Großbritannien erlebt aktuell die größten Streiks seit mehr als 30 Jahren. Wir sprachen mit dem in London lebenden Sozialisten Charlie Kimber über die Hintergründe, Forderungen und Perspektiven der Arbeitskämpfe
Charlie Kimber ist führendes Mitglied der Socialist Workers Party und Herausgeber der Zeitung Socialist Worker.
Wie steht es um die Streiks in Großbritannien?
Wir erleben seit sechs Monaten einen Aufschwung des organisierten Widerstandes von Arbeiter:innen. Begonnen haben die Bahnarbeiter:innen letzten Sommer. Dann folgten die Beschäftigen der Post. Seit kurzer Zeit streiken auch Gesundheitsarbeiter:innen im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS). Die Physiotherapeut:innen streiken zum ersten Mal seit 30 Jahren. Die Beschäftigten der Universitäten streiken und auch die Angestellten des öffentlichen Dienstes haben sich angeschlossen. Am 1. Februar beteiligten sich mehr als eine halbe Millionen Menschen an einem nationalen Streiktag. Mit dabei waren auch die Lehrer:innen. Das ist eine echte Wiederbelebung der Streiks. Die Gesamtzahl der Streiktage beläuft sich in diesem Jahr bisher auf etwa zwei Millionen. Das ist ein Höchststand seit 30 Jahren und etwa zehnmal so viel wie in den letzten Jahren.
Was sind die Gründe für die Streiks?
Der wichtigste Punkt ist die steigende Inflation. Sie liegt bei 14 Prozent. Die Gas- und Strompreise haben sich im Vergleich zum letzten Jahr verdoppelt. Für Menschen, die drei oder vier Prozent Gehaltserhöhung bekommen, bedeutet das einen Reallohnverlust von 10 Prozent.
Gibt es weitere Gründe, was die Menschen auf die Straße treibt?
Beschäftigte in Sektoren wie Transport, Post, Abfallwirtschaft oder Gesundheitswesen galten in der Pandemie als absolut unverzichtbar und wurden als Held:innen gefeiert. Jetzt müssen sie tiefe Einschnitte in ihren Lebensstandard hinnehmen und werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Wir haben also eine Kombination aus einem tiefen Gefühl der Ungleichheit, sinkenden Lebensstandards und der Art und Weise, wie die Arbeiter:innen nach ihrer wichtigen Rolle in der Pandemie behandelt werden.
Was sind die zentralen Forderungen der Arbeiter:innen?
Hauptsächlich geht es um Löhne. Die meisten Gewerkschaften fordern eine Lohnerhöhung, die der Inflationsrate entspricht oder diese übersteigt. Die Abschlüsse liegen aber oft weit darunter. Und es geht um die Arbeitsbedingungen. Beispielsweise soll die Post in eine Art Amazon umgebaut werden. Damit stehen Rechte auf dem Spiel, die in früheren Auseinandersetzungen erkämpft wurden.
Die Streiks und die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie
Welche Rolle spielt die Gewerkschaftsbürokratie?
Bei jedem Streik gibt es eine sehr enthusiastische Beteiligung der Arbeiter:innen, die Streikposten sind ziemlich groß. Aber, die Streiks finden in großen Abständen statt. Es wird ein oder zwei Tage gestreikt und dann passiert lange nichts. Das ist frustrierend für die Kämpfenden. Hier zeigt sich die soziale Rolle der Gewerkschaftsbürokratie: Sie soll Kompromisse zwischen Arbeiter:innenklasse und Bossen aushandeln. Die Gewerkschaftsbürokratie braucht den Kampf der Arbeiter:innenklasse, aber gleichzeitig führt sie den Kampf nicht bis zum Ende. Sie macht Deals mit den Bossen oder dem Staat. Wie Rosa Luxemburg schreibt, wird die Organisation der Arbeiter:innenklasse zum Selbstzweck, statt ein Werkzeug zur Befreiung.
Die Tory-Regierung gibt sich stur und arbeitet an neuen gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen. Was treibt die Konservativen?
Die Regierung versucht, stark zu wirken und keine Zugeständnisse zu machen. Das hat zwei Gründe. Erstens befürchtet sie, dass Zugeständnisse andere Gruppen zum Kampf ermutigen. Zweitens hofft die Regierung, sich mit dieser Strategie aus ihrer politischen Krise zu befreien. Die Regierung denkt, es wäre ein Zeichen der Stärke, sich wie in den 1980er Jahren gegen die Gewerkschaften zu stellen.
Kannst du uns einen kurzen Einblick geben, was auf die Arbeiter:innen zukommt?
Aktuell plant die Regierung ein neues Gesetz, um die Streiks auszubremsen. Die Gewerkschaften sollen dazu verpflichtet werden, während eines Streiks ein Mindestlevel an Dienstleistungen zu gewährleisten. Wird dies nicht erfüllt, drohen den Gewerkschaften hohe Geldstrafen und den Arbeiter:innen die Kündigung. Das ist ein schwerer Angriff. Aber die Leute streiken trotzdem.
