Während auf der Straße Hugo Chávez’ Verfassungsänderungen heiß debattiert werden, stellt Mike Gonzalez die Frage, ob sie zur Vertiefung der Demokratie beitragen oder aber die Macht weiter zentralisiert wird.
Samstagnachmittag in La Candelaria, einem Arbeiterviertel der Hauptstadt Caracas. Es ist Regenzeit, und auf dem Hauptplatz sitzen unter einer riesigen Markise etwa 200 Menschen in Zwölfergruppen an runden Tischen. Sie tragen alle das rote T-Shirt der bolivarischen Revolution und verbringen diesen Samstag und viele noch folgende damit, die von Präsident Chávez vorgeschlagenen Reformen zu diskutieren. Im Dezember findet eine Volksabstimmung über die rund 120 Änderungen statt.
Alle reden gleichzeitig, und der Lärm ist ohrenbetäubend. Das ist die venezolanische Art. Es wird einem aber warm ums Herz angesichts dieser nach echter Volksbeteiligung aussehenden politischen Debatte. Vielleicht ist es gerade das, was Chávez meint, wenn er vom „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ oder „Volksmacht“ redet, Parolen und Schlagworte, die sein Porträt landauf, landab zieren.
Dennoch herrscht Verwirrung, was diese Grundsatzideen eigentlich bedeuten. Und die konkreten Erfahrungen der Aktivisten in den Massenbewegungen, Gewerkschaften und sozialen Organisationen, die sich für die bolivarische Revolution engagieren, tragen noch zu dieser Verwirrung bei.
Versammlungen jedes Wochenende
Versammlungen wie in La Candelaria finden jedes Wochenende in ganz Venezuela statt. In der Regel handelt es sich um Treffen der lokalen Ableger der kürzlich gebildeten Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), deren Gründung Chávez vor sechs Monaten angekündigt hatte und die ihren ersten Parteitag wahrscheinlich im Dezember abhalten wird. Problematisch ist, dass bisher weder Struktur noch Zielsetzung der Partei festgelegt wurden. Stattdessen nominierte Chávez kleine Kommissionen auf Landesebene, die er damit beauftragte, Charakter und Form, nicht aber Programm oder Ziele der Partei zu definieren. Weil es keine formale Organisationsstruktur gibt, werden diese von oben eingesetzten Personen faktisch zur Führung und diktieren jeden Samstag die Diskussionsthemen an den runden Tischen.
Mancherorts regte sich Widerstand, und die Leute bestanden darauf, ihre Tagesordnung selbst zu bestimmen. Der ursprüngliche Vorschlag, dass ihre Vorstellungen durch eine einzige von oben ernannte Person auf regionaler Ebene vertreten werden sollten, wurde angesichts einer Flut von Beschwerden zurückgezogen. Es bleibt aber dabei, dass die Reformen als Gesamtpaket verabschiedet werden sollen, so dass Diskussionen über Detailfragen weitgehend reine Formsache sind.
Was als wichtige öffentliche Auseinandersetzung über die nächste Phase des bolivarischen Prozesses, nämlich den Aufbau des Sozialismus im 21. Jahrhundert, angekündigt wurde, wird letztlich bloß ein weiteres Referendum zur Unterstützung von Chávez werden. In allen Anzeigen und Darstellungen der Reformvorschläge wird hervorgehoben, dass sie von Chávez höchstpersönlich verfasst wurden. Die relativ bedeutungslose rechte Opposition hat ihr Augenmerk auf jenen Paragrafen gelenkt, der es ihm erlauben wird, seine Amtszeit als Präsident auf sieben Jahre auszudehnen und sich unbegrenzt zur Wiederwahl aufstellen zu lassen. Die große Mehrheit empfindet das Ganze daher als erneute Abstimmung über die Popularität von Chávez.
