Mitten in die Corona-Krise platzte die Pleite des DAX-Unternehmens Wirecard. Die Einzelheiten über diesen Skandal sagen viel über den Zustand des Kapitalismus aus, meint Volkswirt Thomas Walter
Wirecard ist ein sogenanntes Zahlungsdienstleistungsunternehmen. Die Wirecard Bank wickelt zum Beispiel für Aldi Süd Kreditkartenzahlungen und Geschenkkarten-Geschäfte ab. Weitere Kunden sind inzwischen laut Neuer Züricher Zeitung unter anderem Apple, Google, Alibaba, Ikea und die Österreichischen Bundesbahnen.
Gegründet wurde das Unternehmen 1999. Wirecard fing klein an. Zunächst organisierte Wirecard bargeldlose Zahlungen zwischen Anbietern von Porno-Internetseiten und Online-Glücksspielen und deren Kunden. Doch rasch kamen »seriösere« Kunden dazu. Im September 2018 verdrängte Wirecard die Commerzbank aus dem Club der dreißig DAX-Unternehmen. Im selben Jahr fragte die FAZ neckisch: »Wer hat denn da die Deutsche Bank überholt?« An der Börse war jetzt Wirecard mehr wert als die größte Bank Deutschlands. Ein Experte der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (kurz EY) erklärte damals in der Wirtschaftswoche das Geschäftsmodell: »So tickt das Business von Wirecard und Co.« Dem EY-Experten scheint dabei einiges an Details des Geschäftsmodells entgangen zu sein, obwohl EY seit 2009 der von Wirecard bestellte (und bezahlte) Wirtschaftsprüfer ist. EY hat denn auch all die Jahre die Bilanzen von Wirecard durchgewunken.
Der Schwindel fliegt auf
Seit 2015 erschienen in der britischen Wirtschaftszeitung Financial Times (FT) einige Artikel der Journalisten Dan McCrum und Stefania Palma, wonach mit Wirecards Bilanzen etwas nicht stimmen würde. Im Unterschied zur FT hielten sich deutsche Medien vornehm zurück.
Jetzt im Juni flog jedoch der ganze Schwindel auf. Von einer Bilanzsumme von rund 8 Milliarden Euro fehlen 1,9 Milliarden Euro, ein sogenanntes »Bilanzloch«. Die 1,9 Milliarden Euro waren für die Bilanz frei erfunden worden. Immerhin, die Scheinprofite waren all die Jahre ordentlich versteuert worden, damit nichts auffällt. Seit 2001 zahlte Wirecard weltweit 300 Millionen Euro Steuer. Tatsächlich gibt es sogar Vorstöße, ob zum Beispiel die Gemeinde Aschheim bei München, wo Wirecard seinen Sitz hat, jetzt diese Steuern wieder zurückzahlen müsste. Schließlich waren die Gewinne ja erfunden. Es bestehen aber wohl doch wenig Chancen, dass es so weit kommt, zum Leidwesen verschiedener Wirtschaftskanzleien. Aber man kann es ja mal versuchen.
Markus Braun, die Nr. 1 von Wirecard, kam mit Hilfe eines einschlägigen Staranwalts gegen Kaution von 5 Millionen Euro frei und wartet jetzt auf seinen Prozess. Die Nr. 2, Jan Marsalek, war für das Asiengeschäft zuständig. Dort müssten eigentlich die 1,9 Milliarden sein. Nr. 2 ist abgetaucht und wird international gesucht.
Die Geschädigten
Gefährdet sind über 1000 Beschäftigte, die bei der Firma in Aschheim bei München arbeiten, sowie weitere Beschäftigte weltweit. Volker Brühl, Geschäftsführer des Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität, meint: »Der Großteil der über 6000 Arbeitsplätze wird sich nicht retten lassen.«
Weitere Geschädigte sind Banken und Kapitalanleger, die an Wirecard Kredite vergeben oder dessen Aktien gekauft haben. Gewinner sind jene Hedgefonds, die sich rechtzeitig mit Wetten gegen die Wirecard-Aktie eingedeckt haben.
