Auf ihrem Bundesparteitag in Kalkar zeigte sich die AfD gespalten in etwa zwei gleich große Lager. Noch herrscht ein prekäres Kräftegleichgewicht, das jedoch irgendwann kippen wird. Volkhard Mosler analysiert die Lage der Partei
Eigentlich war Jörg Meuthen als letzter ernstzunehmender Gegenspieler von Björn Höcke in der AfD bereits totgesagt. Als er im März dem »Flügel« mit der Aufforderung nach Auflösung desselben den offenen Kampf ansagte und kurz darauf auch noch seine knappe Mehrheit im Bundesvorstand dazu nutzte, die Nummer 2 des »Flügels«, Andreas Kalbitz, auszuschließen, wurde ihm von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren sein baldiges politisches Ende vorausgesagt. Wie vor ihm der Parteigründer Lucke und dessen Nachfolgerin Petry würde auch Meuthen im politischen Aus landen.
Stellvertretend für diese Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse sei hier Markus Söder zitiert: Die AfD sei zwar »intern zerstritten, aber der Höcke-Flügel ist der dominante Teil. (…) Und im Grunde genommen ist die AfD nichts anderes mehr als eine NPD.« Ähnlich äußerte sich Anfang Oktober auch der Chef des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang: Obwohl sich der »Flügel« aufgelöst habe, wachse sein Einfluss. Als Beweis führte Haldenwang an, dass der Höcke-Flügel bei parteiinternen Wahlen »in Schlüsselpositionen« käme. In der Tat hatte der »Flügel« bei der Vorstandswahl des Landesverbands Niedersachsen kurz zuvor einen Sieg errungen. Hinzu kommt, dass auch die Beschlüsse zum Sozialprogramm die Handschrift des »Flügels« tragen. Hier hatte dieser sich schon im März in der Programmkommission weitgehend durchgesetzt. Alles sah also nach einem Durchmarsch des Höcke-Lagers in Kalkar aus.
»Die Zeit« fasst den inhaltlich-politischen Teil des Parteitags als Sieg des Höcke-Lagers richtig mit den Worten zusammen: »Beim Sozialparteitag der AfD in Kalkar zeigt der völkische-soziale Flügel um Björn Höcke, dass er trotz formaler Auflösung die Richtung der Partei bestimmt und nicht der ›nationalliberale‹ Scheinvorsitzende Meuthen.«
Punktsieg in Kalkar
Allerdings kann von einem Durchmarsch des Höcke-Flügels in Kalkar nicht die Rede sein. Im Gegenteil: In den wichtigen personalpolitischen Entscheidungen konnte Meuthen seine Kandidatinnen und Kandidaten auf allen neu zu besetzenden Positionen durchsetzen – wenn auch nur mit äußerst knappen Mehrheiten. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« meint gar: »Während Meuthen Führung zeigte, fiel der Nimbus von Björn Höcke als Führungsfigur in Kalkar endgültig in sich zusammen.« Wenngleich hier wohl der Wunsch Vater des Gedankens ist, ist richtig, dass Meuthen eindeutig einen Punktsieg gegenüber dem Höcke-Flügel erzielen konnte.
Der programmpolitische Sieg des Flügels ging unter im großen Krach, der durch die »Disziplin«-Standpauke Meuthens ausgelöst wurde. Und die eigentliche Schlacht fand dann um die Nachwahlen der obersten Führungsgremien der Partei statt – den Bundesvorstand und die Bundesschiedskommission –, die Meuthen allesamt für sich entscheiden konnte. Dabei hatte Höcke im Juli 2018 seiner jubelnden Gefolgschaft auf dem Kyffhäuser Treffen noch zugerufen, er könne »garantieren, dass dieser Bundesvorstand nicht wiedergewählt wird.« Götz Kubitschek, der spiritus rector der »Neuen Rechten«, schreibt auf seiner »Sezession«-Seite enttäuscht: »Die wichtigen Entscheidungen fielen in Kalkar dort, wo sowohl der Bundesvorstand und das Schiedsgericht zu ergänzen waren. In beiden Gremien herrschen nun klare Meuthen-Verhältnisse.«
Meuthen ist nicht »gemäßigt«
Teile der bürgerlichen »Mitte« beglückwünschen die Meuthianer für ihre Wahlsiege. Allenthalben wird Meuthen als Repräsentant der »Gemäßigten« in der AfD schöngeredet. Bei T-Online kann man über Meuthen etwa lesen, er sei »ein bürgerlicher Rechter mit anständigem Beruf und unhetzerischer Rhetorik. (…) Ihm schwebt anscheinend eine rechte CDU vor, die dann eines Tages mit der richtigen CDU eine Koalitionsregierung eingehen könnte.« Tatsächlich wäre aus der Sicht von Teilen der herrschenden Klasse eine um den »Flügel«und Höcke bereinigte AfD als Optionserweiterung für eine zukünftige Rechtsregierung in Deutschland eine verlockende Perspektive.
