In Venezuela findet eine Debatte über den weiteren Kurs der bolivarianischen Revolution statt. Osly Hernandez zeichnet im Gespräch mit Ben Stotz die Konfliktlinien nach
marx21: In den deutschen Medien wird in Bezug auf Venezuela und den Präsidenten Hugo Chávez oft das Bild eines neuen »Caudillos« (autoritärer Militärführer, Anm. d. Red.) gezeichnet. Wie siehst du das?
Osly Hernandez: Das politische Phänomen des Caudillismo stützt sich immer auf die ein oder andere Form autoritärer Herrschaft und versucht, die gesamte Staatsgewalt in den Händen einer einzigen Person zu konzentrieren. In Venezuela haben wir es auch mit einer charismatischen Persönlichkeit zu tun, die jedoch den ständigen Austausch mit sozialen Bewegungen sucht und neue Strukturen politischer und demokratischer Partizipation jenseits von Wahlen geschaffen hat, wie beispielsweise die Kommunalräte. Wir sind weit davon entfernt, in einem System des Caudillismo zu leben, obwohl immer noch nicht alle Entscheidungen von unten getroffen werden. Dies liegt vor allem an den Interessen bestimmter Gruppen innerhalb der Regierung, welche die vertikale Struktur des Staates aufrecht erhalten wollen. Trotzdem sind die sozialen Bewegungen stärker geworden und haben sich wichtige Spielräume erkämpft. Wir versuchen, mit der alten Logik zu brechen.
Als Beleg für das enge Verhältnis der sozialen Bewegungen zum Präsidenten werden immer wieder die Niederschlagung des Putschversuches 2002 und das Ende des Unternehmerstreiks in der Erdölindustrie 2003 genannt. Wie hast du diese Bewegungen wahrgenommen?
Diese Bewegungen waren deswegen so stark, weil sie für die unmittelbare Verteidigung der Regierung und der sozialen Fortschritte des bolivarianischen Prozesses gekämpft haben – für den Zugang zu Gesundheit, zu Lebensmitteln, zu Bildung und Kultur, für alles was unter den Vorgängerregierungen in Venezuela nie existiert hat. Allen war klar, worum es ging. Damit wurde auch das revolutionäre Projekt und sein politisches Führungspersonal bestätigt.
Existieren neben den bekannten Kämpfen zwischen der alten Oligarchie und der bolivarianischen Bewegung auch Konflikte und Widersprüche innerhalb der Bewegung selbst?
Selbstverständlich. Das Problem ist: Politik entsteht nicht spontan. Alle, die versuchen ein neues politisches Projekt zu entwickeln, tragen die Lasten des alten Systems mit sich herum. Einige haben bereits Erfahrung und bringen sich schnell in die neue Bewegung ein, andere sind zögerlicher und haben weniger politisches Bewusstsein. Und wieder andere sehen die eigenen politischen und sozialen Interessen gefährdet, weil sie mit der nationalen Bourgeoisie verflochten sind. Erinnern wir uns daran, dass Chávez Antiimperialist ist, aber nicht immer und nur an manchen Stellen vom Klassenkampf spricht. Auch in unserer Partei gibt es bis heute keinen diskutierten und klaren Klassenbegriff. Beim letzten Parteitag der PSUV wurde gestritten, ob die Partei polyclasista sein soll – das heißt, ob sie sich auf verschiedene soziale Klassen zugleich stützen kann. All dies ist Teil unseres Prozesses. Es ist ein großer Lernprozess ist, der fortgesetzt werden muss.
Wie könnte man diejenigen charakterisieren, die die Revolution bremsen?
