Gabriel Boric wurde Ende 2021 zum Präsidenten von Chile gewählt. Aber wer ist Boric, wer war sein Gegenkandidat und wie steht es in Zeiten der Pandemie um das Land des Neoliberalismus? Im Interview gibt Jakob Graf einen aktuellen Einblick und was Chiles Zukunft möglicherweise bringen mag
Jakob Graf war von 2007 bis 2014 in DieLinke.SDS aktiv, ist seit 2012 Mitglied der Redaktion der Zeitschrift PROKLA und promoviert zu sozial-ökologischen Klassenkonflikten in Chile. Er schreibt für amerika21 und arbeitet wissenschaftlich zu Lateinamerika und Indien. Seine Schwerpunkte liegen in der Erneuerung klassenanalytischer Forschung und einer kritischen internationalen politischen Ökonomie mit dem Ziel, einen politischen Internationalismus voranzubringen.
Hallo Jakob, du lebst aktuell in Chile. Wer ist Gabriel Boric und wofür ist er in den Präsidentschaftswahlen angetreten?
Gabriel Boric ist zwar erst Mitte 30, allerdings hat er politisch schon seit mindestens zehn Jahren viel Erfahrung gesammelt. 2011 war er einer der wichtigsten Führungsfiguren der Studierendenproteste in Chile. 2013 wurde er als Abgeordneter ins Parlament gewählt. Er kommt aus dem äußersten Winkel des chilenischen Südens, allerdings aus einer besser gestellten Familie und daher von Beginn an mit guten Bildungschancen.
Vielleicht wird Boric von einigen deshalb auch als Teil der politischen Elite gesehen und nicht als Teil des einfachen Volkes. Allerdings wäre es völlig übertrieben ihn als Teil der politischen oder wirtschaftlich herrschenden Klasse des Landes einzustufen, die in Chile aus ein paar Hundert Familien und internationalen Konzernen besteht. 2017 war Boric ein wichtiges Gründungsmitglied der neuen Partei Frente Amplio, die von Beginn an versuchte die sozialen und ökologischen Bewegungen des Landes politisch zu repräsentieren.
Die Pandemie in Chile
Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die politische Situation in Chile seit dem Aufstand gehabt?
Chile wurde von der Pandemie stark getroffen. Nicht nur weil es zu zehntausenden Toten kam, sondern auch weil der Stillstand des öffentlichen Lebens für viele enorme ökonomische Probleme mit sich brachte. Das gilt insbesondere für die, die in kleinen Betriebe und im informellen Bereich tätig sind. Nicht so schlimm beeinflusste es die formell Beschäftigten in Exportunternehmen oder im öffentlichen Sektor. Es traf also vor allem die ärmeren Klassen. Außerdem hat die Pandemie die sozialen Bewegungen ausgebremst – und davon gibt es in Chile sehr viele.
Nicht nur die feministischen, gewerkschaftlichen und ökologischen Gruppierungen sind enorm wichtig, auch die Bewegung für eine Rentenreform – in Chile ist das Rentensystem vollkommen privatisiert – hat beispielsweise schon Millionen Menschen auf die Straße gebracht. Eine besondere Rolle spielen außerdem die Proteste der indigenen Mapuche im Süden des Landes.
Estallido Social!
Welche Rolle haben die Proteste Ende 2019 für die Wahl von Boric gespielt?
Ohne diese Oktoberrebellion oder wie die Chilen:innen sagen, den Estallido Social (»sozialer Ausbruch«) ist die Wahl des außerhalb und deutlich links des eigentlichen politischen Establishments Chiles stehenden Boric‘ nicht zu verstehen. Die Proteste richteten sich vor allem gegen den Neoliberalismus mit all seinen Krisen. Chile ist das Modellland des Neoliberalismus und hat Vorbildcharakter für viele rechte Regierungen in Lateinamerika.
Das Scheitern des Neoliberalismus ist also von großer Bedeutung. Die Militärdiktatur, die bis in die 1990er Jahre andauerte, hatte sich zum Ziel gesetzt, den Neoliberalismus unter anderem in der Verfassung so festzuschreiben, dass selbst eine linke Regierung nichts grundsätzliches ändern kann. Das alles steht jetzt aber in Frage, auch wegen dem verfassungsgebenden Prozess den die Oktoberrebellion ins Rollen gebracht hat.
