Bei der Parlamentswahl im Dezember erlitt die chavistische Bewegung ihre bislang bedeutendste Wahlniederlage und verlor die Mehrheit in der Asamblea Nacional an die bürgerliche Opposition. Zuleika Matamoros aus Caracas berichtet über die Perspektiven der bolivarischen Revolution
marx21.de: Im Dezember letzten Jahres hat das konservative Wahlbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democrática, Tisch der demokratischen Einheit) mit großer Mehrheit die Vereinigte Sozialistische Linkspartei Venezuelas (PSUV) als Stärkste Kraft im Parlament abgelöst. Es scheint, als sei der revolutionäre Prozess in Venezuela gescheitert. Was ist los?
Zuleika Matamoros: Venezuela steckt in einer tiefen ökonomischen Krise, und das nicht erst seit gestern. Ein riesiges Problem ist die starke Korruption der Regierungsstrukturen und die horrende Inflation.
Die politische Führung der PSUV und damit auch die linke Regierung sind selbst daran beteiligt, mit allen möglichen Mitteln die Einnahmen aus der Ölindustrie einzustreichen, und verfolgen ihre eigenen Interessen. Diese Ökonomisierung der Politik verdrängte die Grundlage unseres revolutionären Prozesses: die partizipative Demokratie. Die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen wird mehr und mehr verhindert.
Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise auf den Alltag aus?
Die Krise greift tief in das Leben der Menschen in Venezuela ein. Der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung sinkt dramatisch. Um es mit Zahlen zu verdeutlichen: Die Preise sind seit 2014 um rund 160 Prozent gestiegen. Damit lag unser Land 2015 weltweit unangetastet auf dem ersten Platz. Auf dem zweiten Platz ist die Ukraine mit einem vergleichsweise harm- losen Anstieg von rund 50 Prozent. Einfache Arbeiterinnen und Arbeiter müssen Wunder vollbringen, um ihre Familien zu ernähren.
Wunder vollbringen?
In der Tat. Zusätzlich zu niedrigen Löhnen herrscht Knappheit an Produkten des täglichen Lebens. Selbst für Grundnahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände wie Maismehl, Reis, Zucker, Kaffee, Olivenöl, Toilettenpapier, Damenbinden und Shampoo müssen die Menschen stundenlang anstehen – und das häufig vergeblich. Meist reicht ein Einkauf nicht aus, um eine vier- bis fünfköpfige Familie eine Woche lang durchzubringen. Die einzige Alternative zu den Warteschlangen ist der Schwarzmarkt, wo die Preise um ein Vielfaches höher sind.
Und diese Krise führte zum Erstarken der Rechten…
Die Regierung hat die Krise nicht gelöst, was zur Stärkung und dem »geliehenen« Sieg der Rechten führte. Es ist keine neue Rechte. Die MUD ist ein Wahlbündnis. Sie besteht größtenteils aus den Repräsentanten der Bourgeoisie, die schon immer vorhatten, Chávez zu stürzen. Der Kopf der MUD ist die alte Acción Democrática, die Regierungspartei aus der Zeit des »Caracazo« von 1989. Das Spannende ist, wie die MUD an diesen scheinbaren Sieg gekommen ist. Sie hat nämlich nur rund 300.000 Stimmen mehr als bei den Präsidentschaftswahlen im April 2013 errungen. Dagegen hat der Chavismus (PSUV) fast zwei Millionen Wählerinnen und Wähler verloren, die sich enthalten oder ungültig gewählt haben oder nach rechts gewechselt sind. Das bedeutet, wir beobachten vor allem den Niedergang der PSUV, nicht den Sieg der Opposition.
Wie war die Stimmung auf chavistischer Seite vor der Wahl?
Viele Aktivistinnen und Aktivisten haben vor der Wahl versucht, die Führung der PSUV unter Druck zu setzen, damit sie ihre Fehler der letzten Jahre an der Regierung eingesteht. Einige Anhängerinnen und Anhänger des revolutionären Prozesses forderten sogar die Entlassung aller Minister und der führenden Parteifunktionäre. Die Forderungen nach Reformen aus der Basis wurden leider nicht gehört. So entstand eine immer größere Ablehnung gegenüber der Bürokratie. Man lehnte die Parteiführung ab und forderte mehr Bürgerpartizipation, Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise und eine Reform des Produktionssektors. Die Nichtwahl der PSUV aus den eigenen Reihen war die Konsequenz.
Wie hat die Führung der PSUV reagiert? Ist dieser »Wahlprotest« bei ihr angekommen?
