Bernd Riexinger, der Vorsitzende der Partei DIE LINKE, schlägt in seinem neuen Buch verbindende Klassenpolitik als Weg aus der Krise der Gewerkschaftsbewegung vor. Was das ist, sagt er im marx21-Gespräch
marx21: In deinem jetzt erschienenen Buch »Neue Klassenpolitik« stellst du das Konzept einer »verbindenden Klassenpolitik« vor. Was ist das?
Bernd Riexinger: Das Konzept der verbindenden Klassenpolitik ist meine Antwort auf die Spaltung und Schwächung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Es geht darum, den Konflikt zwischen »uns hier unten« und »denen da oben« wieder offensiv auszufechten und als Gegenmodell zum Modell der Rechten durchzusetzen, die Deutsche gegen Einwanderer aufhetzen.
Ist das realistisch?
Ja, denn viele Menschen sind mit der herrschenden Politik unzufrieden und suchen nach Alternativen. Die Vorschläge der Rechten sind nur Lügen. Aber wir können neue Bewegungen in Gang bringen, wenn wir versuchen, die vielfachen Spaltungen, die der Kapitalismus schafft, zu überwinden. Das Kapital ist daran interessiert, uns zu spalten in Kernbelegschaft und Leiharbeiter, in befristet und unbefristet Beschäftigte, aber auch in Frauen und Männer, Hetero- und Homosexuelle oder in Deutsche und Migranten. Wir müssen zeigen, dass all diese Menschen dieselben Interessen haben, und es sich lohnt, gemeinsam dafür zu kämpfen.
Ausgangspunkt deiner Überlegung ist die veränderte Zusammensetzung der Arbeiterklasse in den letzten 40 Jahren. Was sind die wichtigsten Veränderungen?
Die Arbeiterklasse ist weiblicher und migrantischer geworden, sie ist deutlich häufiger im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig als früher, und immer mehr Beschäftigte haben Abitur gemacht oder studiert. Verbindende Klassenpolitik versucht, nur scheinbar voneinander getrennte Menschen für ein gemeinsames Engagement zu gewinnen und dabei Zusammenhänge aufzudecken: Dem Arbeiter der Kernbelegschaft nützt es nichts, wenn Leiharbeiter weniger verdienen, denn dadurch könnte sein Arbeitsplatz ersetzt werden. Alle Beschäftigten haben ein Interesse, gegen prekäre Arbeitsverhältnisse vorzugehen. Und deshalb sollten unsere Kampagnen alle Menschen zusammenbringen.
Wir brauchen Visionen und zwar auch, um jeden noch so kleinen und noch so aktuellen Konflikt zu führen
Richtet sich dieses Konzept an Gewerkschaften?
Ja. Die deutschen Gewerkschaften wurden stark geschwächt und brauchen neue Konzepte. Wir können es uns nicht mehr leisten, ausschließlich Lohnprozente zu verhandeln. Eben weil Mieten, Verkehr oder gute und kostenlose Kita-Plätze für die Menschen genauso wichtig sind. Deshalb sollten sich die Gewerkschaften dieser Themen auch genauso annehmen. Wir müssen die Probleme der Reproduktion verbinden mit den Fragen von Lohn und Kapital und damit den ganzen Menschen in den Blick nehmen.
Die Gewerkschaften sollen raus aus dem Betrieb?
Sie sollen versuchen, ihre betrieblichen Kämpfe erstens mit allen Beschäftigten zu führen, zweitens auch außerhalb des Betriebs Unterstützung zu organisieren und drittens außerbetriebliche Kämpfe mit demselben Engagement anzugehen wie Tarifverhandlungen.
Ist dir das in deiner Zeit als Geschäftsführer von ver.di Stuttgart gelungen?
Teilweise schon. In bundesweiten Tarifrunden haben wir die Kämpfe oft am Längsten, am Entschlossensten und am demokratischsten geführt. Wir waren mit Müllwerkern in Straßburg, um mit französischen und belgischen Kollegen gemeinsam zu demonstrieren. Wir haben die Demonstrationen streikender Erzieherinnen absichtlich zusammengeführt mit Schülern und Studierenden, die für bessere Bildung demonstriert haben. Und die Erzieherinnen gingen auch zusammen mit Eltern auf die Straße. Nur wenn wir versuchen, allen gesellschaftlichen Gruppen zu erklären, was unsere Ziele sind und warum das unterstützenswert ist, haben wir auch eine Chance, alle gemeinsam zu gewinnen.
