Die AfD ist eine neoliberale und marktradikale Partei. Die Frage ist jedoch, wie lange noch. Von Klaus Weiherer und Martin Haller
Keine andere Partei wendet sich so grundsätzlich gegen die Interessen der großen Bevölkerungsmehrheit, wie die AfD: Massive Steuererleichterungen für Reiche und Konzerne, Erhöhung des Renteneintrittsalters und Privatisierung der Arbeitslosenversicherung, so lauteten nur einige der marktradikalen Forderungen in dem vor drei Wochen geleakten Entwurf für das Grundsatzprogramm, das auf dem Bundesparteitag in Stuttgart Ende April verabschiedet werden sollte. In ihrer Feindlichkeit gegenüber Arbeitnehmerinteressen und dem Sozialstaat stellt die AfD selbst die radikalsten Marktverfechter der FDP in den Schatten und bietet damit auch viel Angriffsfläche für ihre Gegner. Diese könnte jedoch in Zukunft deutlich schrumpfen, denn ein Teil der Partei schlägt mittlerweile ganz andere Töne an.
National-soziale Töne
Schon vor einem Jahr verortete Bundesvorstandsmitglied Alexander Gauland die AfD als »Partei der kleinen Leute«. Nun forderte er im März im Brandenburger Landtag ein Solidarpaket für sozial schwache Deutsche. Seit vielen Jahren würden die sozialen Probleme der Menschen von der Politik vernachlässigt. Jeder achte Brandenburger sei arbeitslos und zahlreiche Kinder lebten unterhalb der Armutsgrenze, beklagte Gauland und fragte: »Muss der sozialbedürftige Bürger erst das Mittelmeer überqueren, bevor er von der Politik wahrgenommen wird?«
Ins gleiche Horn stieß die AfD in Sachsen-Anhalt. Im Wahlprogramm schreibt sie: »Das höchste Ziel unserer Politik ist, den Nutzen unseres Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Wir nehmen es nicht hin, dass für die Rettung von Banken oder für hunderttausende von Wohlstandsflüchtlingen Milliarden und Abermilliarden hart erarbeiteter Steuergelder ausgegeben werden, während Schulgebäude jahrelang auf ihre Sanierung warten, die Schlaglöcher auf unseren Straßen immer größer werden und um jeden Euro für eine nötige Strukturförderung gefeilscht werden muss.«
Die Strategie hinter dieser Rhetorik liegt auf der Hand: Geflüchtete sollen für die gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht und die sozialen Abstiegsängste großer Teile der Bevölkerung in rassistische Bahnen gelenkt werden. Allerdings steht diesem Ziel entgegen, dass soziale Forderungen bislang kaum einen Platz in der AfD fanden. Doch das könnte sich in Zukunft ändern.
Für Mindestlohn und gegen Privatisierung
Nach der Veröffentlichung des geleakten Entwurfs für das Grundsatzprogramm brach in der Parteiführung ein offener Streit aus. Teile der AfD empfanden die radikale neoliberale Orientierung des Programms als Ballast für künftige Wahlkämpfe und ein weiteres Ausgreifen in die Masse der Bevölkerung. Der stellvertretende Bundesvorsitzende Albrecht Glaser meinte, »das sozialpolitische Kapitel sollte komplett aus dem neuen Programm gestrichen werden«. Und auch Alexander Gauland schaltete sich in die Auseinandersetzung ein: »Wir werden ganz sicher nicht hinter Bismarcks Sozialreformen zurückfallen«, kommentierte er die Debatte.
In der nun veröffentlichten Schlussfassung des Leitantrags für den Bundesparteitag wurden zahlreiche Formulierungen entschärft und marktradikale Forderungen deutlich abgemildert oder ganz zurückgenommen. So taucht etwa die Forderung nach weiterer Privatisierung staatlicher Aufgaben nicht mehr auf. Insbesondere bei der öffentlichen Daseinsvorsorge sollen Privatisierungen nur dann erfolgen dürfen, wenn dies durch Bürgerentscheide genehmigt wird. Der Mindestlohn soll nun auf jeden Fall erhalten bleiben, denn »Mindestlöhne verhindern die Privatisierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Sozialisierung der Kosten«. Der Betreuungsschlüssel in den Kitas soll verbessert werden und gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften seien zu stärken. Wohnungseigentum soll vor allem für Bezieher kleinerer Einkommen erschwinglich werden. Auch die Abschaffung der gesetzlichen Unfallversicherung ist offenbar vom Tisch.
