Rund um das neue Buch von Alice Schwarzer gegen Prostitution ist eine Debatte entbrannt. Warum sie weder Schwarzers Argumente noch die der Gegenseite überzeugen, erläutert Rosemarie Nünning
Alice Schwarzer, Herausgeberin des feministischen Magazins »Emma«, veröffentlichte werbewirksam parallel zum Erscheinen ihres neuen Buchs »Prostitution – Ein deutscher Skandal« einen »Appell gegen Prostitution«. Daran entzündet sich nun eine heftige Debatte. Wenigsten mit einem Satz möchte ich Schwarzer verteidigen: Prostitution ist kein Beruf wie jeder andere, ist nicht dasselbe wie schlecht bezahlt an einer Supermarktkasse zu sitzen.
Prostitution bedeutet das Feilbieten des eigenen Körpers gegen Geld zum Zweck des sexuellen Gebrauchs – im Unterschied zu einem intimen Austausch, wo die andere Person als gleichberechtigt und mit eigenen Bedürfnissen anerkannt wird. Sexualität wird zur Ware, und es sind vor allem Männer, die diese Ware von Frauen kaufen.
Auf diese Weise wird Tag für Tag in der gesamten Sexindustrie ein Verhältnis reproduziert, das spaltet, statt zu vereinen. Um bei dem Beispiel der Kassiererin zu bleiben: Beschäftigte im Einzelhandel haben ein fundamental gleiches Interesse an der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und können sie nur durch solidarische Aktion, in der Frauen wie Männer als Gleiche handeln, erzwingen.
Razzien in Bordellen
Aber mehr Übereinstimmung mit Schwarzer kann ich nicht aufbringen. Sie fordert vor allem das repressive Eingreifen des Staats gegen Freier, Bordellbesitzer und Zuhälter, um auf diese Weise einen »Bewusstseinswandel« herbeizuführen. Sie versucht damit, Druck auf die Politik allgemein und die derzeitigen Koalitionsverhandlungen insbesondere auszuüben, um das im Jahr 2002 verabschiedete Prostitutionsgesetz zu kippen, das die strafbewehrte »Sittenwidrigkeit« aufhob und die Möglichkeit schuf, Prostitution als sozialversicherte legale Tätigkeit auszuüben.
CDU und SPD haben sich nun tatsächlich auf eine Verschärfung der Prostitutionsgesetze geeinigt, die unter anderem anlasslose polizeiliche Razzien in Bordellen ermöglicht und die Bestrafung von Freiern ins Auge fasst.
Unterzeichnet haben Schwarzers Appell inzwischen fast 8.000 Personen, darunter die CDU in Truppenstärke, anscheinend ganze Nonnenklöster, aus der Wissenschaft jemand wie Hans-Ulrich Wehler, aus der Filmwelt Margarethe von Trotta und Senta Berger und dazu einige wenige Grüne und SPDler.
»Prinzip Sarrazin«
Zur Untermauerung ihrer Forderungen operiert Schwarzer nach dem »Prinzip Sarrazin«: Sie setzt Zahlen in die Welt, die sie nicht belegt – bis zu einer Million Frauen in der Prostitution, über neunzig Prozent schon als Kinder missbraucht, jeder zweite Mann ein Freier, neunzig Prozent Armuts- und Zwangsprostituierte. Und nebenbei macht sie die »›sexuelle Revolution‹ der 68er-Linken«, die »Schranken eingerissen« habe, für diese Verhältnisse verantwortlich.
Alle Zahlen in diesem Bereich können nur Schätzungen sein. Die Zahl von 400.000 Prostituierten in Deutschland geistert seit Ende der 1980er Jahre durch die Presse und Regierungsmitteilungen und niemand weiß mehr, woher sie stammt, sagt das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut SPI. Seit den 90er Jahren wird eine Zahl zwischen 60.000 und 200.000 angenommen, und der Unternehmerverband Erotikgewerbe wie die Welt sprechen jetzt ebenfalls von möglicherweise 200.000 Sexarbeiterinnen.
Weit entfernt von Schwarzers Marktgeschrei
Noch unsicherer wird es bei der Zwangsprostitution, schon weil die Definitionen mehr als verschwommen bleiben. Bezüglich des »Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung« berichtet das Bundeskriminalamt für das Jahr 2011 von 640 ermittelten Opfern (94 Prozent Frauen).
Selbstverständlich gibt es eine Dunkelziffer und jede einzelne mit Gewalt zur Prostitution gezwungene Person ist eine zu viel, aber diese Zahlen sind doch weit entfernt von dem Marktgeschrei Alice Schwarzers.
Wirtschaftlicher Zwang
Der allererste Zwang, der Frauen in die Prostitution treibt, ist ein ökonomischer. Wenn von osteuropäischen Frauen die Rede ist, die in deutsche Städte drängen, dann handelt es sich um die Opfer der Wirtschaftskrise, des europäischen Markts, der mit neoliberaler Politik erzwungenen Massenarbeitslosigkeit. Mit Blick auf Roma, die in Bulgarien oder Rumänien zu neunzig Prozent arbeitslos in Gettos ohne Infrastruktur leben müssen, handelt es sich zusätzlich um Opfer eines manifesten und immer bedrohlicher werdenden Rassismus.