Allerdings ist die Charakterisierung Meuthens als »gemäßigt« vollkommen irreführend. So schreibt der Journalist und Autor Alan Posener auf »Zeit-Online« in einem lesenswerten Artikel unter der Überschrift »Deutsche fürs Deutschsein zu belohnen, ist nicht liberal«: »Meuthens Vorbild ist Viktor Orban«. Posener fragt vollkommen zurecht, was daran »liberal« sei. Und weiter: »Ihre Widersprüche (der AfD) als Kampf Liberaler gegen das Völkische zu deuten, ist falsch.« Meuthen sei ein Rassist und Antisemit, wenn auch ein »klügerer«, der den Umvolkungsmythos der Höcke-Anhänger jedoch teile, einschließlich des Verschwörungsvorwurfs gegen den ungarisch-amerikanischen Holocaust-Überlebenden George Soros als angeblichen Drahtzieher einer »Umvolkung.« Meuthen sei weder »gemäßigt« noch »liberal«. Das ist uneingeschränkt richtig.
Verhältnis zur politischen Macht
Die beiden Lager, wie sie in Kalkar heftig aneinandergeraten sind, trennen nicht so sehr ideologische Differenzen, zumal das neoliberale Meuthen-Lager in Kalkar in der Frage der Sozial- und Wirtschaftspolitik kampflos das Feld geräumt hat, sodass der Antrag zum neuen Sozialprogramm (siehe Kasten unten) fast 90 Prozent Zustimmung erhielt.
Posener vertritt die Ansicht, dass die Ähnlichkeiten in der Programmatik größer seien als die Differenzen und kommt so zu dem Schluss, dass es in der AfD »keine zwei Parteien« gebe. Er geht sogar soweit, Meuthen als »Scheinvorsitzenden« zu bezeichnen. Warum aber dann dieser an eine Spaltung grenzende Zusammenstoß? Geht es am Ende doch nur um persönliche Eitelkeiten und Rivalitäten sowie zukünftige Abgeordnetenposten?
Posener sieht als zentrale Differenz, wegen der in der Vergangenheit schon Lucke, Adam und Petry aus der Partei gedrängt worden seien: »Ihr Vergehen war das Schielen nach einem Zipfel realer Gestaltungsmacht«. Die Haltung des Höcke-Flügels sei die der »Fundamentalopposition«. So richtig Poseners Charakterisierung von Meuthen ist, so falsch liegt er in der Frage der Differenz zum Höcke-Lager. Auch Höcke will durchaus »reale Gestaltungsmacht«, aber auf anderem Weg, nämlich als unbedingte und ungeteilte Gestaltungsmacht einer faschistischen Führerdiktatur.
Historisch war dies der Unterschied zwischen den rechts-nationalen oder national-konservativen Kräften der »Deutsch-Nationalen Volkspartei« (DNVP) Alfred Hugenbergs (»Stahlhelmer«) und der faschistischen NSDAP Adolf Hitlers. Die DNVP hatte sich in der stabilen Aufschwungphase der Weimarer Republik an mehreren rechts-konservativen Regierungen beteiligt. 1932/33 trat sie für die Errichtung einer Militärdiktatur unter General Schleicher ein. Hitler hingegen wollte die alleinige Macht für sich und seine NSDAP und baute zu diesem Zweck eine faschistische Massenbewegung auf.
Wenn Höcke von »meiner AfD« spricht, dann meint er eine »Bewegungspartei« in der Tradition des Faschismus. Meuthen steht hingegen in Tradition der rechts-nationalen DNVP. Er ist keineswegs nur »Scheinvorsitzender« der AfD. Anders als Posener glaubt, gibt es eben doch »zwei Parteien« in der AfD – oder besser: zwei in einer zentralen strategischen Frage, nämlich des Verhältnisses zur politischen Macht und des Wegs dorthin, differierende Lager.