Das ist eine offensive Strategie. Müssen wir in Zeiten des Rechtsrucks nicht das Bestehende verteidigen?
Schon, aber das Bestehende verteidigt man gerade nicht, indem man ruft: »Wir wollen das Bestehende verteidigen.« Wenn die Nazis »Merkel muss weg« brüllen, können wir nicht sagen: »Merkel muss bleiben«.
Sondern?
Wir brauchen Visionen und zwar auch, um jeden noch so kleinen und noch so aktuellen Konflikt zu führen. Wir müssen die Idee einer grundsätzlichen Veränderung nach links verbreiten, gerade um die grundsätzliche Veränderung nach rechts zu verhindern. Die Arbeiterbewegung war historisch immer dann am stärksten, wenn sie die Idee einer besseren Welt hatte und sich in jeden aktuellen Kampf voll reingeworfen hat. Daran sollten wir anknüpfen.
Meinst du mit dieser Vision einen Sozialismus?
Das Ziel bleibt der demokratische Sozialismus. Aber wir sollten auch einen Schritt zurückgehen und zum Beispiel von der Idee eines »Neuen Normalarbeitsverhältnisses« erzählen, um die Arbeitswelt wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: mit Tarifbindung, viel höherem Mindestlohn, umfassender Mitbestimmung im Betrieb und einer gerechten Verteilung der Arbeitszeit. Wir müssen das Bild von einer besseren Welt auch sehr konkret zeichnen.
Gerade wenn es darum geht, Unterstützung für gewerkschaftliche Kämpfe außerhalb des Betriebs zu organisieren, kann DIE LINKE eine entscheidende Rolle spielen
Müssen wir die großen Vorbehalte gegen Einwanderer in Deutschland irgendwie berücksichtigen?
Ja und zwar, indem wir mit dem uralten Märchen aufräumen, dass es den Deutschen besser ginge, wenn die Ausländer weg wären. Die Ursache für Konkurrenz ist der Kapitalismus und nicht Einwanderung. Diese Konkurrenz dämpfen wir mit Tarifverträgen und mit Gesetzen, die soziale Standards garantieren. Das wiederum schaffen wir nur, wenn Deutschstämmige und Einwanderer zusammen kämpfen, statt sich spalten zu lassen. Wenn wir uns hingegen voller Hass gegenüberstehen, verlieren wir alles.
Sollen Gewerkschaften für politische Ziele kämpfen?
Ich als Gewerkschafter bin sehr dafür. Wenn die Gewerkschaften nicht für einen höheren Mindestlohn streiken dürfen, sollten sie dafür vielleicht mal während der Arbeitszeit demonstrieren. Wir brauchen den Willen, etwas zu bewegen und mehr Mut. Dann können die Gewerkschaften auch die Grenzen dessen, was erlaubt und was verboten ist, verschieben.
Ist das nicht zu radikal, zum Beispiel für die IG Metall?
Eine konkrete Vision zu entwickeln, halte ich für den einzigen Ausweg aus dem Niedergang der Gewerkschaftsbewegung. Für wesentlich verrückter halte ich es, einfach weiterzumachen wie bisher und zu hoffen, dass die Gewerkschaften von allein wiedererstarken. Was die letzten 20 Jahre nicht funktioniert hat, wird auch in Zukunft nichts bringen.
Welche Rolle kann DIE LINKE darin spielen?
Eine große, denn zunächst einmal braucht man für das Entwickeln weitergehender Perspektiven natürlich linke Menschen. Ein Andrea-Nahles-Fan wird sich da schwer tun.
Und konkret vor Ort?
Sie kann der Motor von sozialen Kämpfen sein. In Ansätzen haben wir das gesehen bei den Arbeitskämpfen bei Amazon, an der Berliner Charité und im großen Erzieherinnen-Streik. Gerade wenn es darum geht, Unterstützung für gewerkschaftliche Kämpfe außerhalb des Betriebs zu organisieren, kann DIE LINKE eine entscheidende Rolle spielen.
Gewerkschaften halten offiziell Distanz zu Parteien und betonen ihre Überparteilichkeit. Ist das falsch?
Gewerkschaften müssen überparteilich sein. Ein historischer Fehler war es hingegen, dass die Gewerkschaften nur formell überparteilich waren, sich aber real sehr nah an die SPD angelehnt haben. Als die Schröder-Regierung Hartz IV und die Agenda 2010 beschloss, waren die Gewerkschaften dadurch unfähig zum Widerstand, und ganz Deutschland bezahlte dafür einen bitteren Preis.