Nach wie vor hat das Programm einen neoliberalen Charakter und orientiert sich an einem »schlanken Staat«, aber die weitgehenden Änderungen des Entwurfs zeigen, dass die Flügelkämpfe innerhalb der AfD an Schärfe gewinnen und die Marktradikalen zunehmend unter Druck geraten.
Marktradikaler Flügel
Zwar haben mit dem Flügel um Bernd Lucke die bekanntesten Vertreter der marktradikalen Kräfte der Partei inzwischen den Rücken gekehrt, sie sind aber immer noch zahlreich vorhanden. So ist etwa der Co-Vorsitzende und gleichzeitige Chef der AfD-Baden-Württemberg, Jörg Meuthen, ein radikaler Wirtschaftsliberaler. Und auch die Verantwortliche der Programmkommission Alice Weidel ist eine neoliberale Volkswirtin. Sie ist Unternehmensberaterin und Mitglied der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft, die in mehr als 50 Regionen in Deutschland Clubs zur Verbreitung marktradikaler Ideen betreibt. Der Ökonom von Hayek selbst war Vertreter einer reaktionären und sozialdarwinistischen Wirtschaftspolitik, der sozial Bedürftigen das Wahlrecht entziehen wollte.
Auch die stellvertretende AfD-Vorsitzende Beatrix von Storch ist Mitglied der Hayek-Gesellschaft und eine ausgesprochene Marktfundamentalistin. Von Storch, geborene Großherzogin von Oldenburg, ist Gründerin des Vereins »Allianz für den Rechtsstaat«, der sich die Rückgabe des in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone enteigneten Grundbesitzes an den alten Landadel zum Ziel gesetzt hat. Auch sie forderte in der Vergangenheit in Anlehnung an das frühere Zweiklassenwahlrecht, für sozial Schwache und Benachteiligte das Wahlrecht einzuschränken und »den Leistungsträgern« Privilegien zu gewähren.
Von Storch war auch innerhalb der Programmkommission der AfD federführend tätig. Vieles spricht dafür, dass sie gemeinsam mit Alice Weidel für die ultra-neoliberalen Forderungen im geleakten Entwurf verantwortlich ist. Zwischenzeitlich wurden Meldungen verbreitet, sie sei aus der Programmkommission der AfD ausgeschlossen worden, was die Partei allerdings umgehend dementierte.
Unterwanderung von Nazis
Den marktradikalen Netzwerken in der AfD steht ein Flügel gegenüber, für den eine neoliberale Ideologie keine grundsätzliche Bedeutung hat und popagandistisch als eher hinderlich angesehen wird. Dieser national-soziale oder auch neofaschistische Flügel kontrolliert bereits mehrere Landesverbände sowie wichtige Posten in der Bundespartei. Ihm gehören neben den Scharfmachern Björn Höcke und André Poggenburg auch die vermeintlich nationalkonservativen Biedermänner Alexander Gauland und Albrecht Glaser an.
Die Neofaschisten sehen in der AfD eine historische Chance aus der gesellschaftlichen Nische auszubrechen. Auf konkrete programmatische Inhalte kommt es ihnen dabei weniger an, Ziel ist eine faschistische Partei mit Massenbasis. Um dies zu erreichen, müssen sie auch soziale Forderungen in ihrem Parteiprogramm integrieren.
Der national-soziale Flügel, welcher den Kern einer neuen faschistischen Partei ausmacht, muss als zentrales Element die scheinbare Überwindung der Klassengegensätze propagieren und die »Volksgemeinschaft« in den Mittelpunkt stellen. Dies bedingt, dass Forderungen, die sich am Klasseninteresse des mittelständischen Kapitals, des Kleinbürgertums und auch der Arbeiterklasse orientieren, aufgenommen werden, damit sich die Masse der Bevölkerung vertreten sieht.
