Über fünfzig Jahre nach dem Stonewall-Aufstand ist am Christopher Street Day nicht mehr viel davon zu spüren, was die Bewegung einst stark machte: Militanz, Antikapitalismus und Antirassismus. Zeit, das zu ändern! Von Katharina Smith
Es ist kurz nach Mitternacht, am 28. Juni 1969, als sieben Polizisten in Zivilkleidung und ein Beamter in Uniform das Stonewall Inn in der Christopher Street in New York stürmen. Rund 200 Menschen befinden sich im Lokal – für die meisten ist es nicht die erste Razzia. Wie üblich bei diesen demütigenden Repressionsmaßnahmen will die Polizei die Personalien aufnehmen. Die Polizisten beginnen, die Gäste aufzuteilen: Trans*personen müssen sich in einem seperaten Raum in einer Reihe aufstellen. Sie sollen ihr bei der Geburt zugeschriebenes Geschlecht preisgeben. Andernfalls drohen die Polizisten, sie vor allen anderen auszuziehen und so weiter zu demütigen. Nur wer drei Kleidungsstücke trägt, die »dem Geschlecht entsprechen«, darf gehen.
Stonewall: Ein Aufstand schreibt Geschichte
Doch in dieser Nacht ist etwas anders als bei sonstigen Razzien: Die Gäste verhalten sich nicht wie üblich. Sie fangen an, sich gegenseitig Mut zuzusprechen und beginnen, sich zu wehren. Die Stimmung ist zunehmend angespannt. Die Polizisten fordern Verstärkung an. Nach und nach werden einzelne Menschen aus dem Lokal entlassen – wie üblich. Doch anders als sonst bleiben sie vor dem Lokal stehen und fangen an, den Menschen, die nach ihnen entlassen werden, zu applaudieren und ihnen zuzujubeln.
Die Polizei ist verunsichert und entlässt immer schneller die Besucher*innen. Gleichzeitig rennen bereits entlassene Gäste zu den Telefonzellen und rufen ihre Bekannten an. Die Christopher Street beginnt sich immer mehr zu füllen. Um die Situation unter Kontrolle zu bekommen, sollen einzelne Personen abgeführt werden. In dem Moment fliegt der erste Stein. Er trifft ein Polizeiauto, das eine lesbische Frau abtransportieren soll. Damit bricht ein Aufstand los, der in die Geschichte eingehen sollte: die Stonewall Riots in der Christopher Street.
Repression und Unterdrückung von LGBT*+
Die USA der 1960er-Jahre waren ein zutiefst repressives Umfeld für Lesben und Schwule, Bi- und Intersexuelle, Trans*personen und alle anderen von einer heteronormativen Geschlechtsidentität oder Lebensweise abweichenden Menschen (LGBT*+). Gleichgeschlechtliche Partnerschaften waren, mit Ausnahme von Illinois, in allen Bundesstaaten verboten. Das Küssen unter Homosexuellen im öffentlichen Raum wurde mit Gefängnisstrafen geahndet. Und selbst in der aufkommenden Hippiebewegung funktionierte die viel propagierte »freie Liebe« meist nur für heterosexuelle Menschen aus der Mittelschicht.
Trans*geschlechtlichen Menschen wurde ihre Identität komplett verwehrt. Das Gesetz schrieb vor, nur Kleidung zu tragen, die dem »jeweiligen Geschlecht entspricht«. Allein die Deklaration der eigenen Sexualität konnte dazu führen, dass LGBT*+-Personen verhaftet und in geschlossene Psychiatrien gesperrt wurden – ohne Anhörung. Zu all dem kam die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, die Angst davor, aus der eigenen Familie verstoßen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.
Entstehung queerer Subkulturen in den USA
Doch trotz der Unterdrückung und des repressiven Klimas hatte sich in einigen Großstädten im Laufe der Jahrzehnte eine kleine queere Subkultur herausgebildet (Anm. der Red.: Der Begriff »queer«, ursprünglich als Schimpfwort gebraucht, bezeichnet heute sowohl die gesamte LGBT*+-Bewegung als auch einzelne ihr angehörende Personen).
