Die Vielfachkrisen des Kapitalismus oder warum die Linke gerade jetzt die Systemfrage stellen muss. Von Martin Haller
»Akkumuliert, akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!« Treffender als in diesem berühmten Marx-Zitat aus seinem Hauptwerk »Das Kapital« kann der Irrsinn der kapitalistischen Verhältnisse wohl nicht auf den Punkt gebracht werden. Produziert wird im Kapitalismus nicht zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse – nicht einmal der Bedürfnisse der Kapitalistenklasse – sondern, um es einem Kapitalisten zu ermöglichen, gegen den anderen zu konkurrieren.
Jeder von ihnen fürchtet die Konkurrenz des anderen, deshalb treibt er seine Beschäftigten so hart wie möglich an, deshalb zahlt er ihnen einen möglichst geringen Lohn, deshalb nimmt er jede noch so verheerende Zerstörung unserer Umwelt und Lebensgrundlagen in Kauf, um seine Profite zu retten und sich in der Konkurrenz zu behaupten. Der Zwang für die Kapitalist:innen, in Konkurrenz miteinander zu akkumulieren, erklärt den großen Sprung nach vorn, den die Industrie in den Anfangsjahren ihrer Entwicklung durchgemacht hat. Aber etwas anderes entstand zugleich: wiederkehrende Krisen.
Krisenhaftigkeit des Kapitalismus
Die dem Kapitalismus innewohnende Krisenhaftigkeit erschöpft sich aber nicht im konjunkturellen Auf und Ab, dem Wechselspiel von Aufschwung, Stagnation und Rezession. Stattdessen gerät das gesamte System zunehmend an seine inneren und äußeren Grenzen. Dem tendenziellen Fall der Profitraten kann die Kapitalseite nur entgegenwirken, indem sie die Ausbeutung von Mensch und Natur immer weiter intensiviert. Die soziale Spaltung hat nach Jahrzehnten der Umverteilung von unten nach oben, sowohl global betrachtet, als auch innerhalb der Gesellschaften einzelner Länder, längst unerträgliche Dimensionen angenommen.
Das System gerät an seine Grenzen
Während auch jetzt wieder Konzerne und Regierungen weltweit versuchen, die Kosten der Krise auf die lohnabhängige Bevölkerung abzuwälzen, wachsen die Vermögen der Superreichen ins Unermessliche. Die zehn reichsten Menschen der Welt haben allein seit Beginn der Pandemie ihr Vermögen verdoppelt. Derweil mahnen Politiker:innen, dass wir nun alle den Gürtel enger schnallen und uns in Verzicht üben müssten. Der Raubbau an der Natur und die Zerstörung unserer Umwelt sowie des Klimas haben ein so drastisches Ausmaß erreicht, dass wir heute vor dem größten Artensterben seit Millionen von Jahren stehen und auch unsere eigene Lebensgrundlage schon bald unumkehrbar vernichtet sein wird, wenn wir nicht radikal umsteuern. Doch im Rahmen eines auf grenzenlosem Wachstum basierenden Wirtschaftssystems ist das unmöglich.
Akkumulation und Konkurrenz
Die kapitalistischen Prinzipien der Konkurrenz und des Zwangs zur Akkumulation, also zur beständigen Vermehrung des bereits angehäuften Kapitals, spiegeln sich auch auf zwischenstaatlicher Ebene wider – in Form einer sich zuspitzenden imperialistischen Staatenkonkurrenz. Mit der Krise des globalen Kapitalismus wächst auch die Konkurrenz zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten und damit die Konflikte und Kriegsgefahr. Jede Bourgeoisie versucht, sich auf Kosten anderer zu sanieren oder zu retten. Die Spannungen zwischen den Großmächten sowie zwischen einigen Regionalmächten nehmen seit Jahren zu, was sich in einem neuen Wettrüsten sowie in regionalen Krisen, Stellvertreterkriegen und der Internationalisierung von Bürgerkriegen ausdrückt.
Mit dem Krieg um die Ukraine ist nun eine neue Stufe der Eskalation im imperialistischen Wettstreit erreicht. Putins Angriff auf das Nachbarland sowie die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine durch die Nato-Staaten haben zu einem brandgefährlichen Stellvertreterkrieg im Osten Europas geführt, der das Potenzial hat, sich zu einem Atomkrieg auszuweiten.