Rechter Antikapitalismus
Das Gründungsprogramm der NSDAP aus dem Jahr 1920 bietet in diesem Sinne ein aussagekräftiges Beispiel einer ganzen Reihe antikapitalistischer Programmpunkte, wie etwa dem »Brechen der Zinsknechtschaft des Finanzkapitals«, der »Verstaatlichung der Trusts«, oder der »Enteignung des großen Grundbesitzes für gemeinnützige Zwecke«. Auf betrieblicher Ebene kam es durch die Gründung der »Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation« (NBO) mit bis zu 300.000 Mitgliedern auch zur Unterstützung von Streikaktionen, etwa dem Streik der Berliner Verkehrsbetriebe 1932, und der Teilnahme an Betriebsratswahlen, um auf diese Weise Teile der Arbeiterklasse zu gewinnen. Die NBO war Träger der Aktion im Mai 1933 zur Besetzung der Gewerkschaftshäuser und Aneignung des Vermögens des Deutschen Gewerkschaftsbundes, verbunden mit der Hoffnung sie würde nun zum »Kern einer parteigebundenen Einheitsgewerkschaft«.
Nachdem die NBO als Werkzeug zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung gedient hatte, fand sie im Juli 1934 jedoch ihr schnelles Ende. Führende Mitglieder wurden auf Befehl der NSDAP-Führung erschossen und die NBO wurde 1935 in die »Deutsche Arbeitsfront« überführt, ein Einheitsverband mit Zwangsmitgliedschaft der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und 22 Millionen Mitgliedern.
Selbstverständlich ist die Situation in Deutschland heute eine andere als in den 1930er Jahren, aber ein Blick auf die NPD oder auch ins europäische Ausland zeigt, dass die Strategie der Nazis auch nach dem Zweiten Weltkrieg die gleiche geblieben ist. Die meisten der neofaschistischen Parteien in Europa agieren mit einer sozialen bis antikapitalistischen Rhetorik, um die Wut über die soziale Krise in rassistische Bahnen lenken zu können. In Österreich präsentiert sich die FPÖ als »Soziale Heimatpartei« und fordert einen Mietpreisstop, eine Stärkung des sozialen Wohnunsbaus, eine Senkung der Steuern für kleine und mittlere Einkommen und die Einführung einer Sonderabgabe für Millionäre. Und auch in Frankreich hat Marine Le Pen dem Front National ein soziales Programm verpasst. So fordert der Front National die 35-Stunden-Woche nicht anzutasten, das legale Renteneintrittsalter zu senken, alle Monatslöhne bis 1500 Euro um 200 Euro zu erhöhen und auch die Altersrenten spürbar anzuheben.
Wie bei ihren historischen Vorbildern, steht auch bei den neuen Nazis die antikapitalistische Rhetorik und vermeintlich soziale Programmatik in scharfem Gegesatz zu ihren tatsächlichen Interessen und Absichten. FPÖ, Front National und auch der neofaschistische Flügel der AfD sind ebenso wenig sozial, wie es die NSDAP war. Dennoch gelingt es ihnen in die traditionelle Wählerschaft der Linken vorzudringen.
Ausgreifen in die Arbeiterklasse
Bei den Landtagswahlen im März konnte die AfD bereits weit in die Wählerschichten der Arbeiterklasse ausgreifen. Unter Erwerbslosen und Arbeitern wurde sie in Sachsen-Anhalt mit Stimmenanteilen von 36 bzw. 35 Prozent mit Abstand stärkste Partei. Auch in Baden-Württemberg konnte sie mit 32 Prozent unter Erwerbslosen und 30 Prozent unter Arbeiterinnen und Arbeitern die anderen Parteien deutlich hinter sich lassen. Lediglich in Rheinland-Pfalz gelang es der SPD die AfD in diesen Wählergruppen auf den zweiten Platz zu verweisen. Unter Angestellten, welche die Umfrageinstitute getrennt von Arbeitern erfassen, sowie unter Selbstständigen und Rentnern schnitt die AfD hingegen deutlich schwächer ab.