Im ersten Moment sprachen die Verantwortlichen von ehrlicher Selbstkritik, doch schon jetzt sieht man, wie sie in die alten Muster zurückfallen. Die Führung sucht nach Schuldigen außerhalb der eigenen Reihen. Ihre Hinterzimmerpolitik erhält sie ebenso aufrecht wie die Drohungen und Offensiven gegenüber linken Parteistimmen. Die Führung der PSUV glaubt weiterhin, dass sich der bolivarische Prozess allein von oben lenken lasse. Diese alten Funktionäre sind zudem in Machtkämpfe untereinander verstrickt und verstehen nicht, was an der chavistischen Basis geschehen ist. Sie reden von der Macht des Volkes, an die sie allerdings in ihrer politischen Praxis selbst nicht glauben.
Wie wurde die Niederlage an der sozialen Basis des Chavismus, also bei den sonst »treuen« Anhängern von Chávez aufgenommen?
Die traditionelle Anhängerschaft von Chávez war von der Niederlage überrascht. Individuell war die Abstimmung ein Protest aus Enttäuschung an der Regierung. Da dieses Wahlverhalten jedoch nicht organisiert war, kam das Gesamtergebnis für viele unerwartet. Die Kritik an der gescheiterten Führung der PSUV und die grauenhafte Vorstellung, wieder die alten Oligarchen an der Macht zu haben, hat nun Teile der Basis dazu bewegt, offene Versammlungen abzuhalten. Es gibt nun Anstrengungen, eine linke Alternative zur Regierung und zur PSUV aufzubauen. Die MUD konnte gewinnen, weil es keine Alternative gab. Das heißt jedoch keineswegs, dass die MUD in der Bevölkerung besonders verankert ist.
Die deutschen Medien haben die Situation in Venezuela immer aus der Sicht der rechten Opposition gezeigt. So ist Kritik an der chavistischen Regierung nichts Neues.
Die internationale Presse vertritt die Interessen der Bourgeoisie. Natürlich kann sie die Errungenschaften der Bolivarischen Missionen, die eine Besserung der Lebenslage und Integration der Ärmsten beinhalteten, nicht so wertschätzen, wie wir das tun.
Aber die Situation der Unterdrückten zu verbessern ist, ungeachtet der konkreten Hilfe, auch der erste Schritt, um den Kapitalismus längerfristig als Ganzes anzugreifen.
Und was wurde von links an der linken Regierung kritisiert?
Im Kern war der große Umschwung, der revolutionäre Prozess, ein Kampf gegen die Tradition in Form des alten oligarchischen Systems. Es ging um eine Erneuerung mit sozialistischem Ziel. In diesem Zusammenhang war es ein fataler Fehler der PSUV, den bürgerlichen Staat in seinen Fundamenten nicht anzutasten. Man wartete darauf, dass er sich von alleine überflüssig macht.
Stattdessen wurde der Staat während des revolutionären Prozesses aber immer stärker. Nicolás Maduro hätte als Nac folger von Hugo Chávez »dem Volk dienen« und den Übergang zum Sozialismus vorantreiben sollen. Doch er nutzte seine Position als Blankoscheck, um inhaltlich mit dem Erbe und dem Testament von Chávez zu brechen. Chávez warf seinem Kabinett vor, sich bürokratisiert zu haben und von dem ursprünglichen Projekt abgewichen zu sein. Er wollte Strategien erarbeiten, diese Fehler zu beheben und den revolutionären Prozess fortzusetzen. Leider hat das nicht funktioniert. Heute erleben wir die Folgen davon.
Wie hat die MUD, also die rechte Opposition, auf ihren Wahlsieg am 6. Dezember reagiert? Was kommt nun auf euch zu?
Die MUD war selbst höchst überrascht, dass sie die Mehrheit im Parlament gewonnen hatte. Unter den möglichen Szenarien, die auf uns zukommen können, ist sicherlich die Initiative der Rechten, Präsident Maduro zu stürzen oder durch die Androhung eines Referendums zum Rücktritt zu bewegen. Was weder die Führung der MUD noch die der PSUV berücksichtigen, sind die Herzen und Köpfe der Menschen, die Basis des revolutionären Prozesses. Wir nennen es »das was sich unter der Wasseroberfläche bewegt«. Wenn die MUD die Wahlergebnisse als einen Triumph ihres Modells versteht, so übersieht sie das Brodeln in der Tiefe. Wenn nun die Führung der PSUV allerdings ebenso versagt und nicht in die Tiefe schaut, nicht die brodelnde Wut, die Enttäuschung und die Müdigkeit und die Ablehnung gegenüber der arroganten Führung erkennt, welche die venezolanische Bevölkerung als verantwortlich für den Hunger und die Missstände ansieht, so bereitet sie damit ihren politischen Untergang vor.
