An einem Wiederaufbau gewerkschaftlicher Kampfkraft führt kein Weg vorbei. Die Linke – groß und klein geschrieben – kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Fünf Thesen für eine notwendige gewerkschaftliche Neuformierung
1. Eine ehrliche Bestandsaufnahme ist nötig
»Der Motor läuft wieder«, freute sich der soeben aus dem Amt geschiedene DGB-Vorsitzende Michael Sommer im Mai dieses Jahres. Mit Blick auf den kommenden Mindestlohn und kleinere Korrekturen bei der Rente sieht er die Gewerkschaften im Aufwind. Sie seien »wieder eine starke, gestaltende Kraft in diesem Land. Wir sind gesellschaftlich anerkannt, wir haben die Trendwende in der Mitgliederentwicklung erreicht und sind stabilisiert.« Doch das entspricht eher einem Wunschbild als der Realität. Um wirkliche Fortschritte zu machen, ist zunächst eine aufrichtige Analyse der Situation notwendig.
Dass der Mindestlohn kommt, ist ein Erfolg. Aber es ist ein Mindestlohn »light«, der nicht imstande ist, den Niedriglohnsektor auszutrocknen, geschweige denn die prekäre Beschäftigung einzudämmen.
Gewerkschaftliche Stärke zeigt sich darin, ob und wie es gelingt, kollektiv gute Arbeitsbedingungen und Löhne durchsetzen. Seit Jahren passiert das immer seltener. Im Jahr 2014 fallen nur noch sechzig Prozent der Beschäftigungsverhältnisse im Westen und 43 Prozent im Osten unter einen Tarifvertrag. Immer mehr abhängig Beschäftigte arbeiten in einem Unternehmen, das weder einen Betriebsrat noch einen Tarifvertrag hat. Letztes Jahr traf dies auf 35 Prozent im Westen und sogar 46 Prozent im Osten zu. Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Bei der Mitgliederentwicklung scheint die Talsohle erreicht. Aber eine Trendwende sieht anders aus. Weniger als jeder fünfte abhängig Beschäftigte ist heute Gewerkschaftsmitglied, vor zwanzig Jahren war es noch jeder Dritte.
Statt auf die eigene Kampfkraft zu setzen oder diese auf- und auszubauen, versuchen die Gewerkschaftsspitzen politischen Lobbyismus zu betreiben, vor allem über die SPD aber auch mit der Bundeskanzlerin. Die SPD hofft davon zu profitieren und verlorenes Vertrauen zurück zu gewinnen – bisher mit wenig Erfolg.
Die Gewerkschaftsführung verwechselt gewerkschaftliche Kampfkraft mit sozialpartnerschaftlicher Politik. »Wir haben in unserer Politik im Doppelspiel von Sozialpartnerschaft und Gegenmacht eine vernünftige Balance gefunden«, meint Sommer. Tatsache ist: Seit Jahren stagnieren die Arbeitskämpfe auf einem niedrigen Niveau. Selbst für einen Mindestlohn, der seinen Namen verdient, haben die Gewerkschaften keine große gesellschaftliche Mobilisierung angestoßen. Die gewonnene Akzeptanz in Politik und Wirtschaft, von der Sommer spricht, ist ein Lob der Herrschenden für das zurückhaltende Agieren und die Zugeständnisse der Gewerkschaften.
Darauf kann man nicht stolz sein – und schon gar nicht für die Zukunft aufbauen.
An einem Wiederaufbau gewerkschaftlicher Kampfkraft mit einem konfliktorientierten, antikapitalistischen Kurs führt kein Weg vorbei. Erste Anzeichen lassen hoffen, dass dies möglich ist. Die Linke muss sich hier aktiv einbringen. Denn ohne starke klassenkämpferische Gewerkschaften keine Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse!
2. Die Grundlage für die Sozialpartnerschaft ist schmal und brüchig
Es ist illusorisch, auf eine Erneuerung der Sozialpartnerschaft zu setzen, die ohne große Kämpfe in Verhandlungen mit Arbeitgebern soziale Errungenschaften gewährleistet.
Einerseits wird die Basis einer Sozialpartnerschaft jenseits der Kernsektoren der Metall- und Chemieindustrie immer schmaler. Die Arbeitgeber in den wachsenden Branchen des Dienstleistungssektors sind kaum bereit, den Beschäftigten kampflos Zugeständnisse in Form guter Tarifverträge zu machen. Vielmehr werden vorhandene Flächentarifverträge in Frage gestellt, wie 2013 im Einzelhandel, oder erst gar nicht abgeschlossen. Nur durch den Aufbau eigener Kampfkraft werden die Gewerkschaften die Unternehmen in Tarifverträge zwingen können.
