Der rechte Präsident von Kolumbien Duque hat versucht, die Bevölkerung für die Kosten der Pandemie zahlen zu lassen. Das hat einen alten gesellschaftlichen Konflikt eskalieren lassen. Von Franziska Wöckel und Alfonso Pinzón
Etwa 24 Menschen sind seit Ende April durch Polizeigewalt in Kolumbien ums Leben gekommen. Hunderte wurden verletzt. Proteste gegen eine Steuerreform, die die Ärmsten und die Mittelschicht zur Kasse gebeten, aber gleichzeitig Unternehmen verschont hätte, eskalieren und erreichen ein bisher ungekanntes Ausmaß.
Unter jungen Menschen in Kolumbien scheint ein neues soziales Bewusstsein zu entstehen, das die großen Ungerechtigkeiten nicht mehr akzeptiert, die seit der Unabhängigkeit des Landes vor zwei Jahrhunderten an der Tagesordnung sind. Es ist ein politischer Sturm, der Tag für Tag an Dynamik gewinnt.
Kolumbiens Bruttoinlandsprodukt ist durch die Pandemie stark gesunken – um 7,1 Prozent, wegen des Verfalls des Ölpreises. Dieser Rückgang hat ein Loch in den Staatshaushalt gerissen, das Duque nun zu stopfen versucht. Seine Priorität: internationale Rating-Agenturen sollen nicht Kolumbiens Kreditwürdigkeit herabstufen.
Kolumbien: Ein Friedensprozess, der keiner ist
Die Menschen gehen nicht nur auf die Straße, um ihren Unmut über eine inzwischen zurückgenommene ungerechte Steuerreform, die den hübschen Namen »Ley de Solidaridad Sostenible« (Gesetz der nachhaltigen Solidarität) trägt, kund zu tun. Sie protestieren gegen den »Uribísmo« (nach dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe 2002-2010), Armut, Ungerechtigkeit, für Menschenrechte, gegen eine polarisierende Regierung, für die Verteidigung von bedrohten Menschenrechtler:innen, für eine Verbesserung von sozialer Sicherheit während der Pandemie, für eine Polizeireform und vieles mehr.
Diese Proteste haben eine lange Vorgeschichte. Jenseits der Kultur der Gewalt, die sich in Kolumbien über Jahrzehnte tief festgesetzt hat, haben sie auch mit dem Friedensabkommen von 2016 zu tun.
Das Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerrilla sollte den bewaffneten Konflikt, die sogenannte »la violencia« von 1928-1958 und den sogenannten »Kolumbianischen Konflikt« seit 1960 beenden. Der Staat hat sich mit dem Abkommen auch zu einem sozialen Frieden verpflichtet, der ihn zur Reorganisation und Reduzierung der Streitkräfte verpflichtet, was bis heute nicht erfolgt ist. Die Polizei ist dem Verteidigungsministerium und nicht dem Innenministerium unterstellt. Es gibt nach wie vor keine echte Trennung zwischen Polizei und Militär. Die Militarisierung der Polizei ist ein weiterhin ungelöstes Problem. Der rechtskonservative Präsident Duque (seit 2018) war bisher nicht bereit, die Demilitarisierung umzusetzen.
Großgrundbesitz und Armut
Ähnlich ist es mit anderen Teilen des Friedensabkommens. Man hatte 2016 eine Landverteilungsreform und finanzielle Unterstützung für Kleinbauern ausgehandelt. Der größte ungelöste historische Konflikt Kolumbiens ist nach wie vor die ungerechte Verteilung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes und seine krasse Konzentration in die Händer weniger, schwer reicher Großgrundbesitzer.
Kaum etwas davon wurde bisher umgesetzt. Stattdessen werden weiterhin exponierte Aktive ermordet. Staatliche Strukturen agieren, als hätte es nie ein Friedensabkommen gegeben. Das Machtvakuum, das durch die Abwesenheit der FARC entstanden ist, wurde durch kriminelle Banden und Drogenkartelle gefüllt.