Du bist in Marea Socialista organisiert, einem marxistischen Kollektiv, das von 2007 bis Mai 2015 in der PSUV agiert hat. Wie habt ihr diesen Wandel der letzten Jahre verfolgt und wie habt ihr reagiert?
Die Anerkennung von Marea Socialista als legale, eigenständige Parteiorganisation wurde vom Nationalen Wahlrat mit fadenscheinigen Argumenten abgewiesen. Linke kritische Stimmen innerhalb der PSUV wurden in den letzten Jahren systematisch unterdrückt.
Angesichts der von der Parteimaschinerie von oben aufgestellten Kandidatu- ren für die Parlamentswahlen haben wir uns entschieden, eigene Kandidaten aufzustellen. Wir wollten mit einer eigenen Kandidatur garantieren, dass zumindest an einer Stelle das ursprüngliche bolivarische Programm von Chávez vertreten wird. Wir brauchen ehrliche Kandidaten, die nicht nur Privilegien sammeln, die den Kampf der Bevölkerung begleiten und nicht dem neoliberalen Druck nachgeben und die Revolution verraten. Die Bewegung und der Prozess wurden von innen zerstört, durch das verantwortungslose Handeln der Parteispitze. Eine Alternative war nötig, auch wenn diese innerparteilich bekämpft wurde.
Die Wahlen sind ja nun vorbei und verloren …
Deswegen beschränkt sich das Programm von Marea Socialista auch nicht nur auf Wahlen. Es geht darum, langfristig eine antikapitalistische Alternative und eine »dritte Stimme« jenseits der PSUV und der MUD aufzubauen, um den revolutionären Prozess fortzuführen. Wir brauchen breite Bündnisse und eine starke Bewegung, damit wir gegen die Spaltung der Bevölkerung ankämpfen können. Dazu braucht es Bürgerversammlungen und demokratische Einbindung der Bevölkerung, einen rigorosen Kampf gegen die Korruption, eine Mindestversorgung mit Lebensmitteln und medizinischer Betreuung sowie einen Mindestlohn, der den Lebensunterhalt der Familien tatsächlich sichert.
Der rhetorische Appell an die vermeintliche Macht des Volkes wird in Venezuela derzeit für die Interessen der Staatsbürokratie missbraucht. Doch auch wenn es widersprüchlich erscheint: Genau das ist auch ein Zeichen, dass der revolutionäre Prozess noch lebt. Denn der bolivarische Prozess wird immer leben, solange die Menschen in Venezuela aufbegehren.
(Das Interview führte Ben Stotz. Übersetzung: Ronda Kipka)
Zur Person:
Zuleika Matamoros ist Lehrerin und Redakteurin bei der chavistischen Diskussionsplattform aporrea.org. Sie ist aktiv in dem marxistischen Kollektiv Marea Socialista im Stadtteil 23 de Enero in Caracas.
Hintergrund:
- 21. Januar 1989: Caracazo – Aufstand gegen die Auflagen des IWF (teurere Fahrpreise und Lebensmittel) in den Großstädten Venezuelas
- 6. Dezember 1998: Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten (Zwischen 1998-2013 gewinnt die chavistische Bewegung insgesamt 17 Parlaments-, Bürgermeister-, Regionalwahlen, sowie 2 Referenden)
- Dezember 1999: Bevölkerung stimmt per Referendum der neuen bolivarischen Verfassung zu
- 11. bis 13. April 2002: Putsch gegen Chávez scheitert durch eine erfolgreiche Gegenbewegung
- 2003 bis 2004: Einführung der kostenlosen und umfassenden Gesundheitsversorgung und des kostenfreien Hochschulzugangs
für alle ohne Studienplatzbeschränkungen. Programm zur Bereitstellung von sozialem Wohnraum für die gesamte Bevölkerung - 30. Januar 2005: Chávez spricht beim Weltsozialforum erstmals vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«
- 3. Dezember 2006: Hugo Chávez gewinnt abermals die Wahlen und treibt nun die Zusammenführung der linken Parteien voran.
- Januar bis März 2008 wird die PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) gegründet.
- 4. Dezember 2012; Chávez wird mit 55 Prozent der abgegebenen Stimmen erneut als Präsident bestätigt und hätte damit bis 2019 weiter regieren können
- 5. März 2013: Chávez stirbt
- 14. April 2013: Wahl von Nicolás Maduro zum neuen Präsidenten und Nachfolger von Chávez
- 6. Dezember 2015: Die rechte Opposition gewinnt die Parlamentswahlen mit 56,3 Prozent (PSUV: 40,9 Prozent) und stellt damit 109 von 167 Abgeordneten im neuen Parlament
Foto: andresAzp
Schlagwörter: Bolivarische Revolution, Chavismus, Hugo Chávez, Venezuela