Das Konfliktpotenzial wächst
Aber auch innenpolitisch wächst fast überall auf der Welt das Konfliktpotenzial: Nach dem jahrzehntelangen neoliberalen Umbau der Gesellschaft, egal unter welchen Parteien, grassiert Frustration. Die Wut über den stagnierenden oder sinkenden Lebensstandard, schlechte Zukunftsaussichten sowie eine undemokratische und niemandem rechenschaftspflichtige herrschende Klasse kommt schon seit Jahren in immer mehr Ländern an die Oberfläche. Die globale Hegemoniekrise des Neoliberalismus äußert sich in zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung. Sie bedeutet sowohl einen Anstieg von Klassenkämpfen und das Aufkommen neuer linker sozialer Bewegungen als auch den Vormarsch der radikalen Rechten – sowohl auf parlamentarischer Ebene, als auch in Form von Bewegungen auf der Straße. Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden globalen ökonomischen und militärischen Konkurrenz erleben wir in den letzten Jahren in zahlreichen Ländern die Rückkehr eines wirtschaftlichen und dann auch politischen Nationalismus. Teile der bürgerlichen Klasse befürworten eine autoritäre Krisenlösung. Sie sammeln autoritäre politische Kräfte, um in der eigenen Klasse eine radikalere Linie zur Krisenbewältigung durchzusetzen.
Antworten der Regierenden auf die Legitimationskrise
Die Legitimationskrise des politischen und ökonomischen Systems schwächt das traditionelle politische Zentrum. Die Antwort der Herrschenden darauf besteht fast überall im Schüren von Rassismus und Nationalismus als Spaltungsideologie. Die Folge ist ein seit Jahren zu beobachtender Aufstieg nationalistischer bis faschistischer Formationen in zahlreichen Ländern, welche die Unzufriedenheit in ihre Bahnen zu lenken versuchen – mit zunehmendem Erfolg. Statt Solidarität und Klassenkampf ist ihre Antwort Nationalismus, Rassismus, Ausgrenzung, Hetze und das Treten nach unten. Dass die radikale Rechte sich als Alternative positionieren kann, liegt auch an der Schwäche der Linken. Mit der Unterwerfung großer Teile der internationalen Sozialdemokratie unter den neoliberalen Mainstream und mit der Sozialdemokratisierung ehemaliger kommunistischer oder eurokommunistischer Parteien nach dem Zusammenbruch des Stalinismus (Rifondazione Comunista in Italien oder Syriza in Griechenland) ist ein politisches Vakuum auf der Linken entstanden ist, das von der Rechten gefüllt werden kann.
Kapitalismus: Viele Krisen, aber ein System
Wirtschaftskrisen und wachsende soziale Spaltung, Klimakrise und Umweltzerstörung, Imperialismus und Krieg, Pandemie und Gesundheitskrise sowie der Aufstieg der Rechten und die Gefahr eines neuen Faschismus: Wir leben in Zeiten multipler Krisen. Doch die Gleichzeitigkeit mehrerer Krisen sollte nicht über ihre gemeinsame Ursache hinwegtäuschen. Es sind viele Krisen, aber ein System: Kapitalismus. Alle diese kapitalistischen Krisen-Elemente sind miteinander verbunden. Sie bedingen und verschärfen sich gegenseitig.
Doch es formiert sich auch Widerstand von unten. Weltweit gehen Menschen auf die Straße, rebellieren gegen ihre Regierungen und fordern eine Politik, die die Krisenprofiteure zur Kasse zwingt: Menschen vor Profite! Von Haiti bis Sri Lanka, von Simbabwe bis in den Irak – Proteste, Aufstände und Streiks erschüttern die Herrschenden auf allen Kontinenten und haben vereinzelt sogar das Potenzial, sich zu revolutionären Erhebungen auszuweiten.
