Der türkische Präsident Erdogan hat die Wahlen auf den 24. Juni vorgezogen, um seine Macht zu festigen. Aber diesmal könnte er sich verzockt haben. Von Hans Krause
Zwei Jahre nach dem gescheiterten Militärputsch gegen ihn regiert Recep Tayyip Erdogan weiter mit Gewalt und Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Erst im Mai wurde der Rapper Ezhel verhaftet, dessen erfolgreichstes türkisches Video auf dem Portal YouTube 35 Millionen Mal gesehen wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit dem Text seines Liedes »Alo« »Anstiftung zum Drogenkonsum« begangen zu haben, was mehrere Jahre Gefängnis bedeuten kann. Gegner der Regierung vermuten hingegen, dass Ezhel verhaftet wurde, weil er auch über Armut, Kinderarbeit und willkürliche Verhaftungen rappt.
Nach der für ihn erfolgreichen Volksabstimmung im letzten Jahr hat Erdogan für diesen Juni vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen angesetzt. Die Volksabstimmung endete jedoch nur mit 51 zu 49 Prozent für die von Erdogan gewünschte Verfassungsänderung, die seine Macht als Präsident deutlich ausweitet. Hinzu kam, dass die Opposition dem Staat massive Wahlfälschung vorgeworfen hat und die Gegenkampagne mit Gewalt und Verhaftungen unterdrückt wurde. Um eine Diskussion über die Gültigkeit des Referendums zu verhindern, hat Erdogan daraufhin die Wahlen schon 2018 angesetzt, mit denen nach der geänderten Verfassung jetzt das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft und mit dem Präsidenten vereint wird.
De Wohlstand wächst nicht mehr
Zunächst schien es, als sei das Vorziehen der Wahlen von Erdogan ein geschickter Zug. Das Wirtschaftswachstum war lange so groß, dass sich das Einkommen der meisten Menschen erhöhte, was Erdogan große Beliebtheit sicherte, obwohl er Demokratie und Freiheit immer weiter abschafft. Doch wie in jeder kapitalistischen Wirtschaft sinkt das Wachstum nach einer langen Phase der Industrialisierung jetzt auf ein Niveau, dass keinen Wohlstand mehr produziert. Nach 7 Prozent 2017 prognostiziert der Internationale Währungsfonds dieses Jahr noch 4,4, nächstes Jahr 4,0 und 2020 3,6 Prozent Wachstum.
Zudem liegt die Inflation bei 12 Prozent, was Waren aus dem Ausland deutlich verteuert und die türkische Währung Lira hat seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 gegenüber dem US-amerikanischen Dollar 41 Prozent an Wert verloren. Letzteres ist ein großes Problem für Banken und Wirtschaft, die 222 Milliarden Schulden in US-Dollar haben.
Je weiter der Wert der Lira sinkt, desto größer werden diese Schulden. Finanz-Experten befürchten seit einigen Monaten eine türkische Bankenkrise. Offiziell sind 11 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, real etwa doppelt so viele.
Durch das drohende Ende des wachsenden Wohlstands ist die Beliebtheit Erdogans und seiner Partei AKP gesunken. Nach 50 Prozent bei der Parlamentswahl im November 2015 liegt sie in den neuesten Umfragen bei 40, in einer sogar nur bei 35 Prozent und das obwohl oppositionelle Medien verboten und zensiert und Journalisten ins Gefängnis geworfen werden.
Ein neuer Präsident?
Sogar das Ende von Erdogans Präsidentschaft ist möglich: Nach 52 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2014 liegt er jetzt in fast allen Umfragen unter 50 Prozent und in einer aktuellen Umfrage zu einer Stichwahl gegen den wahrscheinlichen Gegner Muharrem Ince führt Erdogan nur mit 50,2 zu 49,8 Prozent.
Doch auch wenn es sich in Deutschland so anfühlen mag, als wäre die Abwahl Erdogans auf jeden Fall die große Wende für die Menschen in der Türkei, so ist es doch wahrscheinlich, dass ein Wahlsieg Inces allein nur wenig verändern würde.
Ince kritisiert auch von rechts
So verdankt er seine Kandidatur für die sozialdemokratische CHP keineswegs seiner Beliebtheit bei der Basis der Partei. Vielmehr verlor Ince erst im Februar die Wahl zum CHP-Vorsitzenden mit nur 36 Prozent der Stimmen gegen Kemal Kilicdaroglu, weil er den Delegierten zu rechts war.
Trotzdem stellte die CHP-Führung Ince später als Präsidentschaftskandidaten auf. Denn ihr Ziel ist nicht, die Menschen für eine linkere Politik zu gewinnen, sondern Ince als den besseren Konservativen verglichen mit Erdogan zu verkaufen.
