Letzten Dezember wurde der Präsident von Peru, Pedro Castillo, seines Amtes enthoben und verhaftet. Die Reaktion der Bevölkerung: Eine Massenbewegung. Die Wut über Jahrzehnte der Unterdrückung entlädt sich. Hintergründe von Veronika Hilmer
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Die politische Krise in Peru hat mehrere Ursachen: Die Macht einer Oligarchie, die mit Hilfe juristischer Mittel jegliches demokratische Handeln blockiert, ein zutiefst korruptes politisches System mit Verbindungen zu Drogenkartellen, massive ökonomische Ungleichheit, ein stark verwurzelter Rassismus gegen die indigene Landbevölkerung und ein Militär, dessen Geschichte von Menschenrechtsverletzungen und exzessiver Gewalt durchzogen ist.
Peru: Drei Präsidenten innerhalb von fünf Tagen
Die tiefe Klassenspaltung im Land drückt sich in der jahrelangen politischen Instabilität aus. In den letzten sieben Jahren kamen sechs Präsidenten an die Macht. Den Vorgängern warf man jeweils Korruption vor. Einige kamen vor Gericht oder sie sind im Gefängnis. So verloren in Peru in den letzten Jahren mehrere Präsidenten ihr Amt. Im Jahr 2020 waren es drei Präsidenten innerhalb von fünf Tagen.
Pedro Castillo, Präsident der Indigenen
Pedro Castillo wurde nach erfolgreicher Wahl im Juli 2021 als neuer Präsident Perus vereidigt. Er ist ein indigener Grundschullehrer, Landwirt und Gewerkschafter aus der Stadt Chota in der Region Cajamarca in den nördlichen peruanischen Anden und Kandidat der linken Partei Perú Libre (Freies Peru). Mit seinem Slogan »Keine Armen mehr in einem reichen Land!« und einem Wahlkampf für eine gerechtere Verteilung des Ressourcenreichtums sowie Zugang zu guter Bildung und Gesundheitsversorgung entfachte er eine große Wirkung vor allem auf die armen und abgehängten Einwohner:innen der Anden und des Amazonas. So kam er als relativ unbekannter Politiker in sein Amt.
Kritik bekam er – außer von rechtskonservativer und ultrarechter Seite – auch von Linksliberalen und LGBTQI-Aktivist:innen. Er vertritt ein klassisches Familienbild, äußerte sich kritisch gegenüber gleichgeschlechtlicher Ehe und ließ feministische Forderungen in seiner Agenda außen vor. Das liegt auch an seinem evangelikalen Hintergrund.
Die Elite dominiert den Kongress von Peru
Der Kongress wird jedoch dominiert von einer rechtskonservativen, neoliberalen Elite um Keiko Fujimori von der Partei Fuerza Popular (Volksmacht). Sie ist die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori. Die politische und ökonomische Elite, die in Lima regiert, verfügt über ein Netzwerk aus Jurist:innen und Journalisten:innen, die für sie arbeiten. Sie dominieren alle großen Medien, vor allem das nationale Fernsehen. Im Parlament war Castillo einem Haifischbecken aus sehr erfahrenen politischen Opponent:innen ausgesetzt, die nur darauf warteten, dass er einen Fehler machte, um ihn abzusetzen. Die Elite Perus wollte nicht zulassen, dass ein indigener Lehrer vom Land Präsident wurde und ihre Macht bedrohte.
Korruptionsanklagen prägen Castillos Amtszeit
Das politische Establishment um Keiko Fujimori blockierte durch seine Mehrheit im Kongress nicht nur jeden Versuch von Castillo, irgendeine Reform auf den Weg zu bringen. Es versuchte, ihn mit allen verfügbaren Mitteln anzugreifen. Während seiner Amtszeit kam es beispielsweise zu Anklagen der Staatsanwaltschaft gegen den Präsidenten und seine Minister:innen, in denen in mehreren Fällen wegen Korruption und Vetternwirtschaft ermittelt wurde.
Korruption ist in Peru ein strukturelles Problem, jedoch hatten viele der Anklagen kaum Substanz und dienten der politischen Diffamierung. Kritiker:innen beklagen schon seit langem eine Verflechtung von Politik und dem bestechlichen Justizapparat. Gegen Keiko Fujimori und weitere Parteimitglieder liefen ebenso wiederholt Verfahren wegen Korruption, aus denen sie kurioserweise immer herauskommt.
Wechsel im Kabinett zu Lasten der Inhalte
Die Präsidentschaft von Castillo wurde durch die Instabilität seines Kabinetts und die rechte Opposition erschwert. Es gab über siebzig Kabinettsänderungen durch Rücktritte einzelner Mitglieder:innen. In den 18 Monaten seiner Amtszeit hatte Castillo fünf Premierminister. Dazu kam ein Machtkampf innerhalb seiner Partei Perú Libre, der schon vor seinem Amtseintritt begann, infolgedessen er aus dieser austrat.
Der Präsident wird abgesetzt und verhaftet
Im August 2022 folgte das sechste Ermittlungsverfahren gegen Pedro Castillo wegen Korruption durch die Staatsanwaltschaft. Zuvor hatte die Opposition in seiner einjährigen Amtszeit zweimal versucht, ihn des Amtes zu entheben. Zwei Monate später reichte die Generalstaatsanwaltschaft des Landes wieder eine Verfassungsklage wegen Korruption ein.