Die Industrialisierung hatte seit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Millionen von Arbeiter*innen vom Land in die großen Metropolen getrieben. Dies bedeutete die Möglichkeit, aus der Isolation der kleinen ländlichen Gemeinschaften auszubrechen. In der Großstadt war es einfacher, eine von der Norm abweichende sexuelle Orientierung oder Identität zu leben. Seit den 1920er-Jahren waren so gewisse Freiräume entstanden, etwa in San Franciscos Barbary Coast, dem French Quarter in New Orleans oder in den New Yorker Stadtteilen Harlem und Greenwich Village. Für lesbische Frauen und Trans*personen waren diese Freiräume noch geringer als für homosexuelle Männer, da sie meist ökonomisch abhängiger waren, was es ihnen noch schwerer machte, sich von gesellschaftlichen Normen zu befreien und die eigene Sexualität auszuleben.
Zweiter Weltkrieg und sexuelle Befreiung
Dies änderte sich jedoch mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg: Frauen wurden nicht nur als Arbeitskräfte in den Fabriken und Betrieben gebraucht, sondern dienten auch in der Armee. Obgleich Homosexualität auch im Militär verfolgt wurde, bot der Dienst im Ausland für viele Soldat*innen die Möglichkeit, gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen zu machen und Beziehungen zu führen. Und auch innerhalb der USA führten der Bruch mit der gesellschaftlichen Routine und der kriegsbedingte Ausnahmezustand zu mehr Möglichkeiten der sexuellen Entfaltung.
Doch mit dem Ende des Krieges endete auch die vorübergehende Öffnung der US-Gesellschaft und die Millionen Amerikaner*innen, die in der Armee oder an der »Heimatfront« Erfahrungen mit gleichgeschlechtlicher Sexualität gemacht hatten, wurden zurückgeworfen auf den harten Boden der Realität einer strikt heteronormativen Gesellschaft.
Kalter Krieg und konservatives Rollback
Die Nachkriegsjahre waren in den USA, vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, geprägt von einem starken Antikommunismus sowie einem gesellschaftspolitisch konservativen Rollback. Die Kernfamilie wurde als Stütze der Gesellschaft propagiert und die Verfolgung all derer forciert, die nicht in dieses Bild passten. Das vom Repräsentantenhaus eingesetzte »Komitee für unamerikanische Umtriebe« ging nicht nur gegen vermeintliche Kommunist*innen vor, sondern auch gegen Homosexuelle. Tausende Staatsbedienstete wurden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung entlassen. Allein in Washington D.C. kam es während der McCarthy-Ära jährlich zu etwa Tausend Verhaftungen von LGBT+. Die Namen der Beschuldigten wurden samt Arbeitsplatz in den lokalen Zeitungen veröffentlicht, so dass eine Verhaftung nicht selten den Jobverlust bedeutete.
Besonders schlimm war die Situation in den Südstaaten. Hier waren nicht nur der Rassismus und die Repression gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung am extremsten, sondern auch der Hass auf sexuelle Minderheiten. Der Schriftsteller und Historiker John Howard, der in seinen Arbeiten die queere Geschichte der Südstaaten beleuchtet, beschreibt die Situation wie folgt: »Die Weißen Ritter des Ku-Klux-Klans aus Mississippi haben die Bürgerrechtsbewegung und den Kommunismus explizit mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht. (…) Kommunisten, Homosexuelle, Juden, Huren, Liberale und wütende Schwarze waren für sie alle Ungläubige.«
Die Entstehung der queeren Bewegung
Dennoch, die Erinnerung an die einst gewonnenen Freiheiten konnte nicht vollkommen ausgelöscht werden. Viele heimkehrende Soldat*innen entschieden sich, in den Hafenstädten zu bleiben, um sich fernab von ihren Familien und dem Druck zur Heirat etwas von der neuen sexuellen Freiheit zu bewahren. Inspiriert durch die wachsende Bürgerrechtsbewegung bildeten sich gegen Ende der 1950er-Jahre zunehmend queere Organisationen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzten. Der Fokus dieser meist von Aktivist*innen aus der Mittelschicht getragenen Gruppen lag jedoch nicht im unmittelbaren politischen Kampf, sondern in der Aufklärungsarbeit und dem Versuch, den öffentlichen Diskurs zu verschieben.