Wogegen richteten sich die Proteste eigentlich?
Man muss verstehen, dass die chilenische Wirtschaft seit den 1990er Jahren zwar deutlich gewachsen ist und die absolute Armut in den ersten Jahren auch deutlich rückläufig war, dass sich diesen Reichtum aber vor allem eine sehr kleine besitzende Klasse unter den Nagel gerissen hat. Das Wachstum ist zudem in den 2010er Jahren abgeflaut. Das chilenische Modell geht außerdem mit enormer sozialer Ungleichheit einher und basiert auf der Ausbeutung von Rohstoffen und ist damit ökologisch äußerst zerstörerisch.
Damit kommt es nicht nur zu ökologischen Krisen überall im ländlichen Raum, der zudem weiterhin von großer Armut betroffen ist, sondern auch zu sozialen Problemen in den Städten. Selbst gut gebildete Teile der Bevölkerung mit Studienabschluss finden nur prekäre Jobs und können sich die hohen Lebenshaltungskosten in den Städten kaum leisten. Das Rentenniveau ist so niedrig, dass viele Rentner:innen davon überhaupt nicht leben können.
Darüberhinaus ist alles privatisiert, nicht nur das Renten-, sondern auch das Bildungs- und Gesundheitssystem. Dadurch sind die allermeisten Chilen:innen extrem verschuldet und sehr viele zahlungsunfähig. Dieser Widerspruch zwischen Prekarität der breiten Masse und großen Profiten der kleinen besitzenden Klasse ist Ende 2019 explodiert.
Chiles Wahlen 2021
Boric‘ Gegenkandidat war José Antonio Kast. Wer ist Kast und welche gesellschaftlichen Kräfte standen hinter ihm?
Antonio Kast, der in der Präsidentschaftswahl von 2021 gegen Boric verlor, ist wesentlich älter als Boric. Er gründete 2019 die äußerst rechte Republikanische Partei Chiles, nachdem er einige Jahre zuvor aus einer rechtskonservativen Partei ausgestiegen war. Er ist Sohn eines deutschen Wehrmachtsoffiziers und NSDAP-Mitglieds. Sein Bruder war Minister in der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Er vertritt eine harte Anti-Migrationsposition, eine Politik der harten Hand gegen soziale Proteste, Gesetzesbrecher:innen und die Bewegung der indigenen Mapuche im Süden des Landes.
Kast hat und weiß die Unterstützung der besitzenden Klasse des Landes, sowie vermutlich auch des Militärs hinter sich. Dass er so gut Abschnitt in den Wahlen und im zweiten Wahlgang knapp über 44 Prozent der Stimmen (gegen fast 56 Prozent für Boric) erreichte, lag mitunter an seinem anti-kommunistischen Wahlkampf, der in der Bevölkerung nach den Jahren der Corona-Pandemie Angst vor weiteren ökonomischen und politischen Unsicherheiten schürte.
Wie ist es Boric gelungen, seine anfängliche Niederlage aus dem ersten Wahlgang im Zweiten zu übertreffen?
Nach knapp zwei Jahren der Pandemie und der politischen und sozialen Krise nach der Oktoberrebellion von 2019 wollen viele Chilen:innen zurück zur Normalität. Während Boric die Vertiefung des Veränderungsprozesses vertritt, der mit den Protesten eingeleitet wurde, warb Kast eben mit dem »Versprechen« der Stabilität, Sicherheit und Ordnung. Kast schürt Angst vor Veränderungen und die Furcht vor ökonomischer Unsicherheit. In der ersten Wahlrunde konnte Boric außerdem auch viele Linke und notorische Nicht-Wähler:innen noch nicht überzeugen.
Chile und Gabriel Boric
Wer hat wann und wo warum im zweiten Wahlgang für Boric gestimmt?
Die chilenischen Bewegungen sind einfach sehr kritisch gegenüber allen, die zum Establishment der Politik gehören. Auch Boric wird dort irgendwie dazugerechnet. Außerdem hat er in den TV-Duellen keine optimale Figur abgegeben. Das hat sich im Wahlkampf für die zweite Runde deutlich verbessert. Auch hat Boric in der zweiten Wahlrunde stark bei Nichtwähler:innen zugelegt. Er hat seinen Wahlkampf stärker auf die ärmeren Vororte und die ländlichen Gebiete ausgerichtet.
