In Venezuela wird es am deutlichsten, aber der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« steckt in ganz Lateinamerika in der Krise. Decio Machado und Raúl Zibechi liefern eine Erklärung. Jan Maas hat ihr neues Buch für uns gelesen
Spätestens der Putschversuch von Juan Guaidó in Venezuela Anfang 2019 hat deutlich gemacht, dass der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in einer Krise steckt. Nie zuvor konnte die rechte Opposition die chavistische Regierung derart in Bedrängnis bringen. Dass der Putschversuch zusammenbrach, ist unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die alten Eliten in der Bevölkerung noch verhasster sind als die neuen. Dennoch bröckelt deren Unterstützung. Wie konnte es so weit kommen?
Lateinamerika: Aufstieg neuer Eliten
Einen interessanten – noch vor den jüngsten Ereignissen verfassten – Beitrag zu dieser Diskussion liefert das Buch »Die Macht ergreifen, um die Welt zu ändern? Eine Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen« von Decio Machado und Raúl Zibechi. Ein Ergebnis dieser Regierungen sei der Aufstieg neuer Eliten in die Führungsetagen des Staates. Dessen umfangreiche Sozialprogramme hätten nicht nur Armut bekämpft, sondern auch dazu beigetragen, die Führungen sozialer Bewegungen zu vereinnahmen.
Trotz unbestreitbarer Erfolge sei das Ergebnis daher im Kern eine kapitalistische Modernisierung durch ein Bündnis der neuen Eliten mit Teilen der traditionellen herrschenden Klassen. Steile These, aber mit Glaubwürdigkeit vorgetragen: Die Autoren waren Teil des Prozesses, dessen Bilanz sie ziehen. Decio Machado beriet den ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa, Raúl Zibechi begleitet die sozialen Bewegungen des Kontinents theoretisch und praktisch.
Linksregierung und Bewegung?
Machado und Zibechi zeichnen zunächst die Welle von Bewegungen und Protesten nach, die Lateinamerika seit dem Caracazo-Aufstand 1989 erfasst hatte. Auf ihrem Höhepunkt wurden ihre bekanntesten Vertreter Hugo Chávez 1999 und Evo Morales 2006 zu Präsidenten gewählt.
Doch nach den Wahlen mussten die Bewegungen einen Umgang damit finden, dass die ursprünglichen Wortführer des Protestes sich plötzlich in dessen Adressaten verwandelt hatten. Sie zeigen unter anderem am Beispiel von Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen in Brasilien 2013, wie sich soziale Proteste plötzlich gegen die Arbeiterpartei richteten.
Inzwischen markiert die Wahl des Faschisten Jaír Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens das Ende des Bewegungszyklus. Hätte es anders kommen können? Zibechi stellt das politische Modell der zapatistischen Bewegung dagegen. Insbesondere betont er Gemeinschaftsarbeit und Gemeineigentum, um zu zeigen, dass es in den zapatistischen Gebieten keinen Unterschied zwischen Eigentum und Verfügungsgewalt gibt.
Zwei marxistische Traditionslinien
Man kann fragen, inwieweit sich Erfahrungen einer Bewegung von unten in einem kleinen und isolierten Teil Mexikos auf die Politik einer nationalen Regierung übertragen lassen. Aber die Autoren weisen auf einen grundsätzlichen Punkt hin: Sie zeigen, dass es in der marxistischen Linken zwei verschiedene Traditionslinien gibt. Sie benutzen dafür Begriffe des portugiesischen Bewegungsforschers João Bernardo: »Marxismus der Produktivkräfte« und »Marxismus der Produktionsverhältnisse«.
Unter »Marxismus der Produktivkräfte« verstehen sie Versuche, eine sozialistische Umgestaltung mittels staatlicher Kontrolle der Wirtschaft von oben zu vollziehen, wie in der Sowjetunion oder Venezuela. »Marxismus der Produktionsverhältnisse« ist der Versuch einer grundsätzlichen Umwälzung der gesamten Gesellschaft von unten.
Das Buch von Machado und Zibechi hat seine Schwächen. Beispielsweise füttern die Autoren den Mythos, dass eine ungebrochene Linie von der Revolution in Russland in den Stalinismus führt. Außerdem holpert der Aufbau. Nichtsdestotrotz ist es unbedingt lesenswert. Gerade jetzt.
Das Buch:
Decio Machado/Raúl Zibechi
Die Macht ergreifen, um die Welt zu ändern? Eine Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen
Bertz + Fischer
Berlin 2019
217 Seiten
12 Euro
Schlagwörter: Lateinamerika, Venezuela