Dies änderte sich in den 1960er-Jahren: Parallel zum Wachstum und der Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung, der Massenbewegung gegen den Vietnamkrieg, der zweiten Welle der Frauenbewegung sowie dem allgemeinen Anstieg von Klassenkämpfen radikalisierte sich auch die queere Bewegung und ihre Protestformen wurden militanter. So wie in der 68er-Bewegung insgesamt der Widerstand gegen Rassismus, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung zusammenkam, spielten auch in der queeren Bewegung verschiedene Unterdrückungsformen und die Klassenfrage eine wachsende Rolle.
Rassismus, Armut und sexuelle Diskriminierung
Wohl nirgends wurde dies deutlicher als in der Gegend um das Stonewall Inn im Stadtteil Greenwich Village. Das Tanzlokal war bereits seit einigen Jahren Treffpunkt der LGBT+-Community. Dort trafen sich vor allem homosexuelle Männer, aber auch Frauen und Drag Queens, von denen sich viele heute wohl »trans« nennen würden – diesen Begriff verwendete man allerdings erst später. Die Gegend war von Armut und Obdachlosigkeit geprägt und auch viele Trans*menschen waren – wie auch heute noch – arbeits- und dadurch oft auch obdachlos. In den Parks rund um das Stonewall Inn schliefen viele queere Jugendliche und junge Erwachsene, die meisten davon People of Colour.
Für die jungen Schwarzen, Hispanics und Migrant*innen spielten Armut und Rassismus oft eine ebenso große Rolle wie sexuelle Diskriminierung. Und im Gegensatz zu den eher bürgerlichen Aktivist*innen der frühen queeren Bewegung war Aufklärungsarbeit für sie keine Option. Sie waren es, die am 28. Juni 1969 den legendären Aufstand in der Christopher Street lostraten. Vorne mit dabei zwei Transfrauen: die Latina Silvia Rivera und die schwarze Sexarbeiterin Marsha P. Johnson. Rivera machte in Interviews nach dem Aufstand immer wieder deutlich, dass dieser von obdachlosen Jugendlichen getragen wurde, so wie sie selbst obdachlos war.
»Gay Power!« – Gay Liberation Front und CSD
Nachdem die ersten Steine und Flaschen in Richtung Polizei geflogen waren, fing diese an zu begreifen, dass sie ohne weitere Verstärkung der Situation nicht gewachsen war. Die Polizisten mussten sich gezwungenermaßen zurückziehen – und zwar in das Stonewall Inn. Das führte dazu, dass die Scheiben eingeschlagen wurden, Feuer wurde gelegt, Mülleimer in das Lokal geworfen und eine Parkuhr als Rammbock benutzt, um die Tür aufzubrechen. Die Telefonleitungen wurden gekappt, sodass die Polizei keine Verstärkung rufen konnte. Der Aufstand war so laut und so groß, dass auch viele linke und nicht-queere Aktivist*innen auf die Situation aufmerksam wurden und sich dem Protest anschlossen. Immer mehr Menschen strömten auf die Straßen, sodass um vier Uhr morgens die Polizei sich schließlich zurückziehen musste. Die Proteste und Straßenkämpfe sollten sich noch mehrere Tage hinziehen. Tage, in denen der Ruf »Gay Power!« durch die Straßen des Greenwich Village hallte.
Und sie blieben nicht ohne Folgen: Nur kurze Zeit darauf gründete sich mit der Gay Liberation Front (GLF, Anm. der Autorin: Mit »gay« waren in den 1960er-Jahren nicht nur homosexuelle Männer gemeint, sondern die gesamte queere Community) die erste Organisation, die bereit war, in offener Konfrontation für die Befreiung von Schwulen, Lesben und Trans*personen einzutreten. Die GLF, deren Name in Anspielung auf die südvietnamesische Befreiungsfront Vietkong (NLF, National Liberation Front) gewählt wurde, war es auch, die im folgenden Jahr im Gedenken an den Stonewall-Aufstand einen Marsch vom Greenwich Village zum Central Park organisierte. Zwischen 5.000 und 10.000 Menschen nahmen an der Demonstration teil – dem ersten »Christopher Street Day« (CSD), wenngleich der alljährliche Protestzug erst später diesen Namen erhielt.