Der Hauptgrund für ihre Ausstrahlung in die Arbeiterklasse ist jedoch nicht ein soziales Profil, das bislang auch kaum vorhanden ist, sondern die Tatsache, dass es die AfD geschafft hat, sich als die Oppositionskraft gegen den etablierten Politikbetrieb zu präsentieren. Nur 26 Prozent der Wählerinnen und Wähler gaben an, die AfD aus Überzeugung gewählt zu haben. Von 74 Prozent wurde hingegen Protest gegen die etablierten Parteien als Hauptgrund für die Wahlentscheidung genannt. Indem sie sich erfolgreich als Protestpartei gegen den politischen Mainstream darstellen konnte, gelang es der AfD auch viele Menschen zur Wahlurne zu bewegen, die sich aus Unzufriedenheit und Enttäuschung längst von der parlamentarischen Politik abgewandt hatten. Sollte sich nun der neofaschistische Flügel innerhalb der Partei mit seiner national-sozialen Rhetorik und Programmatik weiter durchsetzen, könnte sich dieser Effekt noch einmal deutlich verschärfen.
Faschisten enttarnen
Für die LINKE und den Widerstand gegen die AfD bedeutet dies, dass eine Kritik der AfD als marktradikale Elitenpartei zunehmend ins Leere zu laufen droht. Es ist richtig, dass die LINKE, solange die Möglichkeit dazu besteht, den Widerspruch zwischen den neoliberalen wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen der AfD und den Interessen der Mehrheit ihrer Wähler offensiv angeht. Auch der entschärfte Entwurf des Grundsatzprogramms bietet dazu viel Gelegenheit. Wenn sich der Prozess der Faschisierung der AfD jedoch weiter fortsetzt, wird eine rein programmatische Kritik immer schwieriger.
Denn der Faschismus vertritt eben kein bestimmtes Programm. Seine Themen unterliegen einer relativen Beliebigkeit. Die Strategie dabei ist, an scheinbar aktuellen gesellschaftlichen Konflikten anzusetzen und diese mit Rassismus und Nationalismus aufzuladen. Die Herausforderung besteht also darin, eine faschistische Bewegung zu einem Zeitpunkt zu enttarnen, in dem noch nicht allgemein zu sehen ist, was ihre eigentlichen Beweggründe sind. Daher müssen der Rassismus der AfD im Allgemeinen und die Faschisten innerhalb der Partei im Speziellen direkt bekämpft werden.
Soziale Kämpfe als Nagelprobe
Um der neofaschistischen Strategie entgegentreten zu können, muss die LINKE neben dem Kampf um die Straße auch den Kampf um die Betriebe führen. Von vielen wird sie nicht mehr als die Partei des Aufbruchs wahrgenommen. In einigen Regionen erscheint die LINKE offenbar bereits als Teil des politischen Systems, anstatt als dessen entschiedener Gegner. In diese Leerstelle stößt die AfD: »Wir wollen kein Koalitionspartner von niemandem sein, weil wir diese Politik bis aufs Messer bekämpfen werden«, sagte Alexander Gauland nach den Landtagswahlen.
Die LINKE muss zeigen, dass sie gewillt ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zu verändern. Das kann sie nur, wenn sie sich an den aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen orientiert und für die Kämpfenden als aktive solidarische Kraft sichtbar ist. Armut führt nicht automatisch zum Erfolg rechter Politik, sondern der Verzicht auf Gegenwehr gegen die gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse. Soziale Kämpfe sind in letzter Konsequenz auch die »Nagelprobe« an der sich der »Antikapitalismus« und die sozialen Forderungen faschistischer Parteien als leere Phrasen erweisen, hinter denen nichts anderes steht als Menschenfeindlichkeit und Ausbeutung.
Schlagwörter: AfD, Alternative für Deutschland, Antifaschismus, Antikapitalismus, Beatrix von Storch, Faschismus, Flüchtlinge, Flügelkämpfe, FPÖ, Front National, Gauland, Höcke, Inland, Le Pen, Nationalsozialismus, Neofaschismus, Neoliberalismus, NPD, Petry, Poggenburg, Rassismus, Storch, Wirtschaftspolitik