Andererseits ist selbst in den Großbetrieben der Metall- und Chemieindustrie die Basis der Sozialpartnerschaft äußerst brüchig und schon längst nicht mehr das, was sie einmal war. Leiharbeit, befristete Jobs und Dumpingwerkverträge haben sich wie ein Krebsgeschwür festgesetzt. Das gewerkschaftliche Co-Management in der Automobilindustrie führt dazu, dass die Arbeit der Kernbelegschaften für steigende Profite verdichtet und flexibilisiert wird. In Wirklichkeit sind die angeblichen Erfolge der Sozialpartnerschaft dort nur leidige Ergebnisse einer konfliktarmen Gewerkschaftspolitik, die zu Zugeständnissen bereit ist.
Die ideologische Fessel der Sozialpartnerschaft ist die Bindung an das kapitalistische Konkurrenzprinzip. Es hilft nichts, die bestehenden Verhältnisse zu leugnen. Stattdessen müssen Alternativen aufgezeigt werden. Es ist keine Perspektive, den Wettbewerbsdruck in den Branchen mit immer neuen Kürzungsrunden zu begleiten. So wird nur eine Spirale nach unten aufrechterhalten. Beispielhaft steht dafür die Warenhauskette Karstadt. Dort haben der Gesamtbetriebsrat und ver.di die Schließung von Standorten und die Aufkündigung der Tarifverträge durch das Management von Milliardär Nicolas Berggruen kampflos akzeptiert, in der Hoffnung, so das Unternehmen zu retten. Genützt hat das alles nichts, der nächste Kahlschlag steht bevor.
Die materielle Grundlage der Sozialpartnerschaft steht und fällt mit dem boomenden Export. Bricht dieser ein oder verändern sich die Rahmenbedingungen, sind auch die organisationsstarken Industriegewerkschaften mit ihrem Latein am Ende. In der Krise wurden hunderttausende Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sowie befristet Beschäftigte nach Hause geschickt. Opel ist hier ein warnendes Beispiel. Als Reaktion auf die tiefgreifende Unternehmenskrise haben die IG Metall und der Gesamtbetriebsrat einzelne Standorte gegeneinander ausgespielt und letztlich den Standort Bochum geopfert.
Vor diesem Hintergrund wäre es mehr als fahrlässig, in den Gewerkschaften auf eine Erneuerung der Sozialpartnerschaft zu setzen.
3. Ermutigende Kampferfahrungen verallgemeinern
Es stimmt zwar, dass in Deutschland in den vergangenen Jahren große soziale Kämpfe ausgeblieben sind. Dafür häufen sich seit einiger Zeit erfolgreiche Kampferfahrungen, die manchmal nur einen Betrieb betreffen, manchmal aber auch größere Teile einer Branche. Dazu zählt die überraschend hohe Streikbeteiligung der Reinigungskräfte und Erzieherinnen im Jahr 2009. Dazu zählen ebenso die erfolgreichen Streiks von Sicherheitskräften an den Flughäfen oder auch der Beschäftigten des Einzelhandels zur Verteidigung ihres Manteltarifvertrages im Jahr 2013. Dazu kommen zahlreiche Konflikte in einzelnen Betrieben um die Einführung von Haustarifverträgen, wie zum Beispiel bei Amazon. Zum Teil sind diese Konflikte Abwehrreaktionen gegen Angriffe der Arbeitgeber, immer häufiger aber auch Ausdruck offensiver Forderungen.
Weil dort nicht annähernd so viele gestreikt haben wie in den Warnstreikwellen in der Metallbranche oder Teilen des öffentlichen Dienstes, werden diese Kämpfe oft weniger wahrgenommen. Aber sie sind härter als die ritualisierten Warnstreiks: Sie dauern wochen- oder monatelang und die Beschäftigten entfalten eine viel größere Eigenaktivität. Insgesamt werden die Kämpfe von den Aktiven meist als Erfolg bewertet, selbst dann, wenn sie mit den unmittelbaren Ergebnissen nicht immer zufrieden sind. Denn die Beschäftigten sammeln Erfahrungen von kollektiver Stärke und Selbstvertrauen und beginnen politische Diskussionen über die gesellschaftlichen Hintergründe des Konflikts. Die Streikenden sind oft weiblich und arbeiten häufig in Dienstleistungsberufen. Sie repräsentieren das neue Gesicht der Arbeiterklasse. Die Erfahrung aktiver Auseinandersetzungen und das daraus erwachsende Selbstvertrauen führen häufig zu einer politischen Hinwendung nach links.
Für sich genommen sind die einzelnen Erfahrungen sehr ermutigend. Aber das Problem ist: Über die unmittelbar Betroffenen hinaus beteiligen sich die Gewerkschaften und die Linke zu wenig. Die Erfahrungen werden nicht ausreichend verallgemeinert. Wir können keine großen Kämpfe herbeireden. Wir können aber die vorhandenen Kämpfe unterstützen und vernetzen. So ist es möglich, mittelfristig deutlichere Spuren einer erfolgreichen konfliktorientierten Gewerkschaftspolitik zu hinterlassen.