Wenn wir darauf vertrauen, dass eine Regierung den Vorschlag wegen unserer guten Argumente aufgreift, werden wir ewig warten
Sollten sich die Gewerkschaften stärker an der Partei DIE LINKE orientieren?
Gewerkschaften sollten sich nie von einer Partei abhängig machen. Wenn wir Mist bauen, sollen sie uns scharf kritisieren. Aber Gewerkschaften sollen die Interessen der Beschäftigten vertreten und dazu gehört es, zuzugeben, dass DIE LINKE die Forderungen der Gewerkschaften weitestgehend teilt. Wenn die Gewerkschaften beginnen, die von mir beschriebene verbindende Klassenpolitik mit uns gemeinsam umzusetzen, nutzt das in erster Linie nicht meiner Partei, sondern den Gewerkschaften und allen Menschen in Deutschland.
Sind die Kampagnen, die DIE LINKE gestartet hat, auf eine solche verbindende Klassenpolitik ausgerichtet?
Unsere neue Kampagne »Bezahlbare Miete statt fetter Rendite« ist dafür ein gutes Beispiel. Wir fordern 250.000 neue Sozialwohnungen, aber gebaut von der öffentlichen Hand, und die Verstaatlichung von Wohnungskonzernen wie Vonovia. Damit stellen wir aktuelle Forderungen, die von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Aber wir zeigen auch Wege auf, die über den Kapitalismus hinausweisen, indem wir die Eigentumsfrage stellen. Jetzt werden wir uns dafür einsetzen von Rügen bis zum Bodensee, damit aus vielen lokalen Mieterinitiativen eine große wahrnehmbare Bewegung der Mieterinnen und Mieter wird. Schließlich sagt sogar der Mieterbund, das DIE LINKE das beste wohnungspolitische Konzept aller großer Parteien habe.
Wollen Mieterinnen und Mieter denn, dass DIE LINKE sie führt?
Das ist weder das Ziel noch der Anspruch. Wir unterstützen sie, aber die Mieterinnen und Mieter sollten über ihre Kampagne immer selbst bestimmen. Aber wir können das Thema in den Stadt- oder Gemeinderat einbringen und Druck auf Landes- oder Bundesregierung ausüben. Hier kann eine große Partei ganz nützlich sein.
Normalerweise treten Parteien zu Wahlen an und arbeiten in Parlamenten. Ist dir das unwichtig?
Während wir dieses Interview führen, bin ich in Bayern unterwegs und mache jeden Tag Wahlkampf. Es wäre ein großer Schritt für uns, wenn wir hier erstmals in den Landtag einzögen. Aber für mich hat eine linke Partei eine Doppelstrategie: Wir arbeiten im Parlament und in außerparlamentarischen Bewegungen.
Wieso das?
Machen wir uns nichts vor: Wenn DIE LINKE nur im Parlament sitzt, werden wir nicht viel erreichen, weder in der Regierung noch in der Opposition. Dazu braucht es Streiks, die DIE LINKE nach Kräften befördern will, und Druck auf der Straße, den wir mit aufbauen müssen. Zum Beispielbrauchen wir eine Bewegung für gebührenfreien öffentlichen Nahverkehr. Wenn wir darauf vertrauen, dass eine Regierung den Vorschlag wegen unserer guten Argumente aufgreift, werden wir ewig warten.
Lassen sich beim Thema Bus und Bahn denn Menschen begeistern?
Die Forderung nach einem gebührenfreien öffentlichen Nahverkehr ist wichtig für ganz viele Menschen, die jeden Tag zur Arbeit müssen, für Menschen mit niedrigem Einkommen und Erwerbslose sowieso. Aber auch für den Klimaschutz ist eine sozial gerechte Mobilitätswende dringend notwendig. Hier kann DIE LINKE eine Bewegung mit aufbauen und gleichzeitig Wege aufzeigen, die über den Kapitalismus hinausweisen.
Bernd, wir danken dir für das Gespräch
Die Fragen stellte Hans Krause.
Das Buch:
Bernd Riexinger
»Neue Klassenpolitik«
VSA Verlag
160 Seiten
14,80 Euro
Schlagwörter: DIE LINKE, Gewerkschaft, Gewerkschaften, Klassenkampf, Klassenpolitik, Riexinger