Militärische Aufstandsbekämpfungspolitik ist in Kolumbien eine Schlüsselstrategie, um die Sicherheit der Ölfirmen zu garantieren und die Interessen der Großgrundbesitzer zu wahren.
Proteste schon 2019
Die rechtskonservative Regierung Duque setzt den Schwerpunkt der öffentlichen Ausgaben auf die Aufrechterhaltung des internen Krieges. In Kolumbien ist die Regierung dank des starken, gut ausgestatteten Militärs und einer militarisierten Polizei jederzeit in der Lage, Massenaufstände zu unterdrücken – weshalb das Land ironischerweise als eines der aus westlicher Sicht politisch stabilsten der Region gilt.
Ein anderer Teil der Militärausgaben geht mit tatkräftiger Unterstützung der USA in die Aufstandsbekämpfung in ländlichen Regionen.
Die Wut über die wirtschaftsliberale Politik der konservativen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte, die hohe Arbeitslosigkeit, Armut, ungleiche Bildungschancen, das Gesundheitssystem, sowie die Gewalt und Ermordung von aktiven Bürgerrechtler:innen durch Polizei und Sicherheitskräfte ist kontinuierlich gewachsen. Sie entlud sich schon 2019 in Massenprotesten und Demonstrationen im ganzen Land.
Eine neue Bewegung in Kolumbien
Die Corona-Krise hatte diese Proteste zwar zunächst unterbrochen, die bestehenden Probleme aber verschärft. Es gärte weiter unter den Bedingungen der Pandemie und des Lockdowns.
Der jetzige Generalstreik wurde von einem Nationalen Streikkomitee (Comité Nacional de Paro) ausgerufen, das sich aus verschiedenen Gewerkschaften zusammensetzt. Darüber hinaus werden die Proteste im ganzen Land von der Arbeiterschaft, Studierenden, unzähligen jungen Menschen, indigenen Gruppen sowie auch Umweltschützer:innen getragen. Es geht um nicht weniger als die Zukunft des Landes.
Indigene im Zentrum
In Cali, einer Millionenstadt im Westen des Landes, rissen die indigenen Misak eine Statue des Stadtgründers, des Spaniers Sebastián de Belalcázar, ab, der für sie das Symbol schlechthin der grauenvollen, gewalttätigen Ära der Conquista ist. Die Indigenen protestieren gegen eine Mordserie an indigenen Sozialaktivist:innen, gegen Massaker und Unsicherheit in indigenen Territorien.
Weiterhin nehmen die Proteste gegen die Glyphosatsprühflugzeuge im Rahmen der Drogenbekämpfung zu. Indigene und bäuerliche Organisationen haben Sitzblockaden und Petitionen organisiert. Duque hatte ein Dekret zur Wiedereinführung dieser Flüge, die seit 2015 ausgesetzt waren, wieder in Kraft gesetzt.
In keinem Land werden mehr Umweltaktivistinnen und -aktivisten ermordet als in Kolumbien. Wenn Land für Bergbau, Agrar- und Forstwirtschaft oder Dämme zur Wasser- und Stromerzeugung erschlossen werden, sind Menschen, die dort leben, oft ein Hindernis für die Pläne der Unternehmen. Und diese Morde, deren Auftraggeber meist indirekt diese Unternehmen sind, werden kaum verfolgt.
Jugendliche, Studierende und »Mittelschicht«
Einiges ist bei den aktuellen Protesten ganz neu. Sie sind diesmal so breit getragen und aufgestellt wie noch nie. Sie sind so jung wie nie zuvor: Viele der protestierenden Jugendlichen sind noch nicht einmal volljährig, sind im Internet aktiv und wurden digital politisiert. Es laufen Mobilisierungen und Aufrufe über Twitter, Facebook, Whatsapp und Instagram. Es sind Studierende, aber auch Schüler:innen, die für ihre Zukunft auf die Straße gehen.
