Abolitionistin gegen Klassenjustiz
Die eher konservative Abolitionistin Anna Pappritz kritisierte »das polizeiliche Regime mit seinen Missgriffen« als »ungerechte Klassenjustiz«. Pappritz und andere Abolitionistinnen lehnten Bordelle als Einrichtungen der Ausbeutung durch die Betreiber ab, traten aber dafür ein, dass Frauen sich mit ihren Kunden in hygienischen Umständen in geschlossenen Räumen treffen konnten.
In Meyers Großem Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1905 heißt es über die Abolitionistinnen: »Obigen Bestrebungen (der Reglementierung) gegenüber steht der Abolitionismus, der die besondern Zwangs- und Strafbestimmungen verwirft und der Prostitution volle Freiheit geben will, solange sie nicht gegen die allgemeinen Gesetze verstößt.«
Die heutigen »Abolitionistinnen«
Die heutigen »Abolitionistinnen« stehen ganz im Gegensatz dazu in der Tradition der Repression. So wie SPD-Ministerin Manuela Schwesig, die mit ihrem angeblichen »Prostitutiertenschutzgesetz« zurückkehrt zu Registrierung und Überwachung der Prostituierten. Die Betroffenen sollen sich künftig alle zwei Jahre behördlich anmelden, müssen jederzeit ihre Anmeldebescheinigung mit sich führen und zahlen Bußgeld bis zu 1.000 Euro, wenn sie »illegal« arbeiten und dabei aufgegriffen werden. Oder wie Alice Schwarzer, die sogar wieder die zwangsweise medizinische Untersuchung von sich prostituierenden Frauen fordert. Die Geschichte der »Abolitionistinnen« zeigt, dass die Gründerin der abolitionistischen Bewegung, die englische Frauenrechtlerin Josephine Butler, für eine völlig andere Politik stand.
Damals wie heute kann linke Politik bezüglich Prostitution nicht Ruf nach Repression heißen, sondern muss gegen Diskriminierung und Kriminalisierung der Betroffenen auftreten und für Verhältnisse kämpfen, in denen sich keine Frau prostituieren muss.
Auf marx21.de eröffneten wir die Debatte mit dem Beitrag von Katharina Sass. Sie meint: »Ein Sexkaufverbot stärkt die Stellung der Prostituierten«. Darauf antwortete Rosemarie Nünning. Ihre These: »Verbote verschieben Prostitution nur in den Untergrund, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen«. Hier findest du eine erneute Antwort von Katharina Sass und den Replik von Rosemarie Nünning. Was denkst du? Sollten wir als Linke für ein Verbot von Sexkauf eintreten?
Was ist deine Meinung?
Beteilige dich online an der Debatte via Facebook oder sende deinen Beitrag per E-Mail an redaktion@marx21.de. Oder schreibe uns per Post: marx21 – Magazin, Postfach 44 03 46 12003 Berlin. Zusendungen – bitte mit Absendeadresse – wir freuen uns auf zahlreiche Zuschriften! Die interessantesten Beiträge veröffentlicht marx21 online sowie in der nächsten Ausgabe. Die Redaktion behält sich vor Beiträge gekürzt zu veröffentlichen.
Schlagwörter: Alice Schwarzer, August Bebel, Diskriminierung, Frauenrechte, Geschichte, Kriminalisierung, marx21, Polizei, Prostitution, Repression