Es fragt sich, wie 1,9 Milliarden Euro einfach erfunden werden können und wem das hätte auffallen müssen. Eigentlich gibt es eine Innenrevision, also Leute aus der Firma selbst, die dies hätten merken und melden müssen. Tatsächlich bekamen die FT-Journalisten auch von einem Whistleblower zusätzliche Informationen, nachdem sie bereits einiges veröffentlicht hatten.
Der eigentliche Skandal
Peinlich an dem Skandal ist, dass das seltsame Treiben von Institutionen an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, die eigentlich dazu da sind und hier gutes Geld verdienen, um solche Skandale zu verhindern. So ist der Neoliberalismus zwar bekannt durch seine Deregulierungen und Privatisierungen, tatsächlich kam der Staat durch die Hintertür aber wieder herein. Private Wirtschaftsprüfungsgesellschaften mit gut bezahlten Jobs sind in staatlichem Auftrag unterwegs und haben so eine sichere Einnahmequelle. Unternehmen müssen jährlich ihre Bilanzen bei einer solchen Firma prüfen lassen. Die zu prüfenden Firmen wählen aber ihre Prüfgesellschaften selbst aus und bezahlen diese auch. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Alles unter Aufsicht
Alle zehn Jahre sollen die Unternehmen diese Prüfgesellschaften wechseln, damit nicht, wie es heißt, allzu enge Bindungen entstehen. Beherrscht wird dieser Markt weltweit von den »Big Four«, das sind die vier US-Unternehmen Deloitte, Ernst & Young oder EY (der Prüfer von Wirecard), PricewaterhouseCoopers oder PwC und KPMG. KPMG veröffentlichte Ende April 2020 ein Sondergutachten, das Wirecard zwar nicht belastete, aber eben auch nicht entlastete.
Sollte den Wirtschaftsprüfern einmal etwas entgehen, ist für Finanzfirmen die staatliche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz BaFin, zuständig. Aber hier wurde wohl auch der Bock zum Gärtner gemacht. Zwar berichtete die FT seit Jahren, Banken aus dem nahen München gaben Wirecard keine Kredite mehr, die Deutsche Bank verkaufte unauffällig ihre Positionen bei Wirecard an andere Banken (»Kampf der feindlichen Brüder« würde Marx sagen), doch die BaFin will von all dem nichts gemerkt haben. Vielmehr zeigte die BaFin 2019 die Journalisten der Financial Times an. Die Verfahren laufen heute noch. Außerdem verhängte die BaFin für zwei Monate auf den Finanzmärkten ein Verbot von Wetten gegen die Wirecard-Aktie. Das war ausnahmsweise nicht gegen »chinesische Staatskonzerne« sondern gegen »angelsächsische Hedgefonds« gerichtet. Damit alles seine Richtigkeit hat, wurde diese Maßnahme der BaFin von der Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA überprüft und bestätigt. Gerhard Schick, Finanzexperte der Grünen, erklärt dazu im Handelsblatt: »Die Esma muss im Alltag mit Behörden wie der Bafin auch kooperieren, sodass gewisse Abhängigkeitsverhältnisse herrschen.«
BaFin redet sich raus
BaFin-Chef Felix Hufeld bringt jetzt vor, dass er nur für die Wirecard-Bank zuständig gewesen sei, aber nicht für den großen Rest von Wirecard, der kein Finanz- sondern ein Technologieunternehmen gewesen sei. Dabei war er es selbst gewesen, der zusammen mit der Europäischen Zentralbank (EZB – schon wieder eine Aufsichtsbehörde) für diese Einstufung verantwortlich war. Vor dem Finanzausschuss des Bundestags soll Hufeld die Schuld auf die EZB geschoben haben, aber die BaFin hat das inzwischen dementiert. Die vielen Aufsichten machen es jedenfalls möglich, dass der schwarze Peter hin und her geschoben wird. Keiner will es gewesen sein.