Krise der Linken
Auch in Deutschland ist die Linke gefragt, Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung aufzubauen, gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die lohnabhängige Bevölkerung, aber auch gegen die AfD und andere Faschisten, die den Unmut in ihr rechtes Fahrwasser lenken wollen. Doch bislang wird sie dieser Aufgabe nicht gerecht. Der Grund dafür: Die Linke steckt in einer tiefen Krise – und das betrifft nicht nur die Partei DIE LINKE, sondern die gesellschaftliche Linke in Deutschland insgesamt. Erst der Streit über den Umgang mit Flucht und Migration, dann die Pandemie und schließlich der Krieg um die Ukraine haben die Linke in ihrer politischen Handlungsfähigkeit ziemlich geschwächt.
Links geht nur konsequent antirassistisch und antiimperialistisch!
Klar ist: Eine Linke, die nicht bedingungslos gegen Rassismus und andere Unterdrückungsformen kämpft und für das Recht auf ein gutes Leben für alle Menschen eintritt, hat ihre Daseinsberechtigung verloren. Aber auch eine Linke, die nicht standhaft in ihrer Haltung gegen Imperialismus, Militarismus und Krieg ist und stattdessen der Propaganda der eigenen Herrschenden auf den Leim geht, verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Links geht nur konsequent antirassistisch und antiimperialistisch!
Wohin geht die Linkspartei?
Viele, die ihre Hoffnungen auf das Wirken von Sozialdemokratie und Grünen in der Ampelkoalition gesetzt haben, sind enttäuscht. Aber der Verrat der Sozialdemokratie als auch der Grünen hat System. Doch wohin können sich die Enttäuschten wenden? Die Linke ist derzeit schlecht aufgestellt. Besonders die Linkspartei ist nicht als klare Opposition gegen die Ampel erkennbar. Dort, wo sie an der Regierung beteiligt ist, findet kein grundlegender Politikwechsel statt. Stattdessen macht sich DIE LINKE zur Mitverwalterin des Status Quo oder trägt sogar Verschlechterungen mit (Lies hier den marx21-Artikel: DIE LINKE: Raus aus der Regierungsfalle!). Es sind eben nicht nur die inhaltlichen Streitigkeiten und die programmatische Aufweichung linker Positionen von verschiedener Seite, welche die Partei DIE LINKE lähmen. Ein wichtiger Grund für ihre Krise liegt auch in der strategischen Fehlausrichtung auf das Parlament als den zentralen Ort der Veränderung. Während innerhalb der Partei letztlich in allen Lagern ein Verständnis der LINKEN als parlamentarischer Kraft dominiert, die auf Wahlen und Stellvertreterpolitik setzt, bleibt die außerparlamentarische Linke bis auf wenige Ausnahmen in ihrer gesellschaftlichen Nische isoliert, weil es ihr nicht oder nur unzureichend gelingt, breitere Teile der lohnabhängigen Klasse anzusprechen und in Aktion zu bringen.
Was wir brauchen!
Was es braucht, ist eine lokal und betrieblich verankerte Linke, die nicht nur die bereits Überzeugten anspricht und mobilisiert, sondern die in der Lage ist, die Masse der lohnabhängigen Beschäftigten für sich zu gewinnen und ihnen einen Ort zu geben, in dem sie gemeinsam kollektiven Widerstand aufbauen können. Statt Wahlen und die parlamentarische Arbeit in den Mittelpunkt zu stellen, muss es der Linken darum gehen, gemeinsam mit anderen Motor des Klassenkampfs zu werden und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verändern.
Eine Linke, die lediglich gute Forderungen aufstellt und alternative Politikkonzepte entwickelt, dabei aber nicht konkrete Kämpfe aufbaut, macht etwas falsch. Andersherum: Eine Linke, die zwar Kämpfe aufbaut, aber nicht das große Ganze im Auge hat, ebenso.
Das bedeutet, innerhalb einzelner Kämpfe um konkrete Forderungen immer wieder auch die Verallgemeinerung zu suchen, Zusammenhänge aufzuzeigen und grundsätzliche antikapitalistische Antworten zu geben. Denn gerade vor dem Hintergrund der Dauerkrisen darf sich die Linke nicht als Ärztin am Krankenbett des Kapitalismus verstehen. Sie muss klipp und klar sagen: Dieses System muss gestürzt werden! Der Desaster Kapitalismus gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.
Schlagwörter: Kapitalismus, Krise, marx21 Magazin Nummer 72, Marxismus