Auch die Mittelschicht ist auf der Strasse. Die Bezeichnung »Mittelschicht« ist nicht vergleichbar mit Deutschland. Viele erhalten nicht einmal den Mindestlohn. Die Zahl derjenigen, die armutsgefährdet sind, ist durch die Pandemie gestiegen. Sie alle treibt die Angst, durch Pandemie und Reformen tiefer in die Armut abzurutschen.
Neu ist ebenfalls, dass die privaten Eliteuniversitäten der Hauptstadt, wie die Los Andes oder die Javariana, ihre Studierenden nicht nur dazu ermutigen, sich an den Protesten zu beteiligen, sondern sogar selbst Proteste organisieren. Die Leitungen der Universitäten haben sich bereits öffentlich kritisch zur Polizeigewalt geäußert. Sowas hat es noch nie gegeben. Das sind die Kaderschmieden der Elite, die Universitäten, an denen die Oberschicht studiert, wenn sie das nicht in den USA tun.
Staatliche Gewalt in Kolumbien
Der Staat hat mit unfassbarer Härte reagiert. Gebäude brennen, die Polizei schießt offenbar wahllos auf Protestierende. Der Ex-Präsident Uribe und Parteivorsitzender der ultrakonservativen Partei Centro Democratico schrieb auf Twitter:
»Unterstützen wir das Recht von Soldaten und Polizisten, ihre Waffen zu benutzen, um ihre körperliche Unversehrtheit zu verteidigen und um Menschen und Eigentum vor den kriminellen Handlungen des Terrorismus zu schützen.«
Das wurde nicht zu Unrecht als Aufruf zur Gewalt gegen die Proteste verstanden. Der Tweet wurde inzwischen gelöscht.
Regierung unter Druck
Verteidigungsminister Molano stieß ins gleiche Horn und versuchte die Proteste als »kriminell« und »von der Guerrilla finanzierte Aktionen« und »terroristische Gefahr« zu diskreditieren.
Währenddessen werden Forderungen nach Duques Rücktritt bei den Protesten lauter, die Regierung gerät dabei immer mehr unter Druck.
Inzwischen haben sich sogar nationale Ikonen wie Shakira, Juanes und Salsa-König Rúben Blades aus Panamá zu Wort gemeldet und ihrer Sorge Ausdruck verliehen oder gar die Regierung zur Mäßigung aufgefordert.
Die Rolle der Pandemie
Wer trotz der Pandemie auf die Straße geht, muss einen guten Grund dafür haben oder völlig verzweifelt sein. Bei einer Bevölkerung von 50 Millionen sind Stand Anfang Mai über 75.000 Menschen gestorben, 3 Millionen sind infiziert. Im letzten Jahr ist die Zahl der in Armut lebenden Menschen rasant gestiegen, heute leben 42 Prozent in Kolumbien unter der Armutsgrenze.
Im Land gibt es mittlerweile knapp 7,5 Millionen Menschen in extremer Armut, also Menschen, die nicht einmal die minimale Kalorienzufuhr zum Überleben haben. Dazu kommen über 7 Millionen Binnenflüchtlingen durch Vertreibung und bewaffnete Konflikte.
Das kolumbianische Gesundheitssystem ist privatisiert, die staatlichen Subventionen wurden auf die Versicherten umgelegt. Die allermeisten verfügen über eine Krankenversicherung. Bei den Kosten, der Qualität und den Konditionen hält sich der Staat raus. Aktuell plant die Regierung weitere Änderungen, gegen die ebenfalls protestiert wird.