Es sind vor allem antidemokratische Strömungen, die versuchen Entscheidungen in der Partei zu kontrollieren. Kleine Gruppen stellen sich über die einfachen Mitglieder und werden zu abgehobenen Teilen des Staates. Deshalb hängen sie auch so sehr an der Logik des bürgerlichen Staates. Sie bevorzugen generell die nationale Bourgeoisie vor den sozialen Bewegungen und pflegen gute Kontakte zu vielen Unternehmern. In ihrem Verständnis von der Rolle der Partei steht das Ausführen der Beschlüsse von oben an erster Stelle – sie scheuen jedoch Reflexion, Debatten und Korrekturen. Wir nennen sie die »endogene Rechte«.
Hatten diese Konflikte auch etwas mit der Niederlage des Verfassungsreferendums 2007 zu tun?
Ja und Nein. Die Verfassungsreform war ein sehr breit angelegtes Projekt, das auch Momente beinhaltete, die wir als radikalere Linke abgelehnt haben. Im Prinzip wurde versucht, viele oft grundverschiedene Artikel mit einem Schlag zu ändern. Einigen Teilen der Linken gelang es, im Reformvorschlag weitreichende und radikale Verbesserungen zu platzieren – genauso wie der Rechten, die einige Artikel unterbringen konnte. So gab es am Ende viele Widersprüche quer durch alle Strömungen, so dass niemand wirklich zufrieden war und sich geschlossen für den Erfolg der Reform einsetzte. Am meisten Widerstand kam jedoch von den Gouverneuren und Bürgermeistern, also von denjenigen, die sich in den bestehende Strukturen des Staates eingerichtet haben. Und zwar deshalb, weil im Reformvorschlag neue Organe der politischen Selbstverwaltung benannt waren, welche die alten Machtverhältnisse in Frage stellen. Venezuela ist immer noch ein sehr ungleiches Land – Caracas und das Landesinnere unterscheiden sich sehr, gerade vom Niveau der Kämpfe. In ländlichen Gebieten ist es schwerer, ein kollektives Bewusstsein und gemeinsame politische Aktionen zu erreichen. Dort gibt es tatsächlich noch viel Caudillismo.
Mittlerweile gibt es ein neues politisches Werkzeug der bolivarianischen Revolution: die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV). Was waren die Beweggründe zur Gründung?
Die PSUV entstand als Weiterentwicklung der Vorgängerpartei MVR, mit der Chávez an die Macht gekommen war, die jedoch viele Sektoren und Bevölkerungsgruppen von politischen Entscheidungen ausgeschlossen hatte. Im Kern geht es um die Idee, mehr Mitglieder aktiv einzubeziehen. Dies konnte aber mit der alten MVR nicht funktionieren, da diese sich schon mehr und mehr von den sozialen Bewegungen entfernt hatte. Deshalb rief der Präsident zur Gründung einer neuen Partei auf, die eine echte Massenpartei sein sollte. Der zeitgleich stattfindende Aufbau der neuen Partei hat allerdings die Kampagne für die Verfassungsreform geschwächt und uns politisch und organisatorisch überfordert. Wir hatten nicht mehr die MVR und noch nicht die PSUV – also kaum politische Strukturen, durch die wir handlungsfähig hätten sein können. Nach dem Scheitern der Reform haben viele erkannt, dass die Revolution nur durch aktive politische Beteiligung in der Partei vorangetrieben werden kann. In dieser Zeit sind Millionen Menschen eingetreten. Bisher war der Hauptfokus der PSUV allerdings auf Wahlen beschränkt, weshalb die Partei als Werkzeug der Revolution noch zu schlecht funktioniert.
Entspricht die Realität der PSUV momentan schon einer Massen- und Mitgliederpartei?
Nein. Wir stehen am Anfang des Parteiaufbaus und versuchen erst mal, handlungsfähige Kerne von Aktivisten zu bilden. Strukturell setzen wir nicht mehr auf die großflächigen und zum Teil statischen Bataillone mit mehreren hundert Basismitgliedern, sondern auf kleinere, aktionsorientiertere Patrouillen. Wir müssen nicht immer Millionen sein, um etwas zu erreichen. Daneben gibt es mehr und mehr Angebote politischer Bildung, um unsere Mitglieder zu schulen und neue politische und technische Führungspersonen auszubilden. Die Revolution dauert inzwischen zehn Jahre, aber wir haben noch zu wenig neue Gesichter hervorgebracht. Dies sieht man auch innerhalb der Partei und im Kabinett. Neben den aktionsorientierten Kernen werden die passiveren Parteimitglieder vor allem zu großen Kampagnen und Abstimmungen mobilisiert. Die PSUV kann beides werden: Massen- und Mitgliederpartei. Es ist aber noch ein weiter Weg.