Am Ende war Boric erfolgreich: Weil viele die Vertiefung der Veränderungen gegenüber der Rückkehr der alten Normalität wünschen, aber auch weil eine Mehrheit auf keinen Fall einen Faschisten an der Macht haben wollte. Insofern muss gesagt werden, dass beim zweiten Wahlgang viele auch einfach gegen Kast gestimmt haben.
Wenn wir auf Boric‘ Vergangenheit schauen, was hat er zwischen 2011 und 2019 gemacht, auch hinsichtlich des »Friedensabkommens« vom 15. November 2019?
Boric war ein sehr wichtiger Kopf der Studierendenbewegung seit 2011 und hat der Bewegung Parteiform gegeben. Die Frente Amplio hat seitdem versucht, die sozialen und ökologischen Forderungen der Bewegungen in den politischen Institutionen zu repräsentieren. Das hat sie insbesondere im Zuge der Oktoberrebellion und in den darauffolgenden Monaten – also mit dem Druck der Straße – geschafft.
Nur so konnte das Friedensabkommen Ende 2019 durchgesetzt werden, in dem sich die rechten Parteien darauf eingelassen haben, dass es zu einer Abstimmung über eine neue Verfassungsgebung kommen soll. Weil dieses Friedensabkommen gleichzeitig aber auch eine Beruhigung der Proteste zum Ziel hatte, wurde der Kompromiss von vielen aber nicht nur positiv bewertet und von einigen radikaleren Strömungen auch als Verrat abgetan.
Die Rechten formieren sich
Was ist von den Kräften hinter Kast in Zukunft zu erwarten?
Es ist nicht leicht zu sagen, welche Rolle Kast in den kommenden Monaten und Jahren spielen wird. Er vertritt ja auch innerhalb der rechten eine radikalere Position. Gleichzeitig wollen von den Kräften der Mitte bis zur radikalen Rechten alle verhindert, dass es der neuen Regierung unter Boric und dem Verfassungskonvent in den kommenden Jahren gelingt, wirklich linke Politik zu gestalten und grundsätzliche Veränderungen entgegen dem neoliberalen Modell durchzuführen.
Werden die Kräfte hinter Kast den Wahlsieg von Boric respektieren?
Entscheidend ist hier nicht nur, dass die Regierung unter Boric alleine keine Mehrheiten in Parlament und Senat hat, sondern, dass sie auf einen gelingenden Prozess der Verfassungsänderung angewiesen ist. Nur eine neue Verfassung eröffnet die Freiheiten für eine linke Regierung wirklich soziale und ökologische Politik gegen den in der bisher eigen Verfassung festgeschriebenen und vom Verfassungsgericht streng verteidigten Neoliberalismus zu machen. Die Rechte wird alles tun, der neuen Regierung und dem Prozess der neuen Verfassung Steine in den Weg zu legen.
Wie ist das Verhältnis zwischen der Linken, den sozialen und ökologischen Bewegungen und Boric?
Die Bewegungen werden die Regierung unter Boric, die im März ins Amt kommt, kritisch begleiten. Es gibt keine bedingungslose Unterstützung. Das ist auch sehr nachvollziehbar. Ihr Druck von außen wird entscheidend sein. Die Rechte und die politische Mitte werden alles tun um innerhalb und außerhalb der Institutionen der Regierung und dem Verfassungsprozess das Leben schwer zu machen.
Ist die linke Regierung erfolgreich, dann geht es der besitzenden Klasse Chiles ans Leder. Das könnte auch auf andere Länder Lateinamerikas ausstrahlen, wo derzeit ein allgemeine Linkstrend zu verzeichnen ist. Es ist also mit einer Zuspitzung zu rechnen, falls Boric seinen Versprechen treu bleibt. Falls er mit seinen Versprechen bricht und einknickt, dann wird er die Unterstützung der sozialen Bewegungen verlieren und damit den wichtigsten Verbündeten, den die Regierung hat.
Vielen Dank für das Interview, Jakob!
Interview: Simo Dorn und Jan Maas
Foto: Paulo Slachevsky
Schlagwörter: Chile, Lateinamerika, Neoliberalismus