18 Jahre nach der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten von Venezuela ist wenig geblieben von den Verheißungen der »Bolivarischen Verfassung«. Im Namen des Sozialismus herrschen Bestechung und Repression, Bodenschätze werden geplündert. Die alte herrschende Klasse und westliche Unternehmen reiben sich die Hände. Von Mike Gonzalez. Aus dem Englischen von David Paenson
Venezuela steckt in einer sich beschleunigenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise. Die Inflation nähert sich der Marke von 800 Prozent und steigt weiter. Um die Grundbedürfnisse zu decken, sind acht Mindestlöhne erforderlich. Die öffentlichen Dienstleistungen kollabieren, in Krankenhäusern fehlen Geräte und Medikamente, Arzneimittel sind kaum erhältlich und die Infrastruktur bricht zusammen infolge ausbleibender öffentlicher Investitionen.
Dennoch fanden bisher 600 Milliarden US-Dollar den Weg ins Ausland, um in Banken in aller Welt gebunkert zu werden. Die Armutsquote, die bis 2012 laut UN-Angaben bereits von 60 auf 20 Prozent reduziert worden war, hat mittlerweile fast das alte Niveau erreicht. Der Durchschnittsvenezolaner soll wegen Nahrungsmittelknappheit rund acht Kilo an Gewicht verloren haben. In letzter Zeit füllen sich die Regale wieder etwas, aber die Preise sind unerschwinglich. Für dreißig Eier wird der Lohn einer ganzen Woche fällig. Wie konnte es dazu kommen?
Ursachen der Krise in Venezuela
Hugo Chávez’ Verkündung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela verbreitete seinerzeit großen Optimismus. Er war ein Sozialist unseres Jahrhunderts, der mit den jungen antikapitalistischen Bewegungen in Tuchfüllung stand und Originalität und Kreativität ausstrahlte. Die im Jahr 1999 von einer gewählten Konstituante geschriebene »Bolivarische Verfassung« verkündete eine neue Republik auf Grundlage einer »partizipatorischen Demokratie«, in der das Volk das handelnde Subjekt sein sollte.
Der Erdölreichtum sollte genutzt werden, um den Lebensstandard der Mehrheit zu heben, anstatt die Taschen der Reichen zu füllen; die Rechte der indigenen Bevölkerung würden anerkannt und respektiert; die Umwelt würde geschützt; die Öleinnahmen sollten die Abhängigkeit vom Weltmarkt beenden und neue Wege der sozialen Produktion finanzieren. All dies sollte von einem neuartigen Staat verwaltet werden, der die korrupte Klientelpolitik der vergangenen vierzig Jahre in die Mülltonne der Geschichte treten würde. Mit diesen Versprechungen gewann Chavez 2006 erneut mit 62 Prozent der Stimmen die Wahl zum Präsidenten.
Venezuela scheitert im Namen des Sozialismus
Doch die Sprache des Sozialismus zu benutzen, reicht nicht aus. Sie lässt sich zu leicht missbrauchen, um seine wahren Absichten zu verfälschen oder zu vertuschen. Was echten Sozialismus kennzeichnet, sind Taten, die Schaffung einer echten Demokratie, die Umverteilung des Reichtums, ein energischer Kampf gegen Rassismus, Sexismus und jede Form von Unterdrückung – und im 21. Jahrhundert auch die Selbstverpflichtung, die Zerstörung unseres Planeten im Namen des Profits zu stoppen. Alles andere ist bloß Rhetorik.
Der Fall der Berliner Mauer 1989 warf schon einmal ein grelles Licht auf die Widersprüche solcher Gesellschaften: Zentralverwaltung statt Demokratie von unten, systematische Unterdrückung von Minderheiten und Nationen, zutiefst reaktionäre Einstellungen zum Geschlechterverhältnis, gnadenlose Konkurrenz mit dem westlichen Kapitalismus auf Kosten des Planeten. Und das alles im Namen des Sozialismus. Ähnlich wie nun in Venezuela.
Venezuela von Chávez zu Maduro
Elf Jahre nach Chávez’ Wiederwahl 2006 ist alles anders geworden, als er es versprochen hatte. Als ein rechter Abgeordneter im spanischen Parlament neulich das Wort »Venezuela« quer durch den Sitzungssaal in Richtung linker Abgeordneter schrie, war das eine Anklage. Er bezog sich auf die täglichen Medienbilder von langen Schlangen vor Supermärkten, auf die Straßen voller Tränengas, auf die steigende Zahl von Todesopfern im Zuge der Straßenkämpfe.
Es ist das Venezuela Nicolas Maduros, der nach Chávez’ Tod in Folge eines unaufgeklärten Krebsleidens im Jahr 2013 die Präsidentschaft übernahm und seitdem im Dauerkrisenmodus regiert. Als sich die Krise im Dezember 2015 vertiefte, gewann die rechte Opposition 63 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen. Dies war nicht das Ergebnis einer massiven Verschiebung nach rechts, sondern der hohen Wahlenthaltung von desillusionierten Chávistas. Sie sandten eine klare Botschaft: Es musste etwas gegen die verheerende Krise getan werden. Die rechten Abgeordneten gehören alle zur Bourgeoisie, keiner von ihnen kennt den alltäglichen Kampf der Mehrheit der Bevölkerung. Sie hatten weder Programm noch Strategie zur Bewältigung der Krise. Ihre einzige Sorge war es, die Macht zurückzugewinnen, und so gaben sie maskierten Todesschützen und Paramilitärs grünes Licht.
Was macht Maduro falsch?