Aber auch hier in Deutschland steigt mit der Verarmung durch Arbeitslosigkeit und Hartz IV der Druck, sich zu prostituieren. So gesehen sind die ersten Zuhälter die Erzeuger der wirtschaftlichen Not. Dem ökonomischen Zwang zu begegnen, hieße Ausbildung und Arbeitsplätze zu schaffen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dazu schweigen Alice Schwarzer, CDU und SPD.
Schon Lenin spottete
Neu ist diese Heuchelei nicht. Der russische Revolutionär Wladimir Lenin berichtete mit beißendem Spott schon im Jahr 1913 von dem Fünften Internationalen Kongress für den Kampf gegen die Prostitution:
»Herzoginnen waren dort aufmarschiert, Gräfinnen, Bischöfe, Pastoren, Rabbiner, Polizeibeamte und alle Sorten bürgerlicher Philanthropen! Welches aber waren die Kampfmittel, die von den vornehmen bürgerlichen Kongressdelegierten gefordert wurden? Religion und Polizei. Eine Dame aus Kanada sprach entzückt von der Polizei und der weiblichen Polizeiaufsicht über die »gefallenen« Mädchen, in Bezug auf die Erhöhung der Arbeitslöhne aber bemerkte sie, dass die Arbeiterinnen höhere Löhne nicht wert seien.«
Gegenappell für Prostitution
Als Antwort auf Alice Schwarzers »Appell gegen Prostitution« wurde nun der »Appell für Prostitution« veröffentlicht – herausgegeben von dem Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen und inzwischen unterzeichnet von rund 1.000 Personen – diesmal vielen Bordellbesitzern, Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, einigen Mitgliedern der LINKEN und der SPD. Zu Recht wenden sich die Unterzeichner gegen die Diskriminierung von Prostitution, gegen Repression und Kriminalisierung.
Jeder repressive Eingriff in die Prostitution schafft erst die Möglichkeit der Ausübung direkten Zwangs: Die Einrichtung von Sperrbezirken und Sperrzeiten drängt Frauen in unsichtbare Bereiche, macht sie abhängig von Bordellen und Zuhältern und setzt sie viel eher gewalttätigen Übergriffen und gesundheitlicher Gefährdung aus.
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen warnt deshalb in seinem Bericht von 2010 vor der Kriminalisierung von Sexarbeit, weil es die Möglichkeit, Safer Sex zu verhandeln, beschränkt – und das Risiko einer HIV-Infektion drastisch erhöht – und ein Hindernis ist, soziale wie medizinische Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Laut einer Studie in Australien leiden illegale Sexarbeiterinnen dreimal häufiger an gesundheitlichen Problemen als legale.
Aufrüstung des Staates hilft nicht
In Schweden, das Alice Schwarzer beispielhaft vor Augen hat, weil dort Freier nach dem »Sexkaufverbot« von 1999 bestraft werden, ist der Straßenstrich um etwa 40 Prozent zurückgegangen, das Stadtbild »sauberer«, die Statistik bereinigt. Die Mittel der schwedischen Polizei wurden im Gegensatz zu Beratung und Ausstiegshilfe aufgestockt und im Durchschnitt erwischt sie im Jahr etwa 100 Freier.
Aber Prostitution verschwindet nicht durch Aufrüstung des Staats, ebenso wenig wie Drogenkonsum. Stattdessen arbeiten Frauen jetzt vermehrt und viel gefährdeter in der Illegalität, wie Sexarbeiterinnen-Organisationen sagen. Frauen schützen zu wollen, indem sie in den Untergrund gedrängt werden, ist ein Widerspruch in sich.
Bloß keine Einstiegshilfen
Dennoch werde ich den »Appell für Prostitution« nicht unterzeichnen, da er nicht nur gegen Kriminalisierung eintritt, sondern »für Prostitution« im Sinne eines »Berufs wie jeder andere«, weshalb (ein wenig versteckt am linken Rand der Website) sogar staatliche Einstiegshilfen gefordert werden. Staatliche Einstiegshilfen wären ein Dammbruch, weil dann auch jedes Arbeitsamt Frauen in die Sexindustrie vermitteln darf – unter Androhung der Streichung von Unterstützungsleistungen.
Prostitution ist nicht so alt ist wie die Menschheit, wie Evrim Sommer von der LINKEN im Neuen Deutschland schrieb, sondern ist untrennbar verbunden mit der Entstehung von Privateigentum, Klassengesellschaft und Frauenunterdrückung. Die Erklärung der mit triftigen Argumenten am radikalsten gegen jede Einschränkung auftretende Prostituiertenorganisation Doña Carmen »Prostitution ist ein Menschenrecht!«, kann ich nicht teilen. Umgekehrt ist es richtig: Es muss ein Menschenrecht sein, sich nicht prostituieren zu müssen.
Zur Autorin:
Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Kreuzberg.
Mehr auf marx21.de:
- Skandal im Sperrbezirk: Um Prostituierte zu schützen, soll das Gewerbe wieder schärfer kontrolliert werden. Doch letztendlich gefährdet das die Frauen. Ein Diskussionsbeitrag von Rosemarie Nünning
Foto: Aus »Wunschbox« von Iris Wolf.
Schlagwörter: Alice Schwarzer, Befreiung der Frau, Feminismus, Feministin, Frauen, Missbrauch, Prostitution, Prostitutionsgesetz, Sarrazin, Sex