Der innere Feind
Ganz entscheidend wird die Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC von 2016 sein. Werden die darin enthaltenen sozialen Forderungen nicht umgesetzt, wird kein gesellschaftlicher Friede möglich sein. Die Gespräche mit der anderen, neben der FARC kleineren, Guerrilla ELN hat Duque 2018 abgebrochen. Die Guerrilla hat sich inzwischen wieder in die Berge zurückgezogen und ihre Führung ist nach den gescheiterten Verhandlungen teilweise in Kuba geblieben. Kuba will gerne weiter vermitteln und auch die ELN signalisiert Gesprächsbereitschaft, nur Duque beharrt weiterhin auf ihrer Auslieferung.
Der extremen politischen Rechten ist der traditionelle Sündenbock durch das Friedensabkommen abhanden gekommen. Jede soziale Bewegung konnte zuvor kurzerhand als »Guerrilla-sympathisierend« oder gar von der Guerrilla finanziert diskreditiert werden. Venezuela als externer Sündenbock reicht nicht aus, die Elite braucht auch einen internen Feind.
Wahlen in 2022
Die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr werden die nahe Zukunft Kolumbiens bestimmen. Das aktuelle Klima der extremen politischen Polarisierung wird sich verschärfen. Insgesamt gibt es weniger rechtsgeneigtes und mehr linksgeneigtes Wählerpotenzial als im November. Die mittig-geneigten werden weniger.
Diese Wahl wird zwischen Gustavo Petro, einem linken Kandidaten, der wegen seiner Vergangenheit als Guerillakämpfer der M19 als Radikaler gilt und der bei den vergangenen allgemeinen Wahlen 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, und seinem bald zu bestimmenden Gegner von den Rechtskonservativen entschieden werden.
Die Verfassung verbietet Duque eine erneute Kandidatur. Der rechte Kandidat wird mit ziemlicher Sicherheit von Ex-Präsident Uribe, der bis heute die mächtigste politische Kraft im Land ist, ausgewählt.
Erster Erfolg der Proteste
Uribes Spiel basiert stets auf dem Schüren von Angst vor dem Gespenst des Kommunismus, angeheizt durch die verzweifelte wirtschaftliche Situation des Nachbarlandes Venezuela. Er hat seinen eigenen Sohn Tomás ins politische Rampenlicht gerückt, und die Chancen stehen gut, dass er der Kandidat sein wird, der Gustavo Petro in der kommenden politischen Schlacht gegenübersteht.
Möglich wäre auch eine Kandidatur der aktuellen konservativen Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez, die aber gegen Petro chancenlos wäre, wie aktuelle Umfragen zeigen.
Dass Duque seine Steuerreform zurückgezogen hat, wird als Erfolg der Proteste gewertet. Inzwischen werden weitere sozialpolitische Forderungen laut. Werden die aktuellen Proteste stark genug sein, um sich in eine echte Massenbewegung zu verwandeln, die in der Lage ist, das neoliberale oligarchische Regime in Kolumbien zu stürzen? Es ist noch zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können.
Solidarität mit wem?
Auffällig ist jedenfalls, dass Außenminister Heiko Maas (SPD) angesichts der tödlichen Gewalt des Staates gegen Protestierende in Kolumbien schweigt. Während des Putschversuches in Venezuela 2019 hatte er sich früh hinter die Putschisten gestellt und staatliche Gewalt beklagt.
Auf der anderen Seite organisieren Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt seit Tagen Kundgebungen und Onlineaktionen in Solidarität mit den Protesten in Kolumbien. In den nächsten Tagen geht es weiter, auch in Deutschland:
Berlin (Brandenburger Tor) 8. Mai, 15 Uhr
Bremen (Onlineveranstaltung) 7. Mai, 17.30 Uhr
Innsbruck (Annasäule) 7. Mai, 18 Uhr
Jena (Holzmarkt) 8. Mai, 15 Uhr
Tübingen (Holzmarkt) 8. Mai, 16 Uhr
Wiesbaden (Bahnhofsplatz) 7. Mai, 18 Uhr
Weitere Termine gerne an redaktion@marx21.de schicken.
Foto: Sergio Blanco – Instagram @SERGIO_TRAVELS
Schlagwörter: Guerilla, Lateinamerika