Massenpartei wider Willen
Auch innerhalb der PSUV hat das Argument, dass es sich um eine Loyalitätsbekundung handelt, für eine Stimmung gesorgt, die kaum abweichende Meinungen oder Debatten über Einzelheiten zulässt. Die Partei ist mehr oder weniger dem Staat gleichgesetzt, so dass jeder Ausdruck von Zweifel leicht als Feindseligkeit gegenüber der Revolution, bestenfalls als Skeptizismus verstanden wird. Der Zulauf zur PSUV ist tatsächlich erstaunlich groß, schon jetzt hat sie sechs Millionen Mitglieder. Allerdings war sie gar nicht als Massenorganisation geplant gewesen.
Ursprünglich sollte wohl ein politischer Apparat entstehen, möglicherweise ähnlich der mexikanischen PRI, der die Beziehungen zwischen den Staatsfunktionären auf allen Ebenen festigt und als Hebel für Aufstieg oder Förderung dient. Zum wiederholten Mal überraschte Chávez während einer seiner langen sonntäglichen Fernsehansprachen allerdings seine Zuschauerschaft mit der Aufforderung an alle, Mitglied der neuen Partei zu werden. Damit veränderte sich der Charakter der Partei, zugleich wurde jene organisatorische Verbindung mit der Massenbewegung geschaffen, die Chávez in der Vergangenheit versäumt hatte aufzubauen. Sie funktioniert aber nur als Einbahnstraße, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben.
Die venezolanische Linke debattierte zu Jahresanfang, was zu tun sei. Im gewerkschaftlichen Dachverband UNT und mehreren anderen Organisationen taten sich Spaltungen auf. Orlando Chirino beispielsweise, ein hoch angesehener Führer der UNT, trat der Partei im Gegensatz zu einigen anderen Führungsmitgliedern nicht bei. Zu ähnlichen Auseinandersetzungen kam es in anderen linken Organisationen. Angesichts der Masseneintritte entschieden sich schließlich die meisten aber ebenfalls zum Eintritt in der Hoffnung, eine kritische Strömung innerhalb der neuen Partei aufbauen zu können. Die Möglichkeiten dafür scheinen aber zunehmend zu schwinden.
Räder im Getriebe
Dieses Spannungsverhältnis zwischen den Erwartungen in eine sich entfaltende Macht an der Basis und der Realität einer wachsenden Konzentration von Kontrollmechanismen prägt zunehmend das politische Leben.
Nur ein Beispiel: Die gewählten Vertreter von Fentrasep, der 1,5 Millionen Mitglieder starken Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, gingen Mitte August ins Arbeitsministerium, um die Tarifbedingungen für ihre Mitglieder neu zu verhandeln. Der Arbeitsminister Ramón Rivero, selbst Mitglied der Bolivarischen Gewerkschaftsföderation und früher Trotzkist, weigerte sich, die Delegation zu empfangen. Stattdessen ließ er sie ohne Nahrung und Wasser in einen Raum im Arbeitsministerium einsperren. Die Familien der Delegierten mussten sie durchs Fenster versorgen. Nach sechs Tagen wurden sie von bezahlten Schlägern rausgeschmissen.
Die Verbitterung und Wut, die dieses Vorgehen hinterließ, waren unglaublich. Ich wohnte einem Treffen zwischen der Gewerkschaftsführung und einem Gewerkschaftsanwalt bei. Der Rechtsanwalt las ihnen die Aussage des Ministers vor dem Arbeitsgericht vor. Darin sprach er wiederholt von „so genannten Gewerkschaftsvertretern“ und ihrer „Selbsternennung“ als Sprecher der Mitgliedschaft. Was sie am meisten verblüffte, war Hugo Chávez’ Schweigen, trotz der breiten Berichterstattung über die Behandlung der Abordnung.
Das deutet auf tiefe Veränderungen hin, die sich unter der Oberfläche vollziehen. Für Roland Denis, angesehener Beobachter und langjähriger Aktivist der Bewegung 13. April, sind viele der Verfassungsreformen und der Aufbau der PSUV Belege für eine von Chávez höchstpersönlich verfolgte Strategie.
