Max Czollek hat mit »Gegenwartsbewältigung« eine Analyse des Verdrängens und Kleinredens von Rassismus, Ausgrenzung und Rechtem Terror vorgelegt. Mona Mittelstein hat das Buch gelesen
Die Covid-19-bedingten Kontaktbeschränkungen kamen zu einer günstigen Zeit für Max Czolleks neues Buch »Gegenwartsbewältigung«. Er hat es im Frühjahr 2020 unter Einbeziehung der Corona-Maßnahmen überarbeitet und veröffentlicht. Am Anfang steht die These, dass die übergroße Mehrheit im März 2020 zu Komplizinnen und Komplizen eines Systems wurde, »das manche Menschen verrecken lässt und andere nicht«. Das Sterben an den europäischen Außengrenzen und die Nazistrukturen in Bundesbehörden werden nicht deswegen nicht beendet, weil es an Möglichkeiten fehlt, sondern am Willen.
Diesen Aspekt greift Czollek immer wieder auf. Er will belegen, dass sich diese Komplizenschaft nicht erst mit Corona entwickelt hat. Sie findet ihren Ausdruck in einer Solidarität, die nicht allumfassend ist. Vielmehr sei diese Solidarität auf Gruppen beschränkt, die mehr und mehr völkisch gedacht werden. So wie die »deutsche Leitkultur«: Diese würde laut Philipp Amthor Jüdinnen und Juden vor (angeblich) antisemitischen Musliminnen und Muslimen beschützen. Diese »deutsche Leitkultur« lässt dabei aber außer Acht, dass Musliminnen und Muslime »weiterhin von deutschen Nazis angegriffen werden«.
Blindheit gegenüber rechtem Terror
Czollek arbeitet sich durch die deutsche Nachkriegsgeschichte, um zu ergründen, woher die Blindheit gegenüber dem rechten Terror rührt. Warum fühlen sich Vertreterinnen und Vertreter dieses Staates davon nicht einmal dann bedroht, wenn der Terror die eigenen Leute trifft? Czollek plädiert dafür, den Antifaschismus der DDR-Führung als Versuch ernst zu nehmen, um das Ausmaß seines Scheiterns ermessen zu können. Er frägt, ob es Zufall sei, dass die DDR endete, als eine neue Generation »nach dem Ruder griff«, die den Antifaschismus als Entlastungserzählung der eigenen Vergangenheit nicht mehr bedurfte.
Immer wieder beleuchtet Czollek die Wirkmacht der Sprache und die ihr innewohnende Gewalt: Die Umbenennung von Rassismus in »Fremdenfeindlichkeit« in den 1990er Jahren habe den Angreiferinnen und Angreifern die Definitionsmacht zugewiesen – und damit ein Gefälle zwischen Fremden im Gegensatz zu Einheimischen erzeugt. Schließlich schaffte der Bundestag im Mai 1993 das uneingeschränkte Recht auf Asyl ab und nannte als Begründung die zunehmende Fremdenfeindlichkeit. Dieses Zugeständnis, das bis heute massiv nachwirkt, »haben sich die Gewalttäterinnen und -täter und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer gut gemerkt«, schreibt Czollek.
Czolleks Gegenentwurf
Als Gegenentwurf propagiert er eine radikale Vielfalt und einen komplexen Intersektionalismus: Aus dem Bewusstsein für »die Komplexität gesellschaftlicher Diskriminierungsstrukturen« und die Gleichzeitigkeit von Privileg und Diskriminierung entsteht das Konzept des Verbündet-Seins. Als Verbündeter oder Verbündete setzt man an Stellen eigener Privilegiertheit seine Handlungsmacht für die Rechte derer ein, die an diesen Stellen diskriminiert werden. Man agiert also nicht gegen Diskriminierung, weil sie einen persönlich trifft, sondern weil sie grundsätzlich nicht hinnehmbar ist. Die wichtige Frage laute, so Czollek, »wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die weniger diskriminierend und weniger gewaltvoll ist als die gegenwärtige«.
»Gegenwartsbewältigung« ist ein Buch, das mit einem angenehmen Erzählstil Lesende dazu bringt, sich mit ihrer eigenen Rolle kritisch auseinanderzusetzen. Das Buch ermutigt Lesende dazu, eigene Privilegien zu identifizieren und sich als Verbündete einzusetzen.
Gegenwartsbewältigung
Hanser Verlag
208 Seiten
August 2020
20,00 Euro
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Antirassismus, Antisemitismus, Diskriminierung, Rassismus