Die Streiks und die Labour Party
Wie verhält sich die Labour Party?
Die Labour Party versucht, das Erbe von Jeremy Corbyn loszuwerden und zu zeigen, dass sie ein sicherer Rückhalt für die herrschende Klasse ist. Starmer, der Vorsitzende der Labourpartei droht den Mitgliedern seines Schattenkabinetts mit Konsequenzen, sollten sie die Streikposten besuchen. Einerseits sagt Starmer zwar, dass er die Forderung der Arbeiter:innen versteht, andererseits verurteilt er die Streiks und distanziert sich von der Militanz der Streikenden. Von Seiten der Labour Party gibt es weder Unterstützung noch Solidarität mit den Arbeitskämpfen.
Wie reagiert die Bevölkerung auf die Streiks?
Die Streikenden sind allgemein sehr beliebt. Die meisten Menschen stehen auf der Seite der Streikenden. Das ist ein Problem für die Regierung.
Welche Bedeutung haben die Streiks für die Socialist Workers Party?
Für uns sind die aktuellen Streiks natürlich von großer Bedeutung. Streiks zeigen die kollektive Macht der Arbeiter:innen. In Streiks zeigt sich die Realität der Klassenbeziehungen. Wir denken, dass es neben Bewegungen, Demonstrationen und Kampagnen auch Aktionen der Arbeiter:innen braucht, um Rassismus, den Klimawandel oder die Unterdrückung von Trans-Menschen effektiv zu bekämpfen. Jetzt können wir viel einfacher auf die Realität verweisen. Die Aktionen der Arbeiter:innen sind ein kleiner Ausschnitt einer gesellschaftlichen Kraft, die die Welt verändern kann.
Auch verändern sich Arbeiter:innen in den Streiks und lernen, wer ihre Verbündeten und wer ihre Feinde sind. Wenn Menschen an den Streikposten zusammenkommen, untergraben sie die gesellschaftlichen Trennungen zwischen schwarzen, weißen und asiatischen Arbeiter:innen, zwischen Männern und Frauen. Das heißt nicht, dass wir diese Trennungen einfach überwinden, aber es wird leichter für die Einheit der Arbeiterklasse zu argumentieren.
Welche Positionen vertritt die SWP in den Streiks?
Unsere Mitglieder fordern längere, härtere und größere Streiks. Wir wollen streiken, um zu gewinnen. Wir gehen zu den Streikposten, zeigen unsere Unterstützung und sammeln Geld. Wir betonen die Zusammenhänge zwischen dem Kampf der Arbeiter:innen und anderen gesellschaftlichen Kämpfen. Wir unterstützen die Streiks, aber wir haben auch eine politische Analyse. Wir wollen Menschen helfen, sozialistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Damit haben wir auch einen bescheidenen Erfolg.
Perspektive der Arbeitskämpfe
Am ersten Februar gingen über eine halbe Millionen Menschen auf die Straße. Welche Bedeutung hat das für die Streikbewegung?
Ich denke, der 1. Februar war ein wirklich wichtiger Tag. Es wurde lange darüber diskutiert, ob alle Sektoren gemeinsam auf die Straße gehen sollten, um die politische Bedeutung der Streiks zu erhöhen. Es ist also ein Erfolg, dass am ersten Februar eine halbe Million Menschen gemeinsam gestreikt haben. Allerdings waren nicht alle Sektoren vertreten. Die Gewerkschaften des Gesundheitswesens haben nicht teilgenommen und auch die Eisenbahner:innen waren nicht vertreten. Große, gemeinsame Aktionen sind wirklich positiv, aber wir müssen auch aufpassen, dass diese Aktionen nicht zu einer Ausrede dafür werden, keine größeren Streiks in den einzelnen Sektoren durchzuführen. Wir setzen uns daher für einheitliche und große, aber auch für längere Streiks der einzelnen Gewerkschaften ein.
Welche Perspektiven siehst du für die Streikbewegung?
Ich denke, es wird mehr Streiks geben. Im Moment zeigt die Kurve noch nach oben. Wie es weiter geht, hängt entscheidend davon ab, ob die Streikbewegung Erfolge erzielt. Sowohl Sieg als auch Niederlage sind ansteckend. Wenn die Eisenbahner gewinnen, werden sich auch andere Gruppen dem Kampf anschließen. Eine Niederlage könnte die Dinge wieder zurückwerfen. Die Streikenden müssen einen Durchbruch schaffen. Die Streiks sind sehr inspirierend, sie beleben alles in Großbritannien. Es gibt mehr Zuversicht in der Arbeiter:innenklasse, es gibt ein Gefühl, dass wir eine Chance haben zurückzuschlagen und dass der einseitige Klassenkampf vorbei ist.
Interview: Nika Pedara
Bild: Guy Smallman
Schlagwörter: Gewerkschaften, Großbritannien, Streik