Gefahr aus den eigenen Reihen
In der gegenwärtigen Lage wird die bolivarische Revolution weniger von der Rechten bedroht, die trotz ihrer ungebrochenen Beherrschung der Medien unter sich gespalten und politisch desorganisiert ist. Die Bürokraten und Regierungsfunktionäre um Chávez sind wesentlich besser organisiert. Als er 1998 an die Macht kam, sammelte Chávez eine Anhängerschar in der Bewegung für die Fünfte Republik um sich (MVR).
Viele waren Opportunisten, die in den Genuss der Privilegien des korrupten Vorgängerregimes gekommen waren und sich erst spät auf Chávez’ Seite geschlagen hatten. Manche erwiesen sich bloß als Schönwettergefährten und unterstützten den Putschversuch von 2002 gegen Chávez. Andere hielten sich bedeckt und blieben in der Regierung, behielten aber ihre alten Gewohnheiten bei, vor allem die der Korruption. Sie verbandelten sich mit den mächtigen Staatsgouverneuren und vielen Bürger- und Oberbürgermeistern sowie auch mit Teilen des Privatkapitals.
Wir könnten solche Leute als die chavistische Rechte bezeichnen. Es gibt keine Anzeichen, dass sie den Sturz von Chávez – der nach wie vor populären und vereinigenden Schlüsselfigur der Regierung – planen würden. Sie könnten aber sehr wohl eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um die bolivarische Revolution zu bremsen und Chávez’ Macht zu beschränken. Der Arbeitsminister und sein Gefolge von Gewerkschaftsbürokraten gehören dazu. Die Behandlung von Fentrasep und die Weigerung, auf die Forderungen von Arbeitern in Fabriken wie Sanitarios Maracay (die von der Belegschaft vor bald einem Jahr mit der Forderung nach Verstaatlichung besetzt wurde) oder dem Stahlwerk Sidor in Ciudad Guyana einzugehen, sind ein deutliches Zeichen dafür, auf welcher Seite der Minister steht. Die hörbare Unzufriedenheit vieler der besten Aktivisten an der Basis deutet darauf hin, dass diese Strategie greift.
Aktivisten vor Ort
Das zweite Machtzentrum bildet Chávez selbst mit seinen direkten und vielfältigen Beziehungen zur Mehrheit des venezolanischen Volks, das wiederholt seine volle Unterstützung für ihn unter Beweis gestellt hat. Auf Gemeindeebene und an der Basis werden die besten Aktivisten durch die Korruption und den Mangel an ernsthafter revolutionärer Überzeugung bei den Bürokraten vor Ort in ihrer Arbeit oft behindert, was in jüngster Zeit zu vielen lokalen Protesten geführt hat. Dieselben Aktivisten behaupten aber felsenfest, dass Chávez nicht wisse, was vor Ort passiert, trotz seines ansonsten offensichtlichen Einblicks in durchaus schwierige örtliche Belange.
Vor diesem Hintergrund müssen zumindest einige der Verfassungsänderungen als Versuch von Chávez bewertet werden, sich den Entwicklungen auf Regierungsebene – der „etablierten Macht“, wie sie von Kommentatoren genannt wird – entgegenzustellen. Zu den politischen Reformen gehört eine längere Präsidentschaft und das Recht auf uneingeschränkte Wiederwahl. In vielen Klauseln wird dem Präsidenten die Entscheidungsmacht zugewiesen, etwa bei der Festlegung der Verwaltungsstruktur des Landes und bei Wirtschaftsentscheidungen im Staatssektor, der schätzungsweise die Hälfte der gesamten Wirtschaft ausmachen wird. Die vorgesehenen politischen und wirtschaftlichen Regelungen widersprechen sich oft. Die nationale Sicherheit soll verstärkt in die Zuständigkeit der Armee fallen, entgegen den Empfehlungen einer jüngst eingesetzten Regierungskommission, dass die Polizei unter örtliche Kontrolle gestellt werden sollte.
Diese Maßnahme verbindet sich mit einer Stellungnahme von Chávez vor just zwei Wochen, wonach Beförderungen in der Armee ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich des Präsidenten fallen sollen und das bestehende Prozedere (auch wenn es fragwürdig und korrupt ist), entfällt.