Radikalisierung und neue Stoßrichtung
Der Stonewall-Aufstand hatte zu einer nachhaltigen Radikalisierung der Bewegung geführt – und zu einer Veränderung ihrer Stoßrichtung. Während es bis dahin vor allem um die Entkriminalisierung von Schwulen und Lesben ging sowie darum, für Toleranz bei der heterosexuellen Bevölkerungsmehrheit zu werben, steht seit Stonewall ein neues Selbstbewusstsein im Vordergrund: Schwule, Lesben und Trans*personen sind stolz auf sich selbst, ihre sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und ihren Lebensstil und machen diesen Stolz auch selbstbewusst öffentlich: »Gay Pride!«
Die nachhaltige Wirkung auf die Bewegung drückte sich auch in der offensiven Verbindung mit antirassistischen und antikapitalistischen Kämpfen sowie der Antikriegsbewegung aus. So unterstütze die GLF etwa die Black Panther Party, die nach dem Mord an Malcolm X aus dem militanten Teil der afroamerikanischen Befreiungsbewegung entstanden war.
Spaltung der Bewegung
Doch schon bald zeigten sich erste Risse: Ein Flügel der Bewegung kritisierte die Unterstützung anderer militanter linker Organisationen und forderte, sich nicht an Aktionen zu beteiligen, die keinen offensichtlichen Bezug zu Homosexuellen haben. Bereits 1970 führte diese Frage zur Spaltung der GLF und der Gründung der Gay Activists Alliance (GAA). Nach dem Auszug des gemäßigten Teils der Organisation verstand sich die GLF offen als eine revolutionäre Organisation, »die sich mit der Erkenntnis gebildet hat, dass komplette sexuelle Befreiung für alle Menschen nicht verwirklicht werden kann, wenn nicht die existierenden sozialen Institutionen abgeschafft werden.«
Doch die Bewegung insgesamt war geschwächt. Und es zeichneten sich weitere Konflikte ab: Innerhalb der GAA wurden die Stimmen lauter, die forderten, sich auf den Kampf der eindeutig geschlechtlich identifizierten Lesben und Schwulen zu beschränken, was Trans*personen ausschloss. Davon versprachen sie sich bessere Chancen für ein Antidiskriminierungsgesetz für Homosexuelle. Die Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung spitzte sich zu. Mittendrin: Sylvia Rivera and Marsha P. Johnson, die Stonewall-Aktivist*innen der ersten Stunde. Sie hatten 1970 die Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) gegründet, die sich für obdachlose Drag Queens und Transpersonen einsetzte.
Im Jahr 1973, dem vierten Jahrestag des Stonewall-Aufstands, kam es schließlich zum offenen Bruch: Als die Aktivist*innen von STAR davon erfuhren, dass sie ganz hinten im CSD-Zug laufen sollten, stürmten Rivera und eine zweite Drag Queen die Bühne. Der Eklat blieb nicht ohne Folgen: Noch im selben Jahr kam es zum Ausschluss von Transpersonen aus der GAA. STAR löste sich auf.
Stonewall: Zurück zu den Wurzeln!
Über fünfzig Jahre nach dem Aufstand von Stonewall ist auf den Paraden zum »Christopher Street Day« nicht mehr viel vom ursprünglichen militanten, antikapitalistischen und revolutionären Geist zu spüren. Die Bewegung kann auf viele Erfolge zurückblicken, doch die »komplette sexuelle Befreiung für alle Menschen«, wie sie die GLF einst forderte, ist auch heute noch weit entfernt. Nach wie vor gilt, dass dafür »die existierenden sozialen Institutionen abgeschafft werden« müssen. Und genau deshalb sollte der CSD wieder zu dem gemacht werden, was er einst war: ein kämpferischer Ort gegen repressive Staatsgewalt, gegen jede Form von Unterdrückung, gegen Kapitalismus und Rassismus – ein Ort für den Umsturz der bestehenden Verhältnisse.
Foto: Wikipedia
Schlagwörter: 68er, 68er-Bewegung, Gay Pride, Homosexualität, LGBT