So kritisiert Ince den Präsidenten teilweise von rechts und wirft im vor, zu viele syrische Geflüchtete aufgenommen zu haben. Er bemängelt nicht die marktliberale Politik Erdogans, sondern behauptet ähnlich wie deutsche Politiker, er sei ein islamischer Fundamentalist.
Gleichzeitig verspricht Ince das Ende des Ausnahmezustandes und der Verhaftungen Unschuldiger. Für die Menschen in den kurdischen Gebieten soll es einen „Friedensprozess“ geben. Wie viel seiner fortschrittlichen Positionen er im Falle eines Wahlsieges umsetzt, hängt weniger von seinem Programm und seinen Wahlkampfreden als viel mehr vom Druck ab, den Linke und Gewerkschaften dann von unten machen. Ein Präsident Ince würde solchem Druck möglicherweise eher nachgeben als Erdogan.
Auch Aksener ist keine Alternative
Bei der Parlamentswahl erlaubt das neue Wahlgesetz erstmals Bündnisse verschiedener Parteien, was vor allem dazu dient, kleineren Parteien zum Einzug ins Parlament zu verhelfen, die sonst die undemokratisch hohe 10-Prozent-Hürde nicht erreichen würden.
Die AKP nutzt dies für ein Bündnis mit der rechtsradikalen MHP, während die CHP gemeinsam mit der neu gegründeten Partei Iyi antritt. Deren Vorsitzende Meral Aksener wird in deutschen Medien zwar manchmal als demokratische Alternative zu Erdogan dargestellt, das liegt aber nur daran, dass Aksener sich nicht als religiös verkauft und das Wahlbündnis mit der AKP ablehnt. Tatsächlich ist Iyi aber eine Abspaltung von der MHP und ebenso rechtsradikal.
10 Prozent trotz Gewalt und Gefängnis
Große Aufbruchstimmung herrscht bei der Linkspartei HDP. Nach 11 Prozent im November 2015 liegen die türkischen und kurdischen GenossInnen wieder in fast allen Umfragen über 10 Prozent. Viele tausend Aktive sind auf der Straße, um den Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen. Wie groß dieser Erfolg wäre, versteht man nur, wenn man bedenkt, dass beide bisherige Parteivorsitzende Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag wegen angeblicher »terroristischer Propaganda« seit zwei Jahren im Gefängnis sitzen. Dutzende weitere Mitglieder, darunter mehrere Abgeordnete werden gefangen gehalten.
Demirtas muss seinen Wahlkampf als Präsidentschaftskandidat in der Zelle eines Hochsicherheitsgefängnisses führen. Seine Frau und seine Anwälte transportieren Demirtas‘ Texte nach draußen. Er sitzt mit einem weiteren HDP-Abgeordneten in der Zelle in Isolationshaft und hat noch nie einen dritten Gefangenen gesehen. Zwar ist es der HDP rechtlich erlaubt, Wahlkampf zu führen. Trotzdem kann es den Aktiven auf der Straße jederzeit passieren, dass sie von Polizisten oder Rechtsradikalen verprügelt und ihre Materialien zerstört werden.
Trotz dieser brutalen Unterdrückung und der 10-Prozent-Hürde, hat die HDP der Versuchung widerstanden, sich dem Wahlbündnis mit CHP und Iyi anzuschließen. Das ist sehr wichtig, weil die HDP in diesem Bündnis ihre Glaubwürdigkeit als linke Partei, die für soziale Gerechtigkeit, gegen Rassismus und für die Freiheit für Kurdistan eintritt, weitestgehend verloren hätte.
Neue Chancen für Linke
Niemand weiß, was Erdogan nach einem Wahlsieg mit seiner noch größeren Machtfülle tun würde. Und niemand weiß, was geschieht, falls Erdogan tatsächlich verliert. Fälscht er die Wahlen, um das zu vermeiden? Erklärt er die Wahl für ungültig? Führt er selbst einen Putsch gegen die neu gewählte Regierung? Oder hält er sich im Hintergrund, um bald an die Macht zurückzukehren, wie in Italien Silvio Berlusconi in den 90er Jahren?
Wie auch immer es Erdogan gelingt, an der Macht zu bleiben oder nicht, seine Beliebtheit bei den Menschen in der Türkei ist so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr. Und dies eröffnet Linken und Gewerkschaften neue Möglichkeiten, mit einer großen Bewegung gegen den diktatorischen Staat und für echte Demokratie zu kämpfen. Es wäre die erste in der türkischen Geschichte.
Foto: World Economic Forum
Schlagwörter: AKP, CHP, Erdoğan, HDP, Islam, MHP, Präsidentschaftswahl, Türkei