Höcke-Lager in der Klemme
Schon die Ausschlüsse mehrerer Vertreter des »Flügels« in den Jahren 2019 und 2020 waren alles andere als Scheingefechte. Erst die Auflösung des »Flügels«, dann der Ausschluss von Kalbitz, dem starken Mann an Höckes Seite, und jetzt ein gestärkter Meuthen: Ein »Scheinvorsitzender« sieht anders aus.
Trotzdem ist einer Aussage Poseners zuzustimmen: »Der Wunsch (…), dass sich die AfD spalten und dadurch der Bedeutungslosigkeit anheimfallen möge. Das wird nicht passieren.« Dies gilt jedoch zunächst einmal nur bis zur Bundestagswahl. Das Höcke-Lager steckt in der Klemme: Es braucht Meuthen als national-konservatives Aushängeschild. Es fällt auf, dass keiner der führenden Vertreter des neofaschistischen Lagers aus der Bundestagsfraktion und nicht einmal Höcke selbst in Kalkar gegen Meuthens Rede aufgestanden ist.
Die Geschichte der gescheiterten Naziparteien NPD und Republikaner lehrt Höcke und Gauland, dass eine Neugründung des Faschismus ohne national-konservatives Feigenblatt es schwer hat, auf Dauer zu überleben. Höcke und Gauland wollen Meuthen nicht verlieren, zumindest jetzt nicht, also nicht vor der Bundestagswahl im kommenden Herbst, und das weiß auch Meuthen, was ihm zur Zeit Oberwasser gibt. Sie brauchen ihn als konservatives Aushängeschild, jedoch nicht als einen Bundesvorsitzenden, der führende Vertreter ihres Lagers wie Pasemann, Kalbitz oder Sayn Wittgenstein abschießt.
Meuthen unter Zugzwang
Die Abstimmungsergebnisse in den politisch wichtigen Personalfragen waren in Kalkar so knapp, dass sie auch anders hätten ausgehen können. Meuthen stand unter Zugzwang. Er musste die Flucht nach vorne antreten, weil in den westlichen Landesverbänden immer mehr seiner bürgerlich-rechtskonservativen Anhänger die Partei verlassen, was seine Position schwächt. Der Kontrollverlust über die Parteiführung im Landesverband Niedersachsen im September hat die Alarmsirenen ausgelöst. Und der »Flügel« hat mit den Querdenken-Protesten der Corona-Leugner und -Verharmloser eine neue Bewegung gefunden, aus der er hoffen kann, neue Kraft zu schöpfen.
Dies mag auch ein Grund für Meuthens überraschenden Frontalangriff auf die Querdenken-Bewegung gewesen sein, die in den letzten Monaten immer stärker von der AfD unterstützt und unterwandert wurde. Gerade dieser Teil seiner Rede traf auf große Empörung seiner innerparteilichen Feinde.
Zugleich hat aber die Gegenoffensive Meuthens gegen die Westausdehnung des »Flügels«, die schon im Frühjahr 2019 begann, einige Erfolge aufzuweisen. Von Januar 2018 bis Juli 2020 hat der Bundesvorstand mehrere führende Vertreter des »Flügels« aus der Partei ausgeschlossen, Kalbitz war nur der wichtigste. Im neofaschistischen Fußvolk des »Flügels« machte sich daraufhin Enttäuschung und Demoralisierung bemerkbar. In einem Beitrag auf Kubitscheks »Sezession« schreibt ein Leser mit dem Pseudonym »Volksdeutscher«: »Meuthen ist stark, weil die andere Seite nicht bereit und imstande ist, die Partei zu führen und sich nur in Hinterzimmern stark fühlt.« Er beklagt, dass bei der Auflösung des »Flügels« im Frühjahr die Führung (Höcke/Kalbitz) »kein Wort direkt an das Fußvolk, keinerlei Begründung« abgegeben habe. Dazu passt, dass über 60 von 600 Delegierten, viele davon aus den ostdeutschen Landesverbänden, erst gar nicht in Kalkar erschienen sind. Den Presseberichten zufolge hätten dagegen die Anhänger Meuthens aus den Westverbänden dieses Mal einen gut organisierten Eindruck gemacht. In den Schlangen an den Rednermikrophonen hätten sich mehr Meuthen-Anhänger als -Gegner angestellt.