Am 7. Dezember 2022, dem Tag der Abstimmung über das dritte Amtsenthebungsverfahren, rief Castillo vorher in einer Erklärung im nationalen Fernsehen den Ausnahmezustand aus. Er kündigte an, er wolle den Kongress auflösen und durch eine »außerordentliche Notstandsregierung« ersetzen. Er bekräftigte, dass innerhalb von höchstens neun Monaten »ein neuer Kongress mit konstituierenden Befugnissen zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung« gewählt und einberufen werden würde. Das sind im Kern zwei der Hauptforderungen der aktuellen Bewegung. Doch der Inhalt des politischen Projekts, die Ziele der Forderungen in der Ansprache des Präsidenten, wurden vom Kongress ignoriert. Vielmehr sah die Mehrheit die Möglichkeit, ihn schnell zu entmachten. Das Staatsoberhaupt wurde in einer vom Kongress einberufenen Dringlichkeitssitzung in einem neuen, also vierten, Amtsenthebungsverfahren abgesetzt.
Die Polizei verhaftete Castillo »provisorisch« auf dem Weg zur mexikanischen Botschaft, die seiner Familie politisches Asyl zugesagt hatte. Menschenrechtler:innen und der Interamerikanische Gerichtshof kritisieren die rechtsfreie und gewaltvolle Art der Verhaftung und die Gefängnishaft selbst, mit dem wochenlangen Verbot, seine Familie zu kontaktieren. Die Absetzung war auf die eine oder andere Weise nur eine Frage der Zeit.
Staatsstreich in Peru, aber von wem?
Die rechte Presse einigte sich auf die Erzählung eines Staatsstreichs durch Castillo. Doch es gibt auch andere Versionen der Erzählung. Der Präsident von Mexiko, Andrés Manuel López Obrador, der schon während der gesamten Amtszeit die Demütigungen und Angriffe gegen Castillo kritisierte, bezeichnet die Absetzung als unrechtmäßig und als Putsch der Rechten gegen den Präsidenten.
Ferner traf sich die US-Botschafterin in Peru und ex-CIA-Agentin Lisa Kenna einen Tag vor Castillos Absetzung mit dem peruanischen Verteidigungsminister, der die Verhaftung Castillos anordnete. Für viele Linke und nicht-staatstragende Medien in Peru war dieses Vorgehen eindeutig ein Regimewechsel.
Die indigene Bevölkerung wehrt sich
Die Protestwelle ging nach der Verhaftung Castillos in den großen ländlichen, andinen Regionen im Süden des Landes los, wo der Großteil der Quechua und Aymara sprechenden Bevölkerung lebt. In Peru werden über 40 verschiedene Sprachen gesprochen. Ihre Gemeinschaften verteilen sich aufs gesamte Land, von der Küste über die Berge bis in den Amazonas. Die Unruhen weiteten sich über Wochen aus, und seit Mitte Januar kamen fast jeden Tag Demonstrant:innen aus dem ganzen Land nach Lima, um, wie sie sagen, Lima einzunehmen (La Toma de Lima).
Für die indigene Bevölkerung, die in der Person Castillos zum ersten Mal einen Repräsentanten ihresgleichen an der Regierung sah, hat die dominante politische Klasse in Lima mit der Absetzung des Präsidenten einen von ihnen aus der Provinz und damit sie alle erniedrigt. Der Höhepunkt einer Geschichte von jahrzehntelanger Diskriminierung, Klassismus und strukturellem Rassismus.
Regierung richtet Massaker an
In mehreren Regionen des Landes ermordeten Militärs Demonstrierende.
Die tödlichsten Massaker an einem Tag ereigneten sich in den Südregionen Ayacucho und Puno. Bei dem Versuch, den Flughafen einzunehmen, tötete das Militär am 15. Dezember mindestens zehn Menschen in der Stadt Ayacucho der gleichnamigen Region, wo die Regierung während der Proteste insgesamt fast 400 Soldaten der Anti-Terror-Einheit einsetzte.
Der Vorwurf des linken Terrorismus
Die rechte Presse, d.h. alle großen Medien und die Regierung versuchen, die Proteste als mutmaßlich terroristische Handlungen zu delegitimieren, vor allem die in den ländlichen Regionen. Der gängigste Vorwurf erschöpft sich darin, die Demonstrant:innen seien alle »Terrucos« – das umgangssprachliche Wort für Terroristen in Peru.
Dieser Vorwurf seitens des Establishments hat in Peru einen Bezug zur eigenen Geschichte. Es wird unterstellt, die Proteste seien geführt von der ehemaligen linksterroristisch-maoistisch geprägten Organisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) oder von ihren Nachfolgeorganisationen, z.B. der Partei Movadev (Movimiento por la Amnistía y los Derechos Fundamentales), mit dem Ziel eines Putsches.
In den großen Medien gibt es keine Meinungen, die den Status Quo in Frage stellen und stattdessen systematische Desinformation. Ein wichtiges Sprachrohr der Proteste sind deshalb die nicht-staatstragenden Medien und der Austausch der Aktiven in den sozialen Medien. Es gibt einige wenige Zeitungen wie »Hildebrandt« und andere Medienkanäle, die u.a. auf Facebook, Youtube oder Twitter gesendet werden. Die Demonstrant:innen kommunizieren hauptsächlich über soziale Medien wie TikTok, Twitter, Whatsapp, Facebook und Youtube. Auch über 100 Tage nach der Übernahme durch Boluarte gehen die Proteste in Peru weiter.
Schlagwörter: Lateinamerika, Peru, Putsch