Hinzu kommt, dass die PSUV offensichtlich ein Instrument präsidialer Macht ist, in der das Austragen von Meinungsverschiedenheiten kaum möglich sein wird, und dass es keine Abstimmung über einzelne Paragrafen geben wird, sondern nur über das Gesamtpaket. Die ausgezeichneten Paragrafen zur Verkürzung des Arbeitstages und die Einrichtung eines Sozialversicherungsfonds für Gelegenheitsarbeiter und prekär Beschäftigte beispielsweise können nur zusammen mit allen anderen Paragrafen abgestimmt werden.
Umstrittene Verfassung
Es stimmt zwar, dass die Reformen die „Volksmacht“ (poder popular) zur tragenden Säule der Verfassung erklären. Um diese zu stärken, soll die Wirtschaft vergesellschaftet werden. Sehen wir uns allerdings die Aufteilung zwischen privatem, staatlichem und „vergesellschaftetem“ Eigentum genauer an, dann stellt sich heraus, dass Letzteres nur einen winzigen Teil ausmacht, vielleicht ganze fünf Prozent, und darüber hinaus solche Eigentumsformen einschließt wie Kooperativen, deren Dynamik eher dem Ethos von Kleinunternehmen als dem der Kollektive folgt. Die Gemeinderäte (consejos comunales) erhalten Verantwortlichkeiten auf lokaler Ebene, ebenso die „Missionen“, die strategische Ausrichtung wird aber auf Regierungs- oder regionaler Ebene bestimmt.
Wenn das poder popular ist, beinhaltet diese dann die Dezentralisierung von Macht und Regierung durch die Mehrheit, wie das Konzept andeutet? In der bolivarischen Verfassung von 1999 sind eindeutige Mechanismen für eine echte demokratische Beteiligung von unten in Form der verfassunggebenden Versammlung auf Delegiertenbasis festgeschrieben. Eine solche Körperschaft wäre ein realer Schritt in Richtung auf einen Sozialismus von unten im 21. Jahrhundert. Sie könnte eine breite Debatte über die Reform der Verfassung einleiten, die den Massenorganisationen das Gefühl vermitteln würde, sie seien mehr als nur Unterstützermannschaften für einen Präsidenten, der das einzige revolutionäre Subjekt bleibt.
Das kubanische Modell
Unter dem Begriff poder popular kann natürlich etwas ganz anderes verstanden werden: das zentralisierte, pyramidenförmige kubanische Modell, mit einer vom Staat bestimmten Führung und ernannten Delegierten, einer Nationalversammlung, die zweimal im Jahr für wenige Tage einberufen wird und die unweigerlich die Vorschläge des Staatsapparats einstimmig beschließt. Die Organe lokaler Macht erhalten in diesem Modell lediglich die Funktion, diese Entscheidungen auszuführen und darüber zu debattieren, wie das am effektivsten geschehen kann. Der kubanische Einfluss auf die venezolanische Regierung ist ein offenes Geheimnis. Die Tatsache, dass die „Demokratie der Volksversammlung“, wie sie Denis nennt, durch bloße Vertrauensabstimmungen für Chávez ersetzt wird, bei denen natürlich niemand nein sagen würde, zeigt die Grenzen der Volksmacht.
Die jüngste Geschichte Venezuelas birgt eine fundamentale Lehre. Die bolivarische Revolution, die mit Chávez’ Wahl im Jahr 1998 begann, wurde 2002 zu einem revolutionären Prozess, als die Masse des venezolanischen Volks zum Subjekt der Geschichte wurde und den Putschversuch gegen Chávez vereitelte. Im April 2002 betraten die Massen die Bühne der Geschichte nicht nur als Aufständische (wie während der Protestwelle von 1989), sondern als potenzielle Revolutionäre, die drauf und dran waren, durch ihr kollektives Handeln der bolivarischen Revolution ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Im Jahr 2007 geht der Kampf für den Sozialismus von unten – für echte Volksmacht – weiter.
Aus dem Englischen von David Paenson und Rosemarie Nünning