Nach der Wahl stattete sich Maduro mit Sondervollmachten gegen den »Wirtschaftskrieg«, wie er ihn bezeichnete, aus. Es stimmt, dass die Kapitalflucht enorme Ausmaße angenommen hatte und dass die Handelsbourgeoisie die Krise ausnutzte, Waren hortete und Preise willkürlich erhöhte. Auch, dass die US-Regierung bei jeder Gelegenheit das Land aktiv sabotierte und immer noch sabotiert, hat einen wahren Kern. Aber die chavistische Regierung schien selbst gelähmt und ohne Strategie. Das Ministerium für faire Preise, geführt von einem jungen Familienmitglied des Präsidenten, unternahm nichts, um der Lage Herr zu werden. Um die Grundversorgung der Bevölkerung zu sichern und der Inflation Herr zu werden, wurden die sogenannten »Taschen von Bedarfsgütern zu fairen Preisen« (Claps) eingeführt. Nach einiger Zeit verteilte die Staatspartei, die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) sie jedoch nur noch an ihre Anhängerinnen und Anhänger. Wenn sie Menschen darüber hinaus überhaupt erreichten, dann nur zu überteuerten Preisen.
Die Aktion steigerte nur die Korruption in einer bereits von Korruption zerfressenen Verwaltung. 400 Milliarden Dollar waren nach Auskunft des ehemaligen Wirtschaftsministers Jorge Giordani während des Jahrzehnts zuvor aus der Staatskasse »verschwunden«. Ein Bild, das sich vermutlich in allen Ämtern wiederholt. Jene, die vom »Wirtschaftskrieg« gegen die Mehrheit der Venezolanerinnen und Venezolaner profitierten, standen auf beiden Seiten der politischen Trennlinie. In demselben Ausmaß, wie die Gewalt auf den Straßen zunahm, nahm auch die staatliche Repression zu. Es ist unklar, wie viele der Toten und Verletzten sie zu verantworten hat.
Das Maduro-Regime und die Krise
Eine sozialistische Regierung hätte die Unternehmen, die Investitionen abbauen, enteignen, korrupte Beamte verhaften und vor allem gegen die Währungsspekulation konsequent vorgehen müssen. Das Zocken mit Devisen verschlingt Unsummen und dient einem System zur maßlosen Bereicherung der chavistischen herrschenden Klasse. Aber das Maduro-Regime reagierte anders auf die Krise. Zunächst kam es zu einer Militarisierung der Regierung. Die Hälfte aller Kabinettsmitglieder gehören dem Militär an, gleiches gilt für die meisten Staatsgouverneure. Dazu kommt ein neuer, der Regierung nicht rechenschaftspflichtiger Militärkonzern, mit direktem Sitz im Verteidigungsministerium. Er wickelt nunmehr den Handel mit den massiven Öl-, Gas- und anderen Bodenschätzen des Landes ab.
Letzteres ist eine Folge des Maßnahmenkatalogs der Maduro-Regierung, nämlich der ungebremsten Versteigerung dieser Ressourcen an das multinationale Kapital. Das ist nichts anderes als eine Demontage der »Bolivarischen Revolution«. Die Rechten und die Chavistas kämpfen nicht um diese Revolution, sondern sie sind in einem Machtkampf um die Kontrolle über die Profite aus dem Wiedereintritt des Landes in den globalen kapitalistischen Markt verwickelt.
Linke Kritik und Perspektiven
Momentan ist die Verfassunggebende Versammlung damit beschäftigt, die »Bolivarische Verfassung« neu zu schreiben. Im Gegensatz zu 1999 hat diesmal keine offene demokratische Debatte über die Vorschläge stattgefunden. Sie wurden nicht einmal veröffentlicht. Die Delegierten wurden handverlesen, um die von der Regierung eingebrachten Veränderungen zu beklatschen, welche es auch immer sein mögen. Langsam sickert durch, dass das erste Opfer die partizipative Demokratie sein wird, das zweite das Recht auf Abwahl von Beamten, und das dritte und wohl schmerzlichste wird die Verpflichtung sein, die nationalen Ressourcen zu Gunsten der Mehrheit zu verwalten.
Wenn dies eintritt, wird die Macht zunehmend in den Händen einer kleinen herrschenden Clique und ihrer Gefolgsleute konzentriert und die PSUV wird weiterhin als Karriereleiter für jene dienen, die sich ihr persönliches Fortkommen mit Schweigen erkaufen. Die neuen Bergbauprojekte in der Tiefebene von Orinoco werden die gesamte Region vergiften und verwüsten. 150 multinationale Konzerne werden davon enorm profitieren. Profitieren wird auch die neue herrschende Klasse Venezuelas, die neben der chavistischen Bürokratie fortan wahrscheinlich altbekannte Gesichter der Opposition umfassen wird. Und all das im Namen des Sozialismus.
In der Bevölkerung breitet sich Wut, aber auch Angst und Enttäuschung aus. Im Augenblick ist der »kritische Chavismus« mehr Hoffnung als Realität. Aber die kollektive Erinnerung hält die Hoffnungen und Versprechungen der »Bolivarischen Revolution« wach und lernt hoffentlich zu verstehen, wie und warum sie von innen und von außen korrumpiert und untergraben werden konnte. Die internationale Linke kann zu diesem Neuaufbau beitragen. Dafür muss sie zunächst die heutigen Entwicklungen in Venezuela ehrlich und nüchtern betrachten.
Übersetzung aus dem Englischen von David Paenson
Foto: wikimedia / CC BY-SA 3.0
Schlagwörter: Analyse, bolivarischer Prozess, Chavismus, Hugo Chávez, Krise, Opposition, Repression, Sozialismus, Unterdrückung, Venezuela, Wirtschaftskrise