Wie sieht die Parteistruktur genau aus? Sind die Patrouillen als kleinste Aktionseinheit tatsächlich jene demokratischen Basisgliederungen, von denen die Macht innerhalb der PSUV ausgeht?
Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine einzige Patrouille hat genauso wenig Macht wie eine einzelne Person. Wir versuchen generell als Patrouille verschiedene Kräfte zu verbinden, um unsere Schlagkraft zu vergrößern, genau wie in den sozialen Bewegungen.
Aus meiner Sicht müssen die politischen Strukturen unserer Partei aber noch reifer werden. Dann kann auch Kritik verbindlicher geäußert werden. Generell stellt sich die Frage, wie die Parteigliederungen in die Lage kommen, demokratisch und koordiniert zu agieren. Kritik muss nämlich auch ankommen und im gesamten Willensbildungsprozess der Partei berücksichtigt werden. Der Parteivorstand ist beispielsweise ansprechbar, aber es bedarf immer wieder politischen Drucks und koordinierter Vorstöße der Linken, um Korrekturen durchzusetzen. Uns ist es aber zum Beispiel bei der Gründung der Jugendorgansiation jPSUV gelungen, einen breiten Diskussionsprozess an der Basis und in unserer Patrouille zu erzwingen.
Ein wichtiges Merkmal der Partei ist der Diskurs der sozialistischen Einheit. Offiziell gibt es in der Partei weder artikulierte Strömungen noch andere politische Zusammenschlüsse. Wie sieht die Einheit im Innern wirklich aus?
Formal existieren keine Strömungen, weil wir versuchen, große Zusammenstöße zwischen verschiedenen Fraktionen zu vermeiden. Dies liegt auch an der spezifischen historischen Erfahrung in Venezuela, wo sich die Linke durch Spaltungen, föderale Zersplitterung und Fraktionskämpfe oft selbst handlungsunfähig gemacht hat. Dies gilt sowohl für die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, als auch für die Phase der Guerilla und des Caracazo 1989. Mit seinem Wahlsieg gelang Chávez das politische Novum, die Linke zu einen. Das hat keine der bestehenden Gruppen und Strömungen vor ihm erreicht. Mit zunehmender Reife werden sich auch bei uns formal organisierte Plattformen artikulieren, aber ohne die Einheit der bolivarianischen Revolution in Frage zu stellen. Bisher sind viele Gruppen quasi eigenständige Parteien, was eine gemeinsame Diskussion über Theorie und Praxis der PSUV erschwert. Da es aber auch tatsächliche Konflikte und Widersprüche – auch Klassenwidersprüche in der Partei gibt, entstehen um solche Fragen zwangsläufig politische Strömungen. Es gibt die Sozialdemokraten, die eher pragmatisch orientiert sind und eher am rechten Rand des Prozesses stehen. Diese Kräfte sind sehr gut koordiniert und organisiert, ohne deswegen als Strömung aufzutreten. In unserem Fall der Linken sieht es anders aus, wir sind zwar radikaler und theoretisch klarer, jedoch organisatorisch wesentlich zersplitterter und schlechter aufgestellt. Für den Moment sind wir noch nicht formal organisiert. Wir brauchen aber auch in Zukunft eine strategische Vision von der Einheit der Linken.
Zur Person:
Osly Hernandez ist Studentin der Universidad Central de Venezuela, Mitglied im regionalen Vorstand der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) in Caracas und Mitglied in der Kommission für soziale Bewegungen.