Der Kampf ist eröffnet
Meuthens innerparteilichen Gegner werfen ihm nichts weniger als Verrat vor. Am Tag vor dem Parteitag hatte Meuthen einen Bundesvorstandsbeschluss herbeigeführt, der seine Entschlossenheit »aufzuräumen« unterstreicht. In einer Präsenzsitzung bekannte sich der AfD-Bundesvorstand zur »Freiheitlich Demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes« und beschloss, dass die Verletzung dieser ein »schwerwiegender Verstoß gegen die Grundsätze der Partei« sei – mit anderen Worten: ein Ausschlussgrund.
Björn Höcke hat die Drohung verstanden und den Beschluss umgehend als Kotau vor dem Verfassungsschutz kritisiert. Meuthen beendete seine Philippika gegen die »Disziplinlosigkeit« in Kalkar mit dem Satz: »Entweder wir kriegen hier die Kurve, und zwar sehr entschlossen und sehr bald, oder wir werden als Partei in keineswegs ferner Zukunft ein grandioses Scheitern erleben.«
Noch ist die AfD keine geschlossene Nazipartei, aber sie weiterhin hat das Potential, eine solche zu werden. Auch wenn wir in Kalkar nicht den vorhergesagten Durchmarsch des neofaschistischen Flügels erlebt haben, bleibt im bevorstehenden Superwahljahr die Parole richtig: Wer AfD wählt, wählt Nazis!
Das Sozialprogramm der AfD:
Ohne soziale Demagogie kann der Faschismus keine Massenbewegung hinter sich versammeln, die er aber für eine faschistische Machtübernahme zwingend braucht. Das lehrt die Geschichte der NSDAP. Daher bekennt sich auch der neofaschistische »Flügel« zum Sozialstaat und verfolgt im Gegensatz zum rechts-nationalen und marktradikalen Flügel um Jörg Meuthen eine national-soziale Politik.
Im in Kalkar beschlossenen Sozialprogramm konnte sich das Höcke-Lager schon im Vorfeld des Parteitags weitgehend durchsetzen. Es wird eine Beteiligung von großen Teilen der bisherigen Beamtenschaft sowie eine Öffnung der Rentenkasse für untere Teile des selbständigen Mittelstands gefordert. Für das Krankenhauswesen wird eine Abschaffung des Fallpauschalen-Systems als Finanzierungsbasis gefordert. Einer weiteren Privatisierung von Krankenhäusern in ländlichen Bereichen soll so entgegengewirkt werden. Außerdem wird die Einführung eines biometrischen Gesundheitspasses für alle Ausländerinnen und Ausländer gefordert. Begründet wird dies mit ihrer angeblich höheren Seuchenanfälligkeit. Die AfD bringt mit dieser Forderung ganz bewusst Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete in die Nähe von Seuchenerregern, die es zu erfassen und aus »gesundheitspolitischen« Gründen dann auch zu isolieren gilt – die Quarantäne gewissermaßen als Vorstufe zur Abschiebung und Deportation.
Das Programm verspricht die Abschaffung von Altersarmut und es will dazu beitragen, dass die deutsche Frau wieder mindestens zwei bis drei Kinder gebärt. Dafür gibt es eine »Wurfprämie«: Für jedes Kind soll den Familien aus der Rentenkasse 20.000 Euro über bereits einbezahlte Rentenbeiträge zurückerstattet werden, die über Steuern wiederum den Rentenkassen ersetzt werden sollen. Damit soll ermöglicht werden, dass in den ersten Jahren »ein Elternteil (wer wohl?) vollständig oder teilweise auf das Erwerbseinkommen verzichtet«, wodurch der »Leistungsdruck aus den Familien genommen und so die Scheidungsquote reduziert« werden soll. Die volle »Wurfprämie« käme nur deutschen Familien zugute, EU-Ausländer müssten mindestens 10 Jahre ununterbrochen in die Sozialversicherungen einbezahlt haben und dürften über diesen Zeitraum auch keine sonstigen staatlichen Sozialleistungen bezogen haben. Nicht-EU-Ausländer scheiden ganz aus, genau wie Arbeitslose sowie Alleinstehende und Familien mit prekären Jobs und geringen Einkommen, weil ihre Beiträge in die Rentenkasse zu niedrig wären. Sinn und Zweck des Programms sei es »Solidarität und gegenseitige Hilfe innerhalb unseres Volkes« zu üben, die Geburtenrate deutscher mittelständischer Frauen zu steigern, um sie – wie die »Die Zeit« kommentiert – »in die Geburtenschlacht gegen die muslimische ›Landnahme‹ zu schicken.«
Foto: Robin Krahl / Vincent Eisfeld
Schlagwörter: AfD, Höcke, Inland, Meuthen