Hufeld verweist auch darauf, dass er 2019 der Deutschen Prüfungsstelle Rechnungswesen DPR einen Prüfauftrag zu Wirecard erteilt habe. Die DPR ist zu Gerhard Schröders Zeiten eingeführt worden, damit Firmen erst einmal durch einen privaten Verein geprüft werden, bevor staatliche Behörden auf sie losgelassen werden. Die DPR hat 17 Mitglieder und 15 Mitarbeiter. Zu den Mitgliedern gehören größere Wirtschaftsverbände wie zum Beispiel der Bundesverband der Deutschen Industrie. Sozialpartnerschaftlich darf auch der Deutsche Gewerkschaftsbund nicht fehlen. Die DPR setzte eine Person, immerhin knapp 7 Prozent ihrer Mitarbeiter, auf Wirecard an. Bis heute liegt kein Ergebnis vor. Die Bundesregierung hat jetzt diese »Selbstkontrolle« der Wirtschaft zum nächsten Termin gekündigt.
Der Sumpf
Der Skandal blamiert den ganzen Sumpf an Prüfungsgesellschaften, Aufsichtsbehörden und »Selbstkontrollorganen« der Wirtschaft, alles auf nationaler und europäischer oder internationaler Ebene. Die Verantwortlichen, wie BaFin-Boss Hufeld, können breitgestreute berufliche Erfahrungen bei einschlägigen Konzernen vorweisen. Seine Abteilungsleiterin Elisabeth Roegele war früher Chef-Juristin bei der Deka-Bank. Etwas glücklos hatte sie dort versucht, dass die Bank im Zusammenhang mit dem »Cum-Ex«-Steuerhinterziehungsskandal Steuern zurückerstattet bekommt. Als die Deka-Bank vor Gericht verlor, war sie allerdings schon Vize-Chefin bei der BaFin und konnte dort solche Vorgänge von der anderen Seite her studieren. Jörg Kukies, Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums (BMF) bei Olaf Scholz und von dort aus auch zuständig für den Fall Wirecard, kommt von der Bank Goldman Sachs. Goldman Sachs ist international eine Kaderschmiede für hochrangige Staatsbeamte. Schon warnen Stimmen aus Politik und Wirtschaft, doch solch erfahrene »Experten« nicht zu demontieren.
Das Geschäftsmodell von Wirecard
Ein häufiges Geschäftsmodell im Kapitalismus ist, jahrelang Verluste einzufahren, um schließlich eine marktbeherrschende Stellung aufzubauen und dann große Profite einzufahren. Finanziert werden diese Verluste von Finanzinvestoren, die die Aktien der jungen Start-up-Unternehmen kaufen. Von denen scheitern die meisten, aber die Aktien der wenigen Überlebenden steigen gewaltig. So kommen die Finanzinvestoren an ihre Profite. Wer etwa früh in Firmen wie Facebook oder Google investiert hatte, machte schließlich riesige Gewinne.
So funktionierte auch das Wirecard-Modell. Allerdings wurde durch die betrügerische Aufblähung der Bilanz den Investoren die Entscheidung etwas erleichtert. Es ist aber möglich, dass die Investoren wie auch die Finanzaufsicht mehr oder weniger im Bilde waren. Auch sie spekulierten wie Wirecard selbst, dass die Firma noch die Kurve kriegt. Wegen der aufgeblähten Aktienkurse konnte sich Wirecard günstig finanzieren und kam so seinem Ziel näher, marktbeherrschend zu werden. Wirecard hoffte auf das große Geschäft mit Amazon und auf Geschäfte in China. Hätte das noch rechtzeitig geklappt, wäre das Bilanzloch vielleicht nie aufgefallen.
Kapitalistische Widersprüche
Wirecard wurde zum Verhängnis, dass sich bei den Finanzinvestoren zwei Blöcke herausbildeten. Die einen, hauptsächlich aus Deutschland, setzten auf Wirecard, die anderen, oft in London ansässig, wetteten dagegen auf fallende Aktienkurse. Letzteres wurde befeuert durch die Artikel der FT, London.