4. Neue Möglichkeiten und Verantwortungen für die Linke
Für eine Linke (groß und klein geschrieben), die sich die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel gesetzt hat und dabei auf die kollektive Kraft der Arbeiterklasse setzt, eröffnet diese Entwicklung viele Möglichkeiten. Zugleich nimmt sie sie in die Pflicht. Hier bietet sich die Gelegenheit für praktischen Antikapitalismus.
Eine radikale Linke, welche die Beteiligten solcher Konflikte unterstützt, kann weit über ihr begrenztes soziales Milieu hinaus wirken – vorausgesetzt, die Belange und Forderungen der Beschäftigten sind die Grundlage der Unterstützungsarbeit. Ob sich relevante Teile der antikapitalistischen radikalen Linken darauf einlassen, wird auch darüber entscheiden, ob sie weiterhin ein Nischendasein führen oder breiter ausgreifen und gesellschaftlich bedeutsamer werden.
Die Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Partei DIE LINKE sind gefordert, sich von einer verengten parlamentarischen Perspektive zu lösen. Dafür müssen wir Schritte hin zu einer Bewegungspartei machen, die soziale Bewegungen, insbesondere Klassenkämpfe, als zentrales Moment der gesellschaftlichen Veränderung begreift.
Es geht darum, mit den Betroffen, die selbst aktiv werden, für eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensumstände zu kämpfen. Zugleich muss die Partei ideologisch eine Alternative zum Kurs der Sozialpartnerschaft anbieten.
Zwischen Teilen der radikalen Linken und kämpferisch orientierten Teilen der Gewerkschaften kann DIE LINKE eine wichtige Scharnierfunktion erfüllen.
Vor allem aber macht eine solche praktische Unterstützungsarbeit in den Konflikten einen realen Unterschied. Sie stärkt und vernetzt kämpferische Kolleginnen und Kollegen, befördert ein Ausgreifen und ermutigt dazu, weitere Schritte in diese Richtung zu gehen. Ansatzweise gelang dies in Berlin mit der Unterstützung für den Streik der Beschäftigten im Einzelhandel. Linke Streikunterstützer machten sehr inspirierende Erfahrungen, wozu Beschäftigte, die kämpfen, in der Lage sind. Zugleich wurde ein Prozess der Selbstbefähigung der Beschäftigten befördert. Dieser bewirkte maßgebliche und nachhaltige Ergebnisse für die gewerkschaftliche Neuformierung in diesem Bereich.
Das Vorhaben der nächsten Jahre muss es sein, die Chancen, die sich zur Erneuerung der Gewerkschaften bieten, gezielter zu nutzen.
5. Kitastreik 2015: Mit der Aufwertungskampagne der Sozial- und Erziehungsdienste ein Zeichen setzten
Wie ist es möglich, innerhalb der Gewerkschaften mehr für eine kämpferische Neuformierung zu bewirken? Zunächst bedarf es einer gezielten strategischen Orientierung. Eine große Chance bietet in vielerlei Hinsicht der für das Jahr 2015 anstehende Tarifkonflikt bei Erzieherinnen und Erziehern zur Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste.
Die derzeit diskutierten Forderungen nach einer Höhergruppierung werden sich nicht ohne Streik durchsetzen lassen. Viele Beschäftigte haben Kampferfahrung aus dem Jahr 2009, als sie gegen Gehaltsabsenkungen durch den neu eingeführten Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvöD) gestreikt haben. Mitten in der Krise, im größten Abschwung der Nachkriegszeit, zeigten die Kita-Beschäftigten – die in der Vergangenheit bei den Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst so gut wie keine Rolle gespielt hatten, ja sogar als »unorganisierbar« galten –, dass sie willens und in der Lage sind, erfolgreich für ihre Interessen einzutreten. Die Spaltung von Alt- und Neubeschäftigten wurde aufgehoben.
Hier steht eine bundesweite Auseinandersetzung an, die potenziell einige hunderttausend Beschäftigte betrifft. Die Erfahrungen des vorherigen Streiks zeigen, wie wichtig öffentliche Unterstützung, insbesondere der Eltern, für den Erfolg des Arbeitskampfs ist. Unterstützungsarbeit soll aber nicht nur die Streikenden stärken und unentschlossene Beschäftigte ermutigen. Sie soll zudem dazu beitragen, sich bundesweit auszutauschen und Erfahrungen zusammenzubringen. Ideologisch ist mit dem Tarifkonflikt die Frage der Umverteilung eng verbunden. Denn gute öffentliche Dienste, die allen kostenlos zur Verfügung stehen, wird es nur geben, wenn der gesellschaftliche Reichtum anders verteilt wird. Dafür lässt sich gut um öffentliche Unterstützung werben.
Ein Erfolg dieser Auseinandersetzung wäre auch für andere Branchen richtungsweisend. Zudem kann er strategisch ein wichtiger Schritt zu einer kämpferischeren Ausrichtung der Gewerkschaften werden. Deshalb ist hier besondere Unterstützung nötig: Wir müssen den Kita-Konflikt zur Schlüsselauseinandersetzung des Jahres 2015 machen.
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