Die BaFin stand vor einem Dilemma. Sie soll den Profiten deutscher Unternehmen nicht im Wege zu stehen. Als diese Profite durch FT-Artikel und Wetten gegen Wirecard gefährdet wurden, stellte sie daher Strafanzeige gegen die Journalisten wegen »Marktmanipulation« und verbot für zwei Monate die Anti-Wirecard-Wetten. Zu weit konnte sie aber nicht gehen, weil das deutsche Kapital auch von ausländischen Investoren abhängt. Diese investieren in Deutschland nicht, wenn sie das Gefühl haben, dass die deutsche Finanzaufsicht deutsche Unternehmen allzu deutlich bevorzugt.
Schließlich war es wohl die BaFin, die Wirecard im Juni zur Insolvenz drängte. Deutsche Banken sollen bereit gewesen sein, Wirecard zu helfen, um eigene Verluste zu begrenzen oder womöglich doch noch in die Gewinnzone zu kommen. Das hätte hohe Verluste für die Hedgefonds aus London bedeutet, deren Wetten nicht aufgegangen wären. Sie hätten dann aber auch den Finanzplatz Deutschland zum Teufel gewünscht. Dieses Risiko wollte die BaFin nicht eingehen, auch wenn so die Hedgefonds Milliarden-Gewinne machen, während die deutschen Banken die Verluste tragen müssen. Zu letzteren zählt etwa die Landesbank Baden-Württemberg, die eingesprungen war, als Münchener Banken schon keine Kredite mehr vergaben.
Die Demokratie
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben eigentlich die Aufgabe, die Ministerien, hier das BMF, zu überwachen. Das BMF wiederum überwacht die BaFin, die Wirecard hätte überwachen sollen. BaFin-Chef Hufeld trat vor dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestags in nicht-öffentlicher Sitzung auf. Das heißt, die Abgeordneten dürfen nicht einmal etwas von ihren Erkenntnissen berichten, höchstens anonym oder auf eigenes Risiko. BMF und BaFin verweigern sogar die Antworten zu einigen Fragen, etwa was Staatssekretär Kukies oder BaFin-Beamte mit Wirecard 2019 besprochen haben. In angeforderten Dokumenten war vieles geschwärzt. In seltener Einmütigkeit von der LINKEN bis hin zu CDU und CSU schimpfen denn auch die Abgeordneten. Fabio De Masi von der LINKEN will bei der BaFin Köpfe rollen sehen und fordert einen Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Ob da viel rauskommt, ist fraglich. Olaf Scholz hat ja aus Kapitalsicht recht, wenn er behauptet, die BaFin hätte ihren Job gemacht. Das hat sie. Sie hat in einer schwierigen Gemengelage möglichst optimal im deutschen Kapitalinteresse laviert. Die BaFin wird, wie Hufeld vor dem Finanzausschuss aussagte, wieder so handeln. Das ergibt sich aus den kapitalistischen Widersprüchen. Da hilft auch nicht mehr Personal, wie es jetzt Olaf Scholz vorschlägt.
Die Linke
Die LINKE hat sich zurecht dieses Vorfalls angenommen. Ökonomen fordern schon wieder, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Rentnerinnen und Rentner »ihren Anteil« an der Krisenbewältigung zahlen sollen. Sie sollten vor ihrer eigenen Haustüre kehren.
Es sind die Konkurrenz-Logik, die Widersprüche des Kapitals, die zu einem teuren Wirrwarr wechselseitiger Aufsicht und zum Verwischen der Verantwortlichkeiten führen: ein Symptom des Niedergangs des Kapitalismus.
Der deutsche Kapitalismus, der sich gerne als »Zuchtmeister Europas« aufspielt, hat eine Schlappe erlitten. Womöglich werden Aufsichtskompetenzen stärker in Brüssel konzentriert. Das wäre mit einem Machtverlust der deutschen Eliten verbunden.
Bildquelle: Wikipedia
Schlagwörter: Bundesregierung, Finanzsektor, Krise, Staat